Kalligrafie: Eine Kunst für jeden (Teil 1)

Aufbauend auf einem Jahrtausende alten Erfahrungsschatz setzte Werner Eikel Ende des letzten Jahrhunderts neue Maßstäbe in der Kunst der Kalligrafie. Der aus Köln stammende Schriftkünstler gab mit seinem Text interessante Einblicke in die Entwicklungsgeschichte des „Schönschreibens“, den wir hier in zwei Teilen veröffentlichen.
Titelbild
Kalligrafie von Werner Eikel mit einem Text von Max Planck (1858–1947): „Über Wissenschaft und Forschung“, Auftrag der Max-Plack Gesellschaft, München o.J.Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Roland Eikel
Von 1. August 2024

Als jüngstes seiner drei Kinder durfte Roland Eikel, wie er selbst sagt, den außergewöhnlichen Menschen Werner Eikel bis zu seinem Tod im Jahr 1998 begleiten. Und weiter: „Von Kindesbeinen an vermittelte er mir die Eigenarten und Besonderheiten der Schrift in seiner Welt der Kunst, den langen Weg vom selbst gewählten Thema beziehungsweise vom fremderteilten Auftrag bis zu seiner Vollendung als Kunstwerk.“

Den hohen Anspruch, den Werner Eikel an seine Aufgabe und an seine Verantwortung auch als Lehrer stellte, sagt sein Sohn Roland Eikel, hat er zur Vermittlung der Kunst an seine Schüler stets als Verpflichtung zu sorgfältigster Vorbereitung seines Unterrichts gesehen.

Der speziell für ihn eingerichtete Lehrstuhl für Kalligrafie an der Hochschule für Grafik und Design (heute Hochschule für Gestaltung) in Aachen in den 1990er-Jahren ist beredtes Zeugnis hierfür.

Die Kalligrafie ist eine „freie Kunst“

Im folgenden Text von Werner Eikel leuchten sein Selbstverständnis und die Einordnung seiner Kunst in den Kosmos des Lebens auf:

Die Kalligrafie ist eine „freie Kunst“. Sie ist unabhängig von Maßzwängen jeder Art. Sie benötigt weder komplizierte technische Wiedergabegeräte noch teure Energiequellen, um fertige Ergebnisse erreichen zu können.

Auch ist sie nicht abhängig von bestimmten Gruppen von Auftraggebern, und sie unterliegt nicht dem Trend stilistischer Strömungen oder Modeerscheinungen. Gern von jenen Menschen totgesagt, die dem technischen Fortschritt alles zutrauen und dem Roboter alles zumuten möchten, lebt die Kalligrafie, von Menschenhand geformt und durch menschlichen Geist inspiriert, in einer gesunden Atmosphäre ohne neurotische Störungen mit einem Minimum an Materialeinsatz ohne Angst vor einer Zukunft, die nur der Maschine zu gehören scheint.

Die Werkzeuge des Kalligrafen passen in eine einzige Hand. Papier, Schreibfeder, Federhalter und Tusche, das ist alles, was er braucht, um etwas schaffen zu können, was ihn selbst oder andere bereichert.

Blühende Kultur der Schrift

Hört sich dies alles schon sehr optimistisch und verlockend an, so müsste der folgende Satz zu einer Massenhypnose führen, wären da nicht ein paar natürliche Bremsen eingebaut: „Die Kalligrafie ist für breite Volksschichten erlernbar!“ Genauer gesagt für jeden, jung oder alt, der Lust und Liebe zum Schreiben mitbringt und dem Geduld und Ausdauer nicht wie ein unüberwindbares Hindernis erscheinen, denn der Haupteinsatz in diesem wunderbaren Spiel heißt nun mal „Zeit“.

Kalligrafie ist nicht für eilige Job-Sucher, die schon unter Zeitdruck und Erfolgszwang stehen, noch bevor sie den ersten Buchstaben geschrieben haben.

Und die Frage nach dem Profit sollte die letzte sein, gilt es doch, in den unendlich blumenreichen Garten der Jahrtausende alten Schriftkultur einzudringen und ein paar Knospen daraus zu Blüte und Reife zu bringen.

Es ist schier unmöglich, alle kalligrafischen Möglichkeiten in einem Leben auszuschöpfen, denn wie das Weltall keine Begrenzung kennt, so sind der menschlichen Fantasie in der Kalligrafie keine Grenzen gesetzt.

Die Kalligrafie ist eine der kreativsten Künste. Was wüssten wir vom Geist und den Gefühlen der Menschen früherer Kulturen, gäbe es nicht die Übermittlung ihrer Gedanken durch schreibende und aufzeichnende Hände, denn steinerne Zeugnisse allein beschreiben wohl die Taten der Menschen, nicht aber ihre Seele.

Werner Eikel: Kalligrafie „Baum“, Ars Scribendi, Seite 118. Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Roland Eikel

In Ruhe eine Auswahl treffen

Wir können heute stolz darauf sein, Schreib- und Übermittlungsautomaten entwickelt zu haben und auch bedienen zu können, die schneller sind als tausend Hände, die in Windeseile eine unübersehbare Menge von Informationen rund um den Erdball tragen, doch birgt diese übergroße Schnelligkeit auch viele Gefahren in sich.

Eile ist der Feind einer wohlüberlegten Auslese des Wertvollen. Wer kann an einem vorbeiflitzenden Schnellzug noch sein Woher und Wohin auf den deutlich beschrifteten Zugschildern erkennen? Wer trennt in dieser hektischen Zeit das Wesentliche vom Unwesentlichen, wer bewahrt Wichtiges und Erhaltenswertes?

Wer hebt es heraus aus der Flut des Überflusses, dass es späteren Generationen unbeschadet als Vorbild und Richtschnur dienen kann?

Was würdevoll gestaltet ist, kann überleben und wird nicht leichtfertig und unüberlegt weggeworfen. Würdevolles Gestalten bedeutet Bewahren und Konservieren für die Nachwelt. Ein von Menschenhand gleichsam geadelter Text wird ehrfurchtsvoll behandelt und nicht vorschnell kritisiert wie ein unfertiges Typoskript oder eine Information unter Tausenden gleichen Aussehens.

Die Kalligrafie ist nicht nur öffentlich vorführ- und vorzeigbar, sie ist auch beweisbar in allen Phasen ihres Entstehens, da sie den historischen Grund, auf dem sie gewachsen ist, nicht verleugnet, sondern darauf aufbauend nach neuen Gestaltungsformen sucht.

Entscheidend ist das Wortbild

Der in ihr schlummernde Formenreichtum ist unerschöpflich und zeigt sich nicht nur in den üppigen ornamentalen Zeugnissen der Federkünste, sondern schon in der Ausgestaltung eines einzelnen Buchstabens oder der Komposition von zwei Buchstaben zueinander.

Nun spielt aber in der Kalligrafie die Schönheit und Perfektion des Einzelbuchstabens nicht eine so dominierende Rolle, denn der Einzelbuchstabe wird zumeist fester Bestandteil eines Wortbildes, das ziemlich kompromisslos in Bezug auf den Wert des Einzelsymbols entsteht und dieses zugunsten des Gesamtbildes stets als veränderbare Form behandelt.

Eine zur Einheit verbundene Buchstabengruppe – ein ungesperrtes Wortbild also – kommt mit sehr wenig Zwischenraum zum nachfolgenden Wortbild aus. Der Abstand braucht nicht breiter zu sein als ein kleines „i“.

Durch enge Nachbarschaft der aneinandergereihten Worte formiert sich die Zeile, die wie eine Perlenkette zusammenhängend wirken sollte und an der sich das noch so sehschwache Auge wie an einem Geländer entlangtasten und ebenso leicht den Weg zurück zum Anfang der nächsten Zeile finden kann.

Mehr Ästhetik, mehr Substanz

Weist eine Zeile genügend Enge und Dichte auf, so kann auch der Abstand zur darunter folgenden Zeile geringer gehalten werden. Ein unter Berücksichtigung dieser Kriterien straffer und fester gefügtes Schriftbild erlaubt wieder die Rückkehr zu breiteren Schriftspalten beziehungsweise zum ganzseitigen Schriftbild, wie es in der Inkunabelzeit üblich war, ohne die Lesbarkeit zu gefährden.

Die mit dem Argument besserer Lesbarkeit vorgeschlagene Schmalspalte – die so lange keine ausgeglichenen Schriftbilder zulässt, bis wieder erfahrene Schriftfachleute den Schreibautomaten vom Dasein eines Buchstabenspuckers befreit haben – kann zugunsten künstlerischerer Werte aufgegeben werden.

Der „Nachteil“ der Breitspalte liegt darin, dass wieder gelesen werden muss, denn das Herauspicken einzelner Stichworte zur reinen Schnellinformation wird erschwert. Aber ist es ein Nachteil, wenn man später noch weiß, was man gelesen hat, statt nur zu wissen, dass man gelesen hat?

Wenn Schrift zum Bild wird

Berücksichtigen wir gleichermaßen, dass die modernen Reproduktions- und Wiedergabetechniken die Verkleinerung fetterer Schriften ohne Schärfeverlust zulassen, so kommen wir auf anderem Wege zu den Werten mittelalterlicher Schriftbilder, die helfen könnten, einer immer stärker werdenden Notwendigkeit von Sehhilfen entgegenzuwirken und ebenfalls die Zahl der Legastheniker zu senken.

Wir sprechen immer wieder vom „Schriftbild“, ohne dabei an Illustration, Abbildung oder Buchschmuck zu denken, denn ein schönes, augenschonendes Schriftgewebe wirkt nun mal wie ein „Bild“.

Messen wir mittelalterliche Handschriften oder Wiegendrucke (Inkunabeln) auf ihren Schwärzungswert hin aus, so kommen wir auf eine dem Raster vergleichbare Dichte von 50 bis 60 Prozent. Ein zeitgenössisches Buch hingegen erreicht bestenfalls einen Schwärzungsgrad von etwa 20 Prozent, und manche im Schnellkopierverfahren hergestellte Arbeitsunterlage für unsere Schüler in den sonst so vorbildlich eingerichteten Schulen weist den kaum noch messbaren Wert von 5 Prozent auf.

Hier kann man gerade noch von einem Tonwert sprechen. Ist es da ein Wunder, wenn heute 60 Prozent aller Menschen in zivilisierten Ländern eine Brille benötigen?

Fortsetzung in Teil zwei.

Werner Eikel: „Kalligraphie“ als Ornament im Formenkanon, Kunstkalender 1991: Titelblatt. Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Roland Eikel



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