Einst kannte ich einen Löwen – Eine Erzählung von Manfred von Pentz

Es war eine Zeit allgemeiner Orientierungslosigkeit, emotionaler Niederlagen und der Sehnsucht nach neuen Ufern, und als ich an einem schönen Sommermorgen hinauffuhr, war der Grund wohl nur die Absicht, mich zu entspannen.

Um ehrlich zu sein, ich erinnere mich nicht daran, wo genau sich das Ausflugslokal befand. Darüber hinaus weiss ich nicht mehr, wie es aussah, vom Käfig einmal abgesehen. Hoch auf den Flanken der italienischen Alpen gelegen, ist oder war es eine Art pastorale Anlaufstelle für gemächliche Bergwanderer.

In jener Zeit hatte ich für ein Jahrzehnt meine Zelte im Hinterland von Verona aufgeschlagen und besuchte gelegentlich Freunde, die in Norditalien lebten, und sie brachten mich vielleicht auf die Idee, das Lokal zu besuchen.

Es war eine Zeit allgemeiner Orientierungslosigkeit, emotionaler Niederlagen und der Sehnsucht nach neuen Ufern, und als ich an einem schönen Sommermorgen hinauffuhr, war der Grund wohl nur die Absicht, mich zu entspannen. Ein Vorhaben, das in diesen Jahren meist von einer Flasche Rotwein unterstützt wurde.

Oder auch zwei…

Der Tag muss früh in der Woche gewesen sein, denn ausser mir waren keine anderen Gäste zu sehen. Als ich meine Bestellung aufgab, erwähnte der Inhaber, ein verschlossener Mann mit eisgrauem Haar, dass die Aussenterrasse einen grossartigen Blick auf das Tal erlaubte und überliess mich dann mir selbst. Dies entsprach genau meinem Wunsch, und so nahm ich Flasche und Becher, folgte seinem Vorschlag und setzte mich auf einen groben Holzstuhl vor einem sperrigen Tisch.

Eichen und Ahornbäume standen dicht nebeneinander, eine Brise flüsterte im glänzenden Laub, aber ansonsten schien die Stille absolut. Von Zeit zu Zeit drangen Sonnenstrahlen durch die Blätter, hell genug, um meine Augen mit einer schützenden Hand zu beschatten. Was jedoch nicht den atemberaubenden Blick beeinträchtigte, der tief in das schimmernde Tal und weit darüber hinaus reichte.

Als die ersten Becher aromatischen Rotweins Körper und Seele zu wärmen begannen, sah ich zwei Schmetterlinge verschiedener Gattungen, einer gelb, der andere weiss, die exstatisch umeinander tanzten. Sie brauchten einige Zeit, um ihren Fehler zu erkennen, und als sie schliesslich davonflatterten, folgte ich ihrem unregelmässigen Kurs und bemerkte so einen niedrigen Schuppen am äusseren Rand der Terrasse.

Er stand in einem kleinen Geviert unebenen Geländes, eingegrenzt von einem hohen Zaun, dessen Maschen so dick waren wie mein Daumen. Eine Weile betrachtete ich die seltsame Struktur ohne grosses Interesse und fragte mich vage, was diese massive Vorsichtsmassnahme bedeuten könnte, war aber zu träge und geistesabwesend, um ihr weitere Aufmerksamkeit zu schenken.

Dann sah ich den Löwen.

Er hatte sich die ganze Zeit nicht bewegt, sein gelbbraunes Fell und seine mächtige Mähne verschmolzen nahtlos mit dem sandfarbenen Hintergrund, und es bedurfte einer bewussten Zielrichtung des Blicks, um ihn zu bemerken. Seine plötzliche Erscheinung war so unerwartet und abrupt, dass mich für einen Moment ein Hauch des Übersinnlichen anfuhr, eine fast abergläubische Beklommenheit, als sei ich einem Besucher aus einer unbekannten Dimension begegnet.

Ein weiterer Becher Rotwein brachte mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Und während ich die wundersame Erscheinung mit stiller Faszination betrachtete, fragte ich mich, wie um alles in der Welt das Tier an diesem unwahrscheinlichen Ort gelandet war. Höchstwahrscheinlich in Gefangenschaft geboren, gehörten seine Eltern vielleicht zu einem Zirkus, dessen Besitzer keinen weiteren Darsteller brauchten und ihn an einen jener Dummköpfe verkauften, die mit exotischen Tieren angeben wollen, diese aber schnell abstossen, wenn sie zu gross und zu gefährlich werden.

Oder der wortkarge Besitzer des Ausfluglokals hatte ihn als Jungtier erstanden mit der klaren Absicht, die Kundschaft und ihre Kinder zu beeindrucken und so vielleicht ein zusätzliches Bier oder Eis am Stiel zu verkaufen.

Wie immer in der Gegenwart von gefangenen Tieren, und insbesondere solchen, die für kommerzielle Zwecke missbraucht werden, kam es zu einem abrupten Einbruch meiner Stimmung. Ich sah mich selbst an Stelle des Löwen, einsam und lebenslang inhaftiert, eingepfercht in diesen elenden kleinen Käfig, die weite Welt strahlend, prachtvoll und einladend direkt vor meinen Augen.

Und fühlend mit jeder Faser von Körper und Seele, dass die Freiheit mein von Gott zugewiesenes Element war, jedoch auch zweifellos wissend, dass grausame Häscher mich dazu verurteilt hatten, sie niemals zu erleben.

Eine tiefe Traurigkeit überkam mich und damit der undeutliche Groll, in eine Situation gelockt worden zu sein, die mich nicht aufrichtete, sondern meine Stimmung noch mehr verdunkelte. Für eine Weile dachte ich nach über den verworrenen Zustand meiner eigenen häuslichen Situation, entschied aber schnell, dass sie im Vergleich zum Schicksal des Löwen nur eine unbedeutende Lappalie war.

Welcher sich nicht einen Zentimeter bewegt hatte.

Als ich ihn mit zusammengekniffenen Augen fixierte, überkamen mich plötzlich Zweifel, und ich fragte mich, ob die Erscheinung vielleicht nur eine lebensgrosse Nachbildung sein könnte, zusammengenäht und ausgestopft für rein dekorative Zwecke. Da wurde ich ärgerlich und fühlte mich wie ein Tölpel, dessen weingetränkte Fantasie grundlos in einer emotional verworrenen Stimmung versackt war.

Die Empfindung verflog und es stellte sich statt dessen eine gewisse Erleichterung darüber ein, dass dem Gegenstand meines Mitgefühls ein Leben fehlte, wie wir es kennen, und dass er problemlos vergessen werden konnte.

Woraufhin der Löwe den mächtigen Kopf hob und gähnte.
Ich muss ziemlich konsterniert ausgesehen haben bei dem Versuch, meine Gedanken wieder einigermassen zu ordnen. Als ich den restlichen Wein konsumierte, machte sich ein anderes Gefühl bemerkbar. Eines, irrational wenn nicht gar lächerlich, das die Missachtung meiner Person seitens des Löwen als vage beleidigend empfand.

Mit einiger Mühe beschloss ich, keinen weiteren Unsinn zu bedenken, wunderte mich aber trotzdem darüber, wie es dem Löwen gelungen war, mich derartig zu verwirren, ohne dabei auch nur ein Schurrhaar zu bewegen. Die Frage liess sich nicht zufriedenstellend beantworten, und so stand ich auf und ging zum Haus, um eine weitere Flasche Wein zu erstehen.

Der Wirt betrachtete mich prüfend und wollte wisssen, ob mir die Aussicht gefiele. Mit unbewegtem Gesicht antwortete ich ihm, dass dem so sei und ich wahrscheinlich noch eine Stunde oder so anwesend sein würde. Er runzelte die Stirn, zuckte mit den Schultern und nickte, dabei vermittelnd, dass es ihn nicht störte, solange er mich nicht unter dem Tisch hervorziehen musste. Nachdem die Rechnung bezahlt war, fragte ich beiläufig, ob der Löwe einen Namen hätte.

Leo, murmelte er, und ich hätte es mir denken können.

Zurück am Käfig nahm ich den Stuhl, stellte ihn direkt neben das Gitter und setzte mich. Sodann füllte ich meinen Becher, prostete dem Löwen zu und sagte: „Leo, alter Freund, erlaube mit einige Bemerkungen.“

Der Löwe sah mich kurz an, gähnte, wandte wieder den Kopf und blickte still und unbeweglich in das schimmernde Tal.

„Es gibt“, sagte ich langsam, „Persönlichkeiten, die hat das Leben derartig unfair behandelt, dass man schier verzweifeln könnte. Und es gibt Menschen, die sind so eiseskalt, so entsetzlich ohne jegliches Mitgefühl, dass man sich fragt, ob sie nicht einer fremden Gattung angehören. Einer, die der Schöpfer, vielleicht versehentlich, ohne den essenziellen Lebensfunken ausgestattet hat.“

Während ich noch die letzten Worte sprach, stand Leo auf, ging langsam um seine Hütte herum und verschwand. Ich sah ihm nach und meine Trauer vertiefte sich. Es schien nur zu verständlich, dass die weingeschwängerte Zusprache eines Menschen so ziemlich das Letzte sein musste, was einen gefangenen Löwen aufheitern könnte. Als ich mir einen weiteren Schluck Wein genehmigte, ertönte hinter der Hütte ein schmatzendes Geräusch, und kurz darauf tauchte Leo wieder auf. Er fuhr sich mit langer Zunge kurz über die nassen Lefzen, blieb dann stehen und sah mich an.

Es war ein ruhiger und vollkommen gerader Blick, ohne eine einzige Bewegung der Wimpern oder Änderung der Richtung, und mir schien es, als hätte er mühelos all meine üblichen Verteidigungsmechanismen unterlaufen und mein wahres, tiefstinnerstes und gänzlich undekoriertes Wesen in Augenschein genommen.

Als wir uns noch ansahen, er ruhig und majestätisch, ich zunehmend verwundert und verunsichert, überkam mich plötzlich die Empfindung, als wäre eine Begegnung über eine normalerweise unüberwindliche Grenzlinie geschehen und hätte zu einer fast mystischen Verbrüderung geführt. Eine, die sich niemals in Worte fassen liess.

Und es schien, als hätte der Löwe ähnliches empfunden. Mich immer noch ansehend, kam er auf mich zu, warf seinen mächtigen Körper seitlich gegen das Gitter und legte sich direkt vor mir nieder. Da griff ich mit einer Hand durch das dicke Geflecht und begann ihn am Nacken zu kraulen, ganz leicht zuerst, dann etwas kräftiger. Was ihm offensichtlich gefiel, denn er begann kaum hörbar zu schnurren und bewegte ab und an die Schultern.

So ergab es sich, dass der körperliche Kontakt die emotionelle Verständigung beflügelte, weshalb ich mir einen weiteren Schluck genehmigte und zu reden begann. Der Wein hatte mir inzwischen die Zunge gelöst, und egal wie ungesichert oder abwegig meine gesammelten Lebensweisheiten auch sein mochten, sie glitten wohltemperiert dahin und artikulierten obendrein, so dachte ich jedenfalls, mein Mitgefühl.

Da sprach ich von der Geburt unseres Planeten als feurige Kugel vor Milliarden von Jahren und seinem Ableben in ebenfalls Milliarden von Jahren als erkaltete Masse, beschrieb die Formung der Kontinente und das Entstehen von Planzen und Tieren, wunderte mich über die Grobschlächtigkeit der Dinosaurier und die langsame Verfeinerung späterer Erdbewohner bis hin zu Extravaganzas wie schillernde Kolibris, sanftäugige Giraffen oder mächtige Löwen, und landete schliesslich beim Menschen, seiner Fähigkeit zwischen gut und böse zu unterscheiden und bei richtiger Wahl den Einzug in das Paradis zu vollbringen gleich all jenen, denen es gelang, in den Stand der Unschuld zurückzukehren.

Oder, wie in seinem Falle, die ihn nie verloren hatten.
Irgendwann versiegte meine Zusprache, der Wein ging zur Neige und es wurde Zeit, sich zu verabschieden. Während ich noch den Gedanken erwog, stand der Löwe auf, drehte sich mir zu und sah mich an.

Da erhob ich mich ebenfalls, flüsterte „Auf Wiedersehen“ und ging davon. Schon auf dem Weg zum Lokal, wandte ich mich noch einmal um, und da stand er im hellen Sonnenlicht und sah mir nach, und dies ist das Bild, welches mir in Erinnerung blieb – klar und leuchtend und unauslöschlich.

 

Die Webseiten von Manfred von Pentz:

http://der-deutsche-michel.net/
http://www.manfredvonpentz.net/

Manfred von Pentz
Ein deutscher Held
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