Beseelter Engel aus Holz

Wandlungsprozesse im Außen und Innen beim künstlerischen Schaffen
Titelbild
Längst hat sich der Sommer verabschiedet, und Ariel beschützt weiterhin das Haus. (Foto: Inka Ehrbar)
Von 21. Dezember 2007

Schon lange haben mich Bäume auf meinem Lebensweg begleitet. Sie drücken für mich mit ihren Kronen, Stämmen und den in der Erde verborgenen Wurzeln eine Verbundenheit mit Himmel und Erde aus. Wenn ich mir Zeit nehme, sie zu betrachten und zu berühren, erahne ich Gesichter in ihrer Rinde, die mal traurig scheinen und mal voller Freude und Lust vom Leben erzählen.

Das ist die Gelegenheit!

Von einer Bekannten habe ich einen Prospekt über den Bildhauer Andreas Hofer aus Davos in die Hände bekommen. Dieser Künstler organisiert in Davos ein Bildhauersymposium mit einem dreitägigen Workshop für Laien. Ich denke: Das ist die Gelegenheit für mich! Endlich kann ich selbst erfahren, wie es ist, mit Holz zu arbeiten. Ich melde mich an. Voller Vorfreude, aber auch mit etwas bangem Herzen bezüglich der Motorsäge – habe ich doch bis jetzt noch nie ein so lautes gefährliches Werkzeug in der Hand gehabt – finde ich mich Ende Juli auf dem kleinen Platz neben dem See mitten in den Schweizer Bergen ein. Hier lerne ich die anderen Teilnehmer und den Bildhauer Andreas Oberli kennen. Er und ein Spezialist für Motorsägen machen uns mit den Werkzeugen und den nötigen Schutzmaßnahmen bekannt. Holz ist in Form von verschieden dicken Stämmen reichlich vorhanden, und so ermuntert uns Andy (so nennen wir Andreas), doch auf der Stelle loszulegen.

Am Mittag sieht man schon eine Halbkugel

Das lassen wir uns nicht zwei Mal sagen. Jeder sucht sich ein geeignetes Stück Holz aus, und schon fliegen die Späne. Ich entschließe mich, zuerst einmal eine Kugel zu sägen. Dazu muss ich zunächst die Rinde entfernen. Es entsteht ein würfelähnliches Gebilde. Die Motorsäge ist viel leichter zu handhaben, als ich mir das vorgestellt habe. Und so säge ich, entferne hier und dort ein Stück von meinem Holz. Es macht mir einen Riesenspaß, und am Mittag ist aus dem kantigen Holz schon eine Halbkugel entstanden.

Was vorher unmöglich erschien – geschieht

Längst habe ich mich an die Klänge der Motorsäge gewöhnt. Die Späne fliegen, es riecht nach Holz, und ich fühle die Feuchtigkeit des Stammes auf meiner Haut. Die Kugel wird immer runder. Damit sie eine schöne Oberfläche bekommt, streichle ich sie behutsam mit der Kette der Motorsäge. Ja, Sie lesen richtig! Was auch mir vorher unmöglich erschien, geschieht! Ich streichle die Kugel. Ich fühle mich mit der Säge und dem Holz im Einklang. Die fertige runde Form meines „Kunstwerkes“ bringt dies voll zum Ausdruck. Das, und auch Andys Ermutigung: „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“ veranlassen mich, es am nächsten Tag mit einem Engel zu versuchen.

Engelhaftes Leben in Baumstämmen

Am nächsten Morgen bin ich noch gespannter als am Vortag. Ich soll Andreas Hofer, der die wunderbaren Engel erschafft, persönlich kennen lernen. Er kommt in einem Lastauto angefahren und bringt uns Lärchenstämme. Ich darf mir für meinen Engel einen aussuchen. Er soll ein Stück größer werden als ich! Andreas und Andy erledigen das Sägen, und schon steht der Baumstamm gut befestigt an meinem Arbeitsplatz. Noch ein paar gute Tipps, und der „Engelbauer“ ist wieder unterwegs.

Unterstützung von Außen

Ich beginne, Kopf, Hals und Schultern mit der Säge anzudeuten – was kein so großes Problem ist. Doch dann kommt das Gesicht. Zum Glück ist da noch Andy. Ist mir gestern mein Werk leicht von der Hand gegangen, stoße ich jetzt schnell an meine Grenzen. Andy erklärt die einzelnen Schritte ganz genau, doch die Durchführung ist alles andere als einfach. Ich schnitze mit dem Meißel die Konturen des Gesichts, doch wo auch immer ich Hand anlege, der Engel behält sein verbissenes Gesicht, so als ob er die Luft anhalten würde. Andy unterstützt mich, zeigt mir, wie man den Mund und die Augen formt. Als ich ihn frage, warum ich keinen besseren Ausdruck schnitzen könne, sieht er mich lächelnd und wissend an, zieht die Schultern hoch und sagt, ich solle mir nur Zeit nehmen, dann würde ich es schon erfahren.

Du möchtest also einen schönen Engel erarbeiten?

Nach einiger Zeit besucht uns Andreas Hofer, und auch ihm klage ich mein Leid. Er setzt sich mit mir auf einen nahe gelegenen Baumstamm und betrachtet lange mein Werk. Dann sagt er leise und schaut mich an: „Du möchtest also einen schönen Engel erarbeiten, ja? Aber was ist schön? Löse dich von dem, was schon fertig in Deinem Kopf sitzt und sei frei für die Möglichkeiten, die du mit dem Holz und dem Meißel hast, und der Baumstamm wird zu einem beseelten Engel.“ Er lächelt mir aufmunternd zu und geht. Für heute ist der Kurs zu Ende, doch über seine Worte muss ich noch lange nachdenken.

Der Baumstamm ist nur ein Spiegel meiner selbst

Am nächsten Morgen stehe ich erneut meinem bearbeiteten Baumstamm gegenüber. Ich schaue ihn aus einer Entfernung an, gehe um ihn herum. Dann nehme ich die Motorsäge und beginne, meinem Engel zuerst einmal Luft zu verschaffen. Es geht plötzlich ganz leicht. Nun fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Der Baumstamm ist nur ein Spiegel meiner selbst. Gestern habe ich verbissen gesägt und geschnitzt und nur einen ganz kleinen Teil gesehen. Jetzt aber, wo ich immer wieder zurücktrete, schaue, Luft hole und die Figur auf mich wirken lasse, nimmt sie Formen an und lächelt sogar! „Ariel“, geht es mir durch den Kopf, ja, so soll mein Engel heißen. Andy hat mir ein besonderes Brett mitgebracht und hilft mir, einen Flügel für Ariel zu zimmern.

Es waren wunderbar kreative Tage hoch oben in den Bergen von Davos. Zuerst stellte ich Ariel, meinen Engel, zwischen die Blumen im Garten. Er schaut beschützend auf unser Haus. Längst hat sich der Sommer verabschiedet und Wind, Kälte und Schnee haben Einzug gehalten. Ariel steht nach wie vor an seinem Platz und schaut aufs Haus. „Ob er wohl vom Sommer träumt“? denke ich, wenn ich zu ihm hinüber schaue. Ich habe das Gefühl, als ob er mich anlächelt, und es kommt mir so vor, als würde er sagen: „Die Dinge haben nicht nur eine Seite, hole Luft und schaue dir auch die Kehrseite an.“

Text erschienen in Printausgabe Epoch Times Deutschland Nr. 18



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