Kindheitsforscher Michael Hüter: „Wir verheizen die wenigen Kinder, die wir noch haben“

Wenn der Grundstein in der frühesten Kindheit nicht gelegt wird, wie könnte dann Bildung gelingen? Wenn kein Vertrauen in die Eltern vorhanden ist, die ihre Kinder – mehr oder weniger gedankenlos - in Krippen und Kitas bringen, wie kann sich ein Vertrauen zu Erziehern und Lehrern entwickeln?
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„Es ist höchste Zeit, mit unseren Kindern neue Wege zu gehen!“, fordert der Historiker und Kindheitsforscher Michael Hüter.Foto: iStock
Von 4. Oktober 2019

„Ja, sind die denn verrückt, diese Erwachsenen, dass sie unsere Jüngsten in einem Alter in die Schule schicken wollen, da sie doch so viel zu lernen haben?“, so lautet ein Spruch aus dem Himalaya.

Unmengen an Hausaufgaben, keine Freizeit, leere Kinderaugen. Der Druck auf die Schüler ist immens. „Es ist höchste Zeit, mit unseren Kindern neue Wege zu gehen!“, fordert der Historiker und Kindheitsforscher Michael Hüter in seinem neuesten Buch mit dem Titel „Kindheit 6.7 – Ein Manifest“.

In seinem Buch beschreibt der Bestseller-Autor die Historie der Bildung, die er jahrelang investigativ recherchiert hat. Fundierte Argumente auf 480 Seiten – Ein leidenschaftliches Plädoyer und Manifest für ein wieder menschenwürdiges und „artgerechtes“ Aufwachsen von Kindern, für eine neue Wertschätzung der familiären Sozialisation und für vollständige Bildungsfreiheit.

Früher war eine Familie unabhängig von Religion, Kultur, Kontinent, „geheiligt“ oder zumindest geschützt. Es war das Natürlichste der Welt, dass ein Kind bei der Familie lebte, sagt der Kindheitsforscher. Er betont:

Eine starke Familie, eine gesunde Familie bringt nicht nur gesunde Kinder hervor, sondern das Familienwesen ist auch die Keimzelle jeder leistungsstarken, gesunden, flexiblen oder auch innovativen Gesellschaft.“

Auch die berühmten Persönlichkeiten hätten alle kompetente Eltern. Sie brachten ihre Kinder nicht in eine Krippe oder Kindergarten und auch keine Schule, sondern sorgten allein dafür, dass Kinder alles Notwendige an die Hand bekamen, was sie für ihre Zukunft benötigten.

Das hat sich inzwischen geändert. Eltern bringen ihre Kinder in Krippen, Kindergärten und Schulen, damit sie ihrem Beruf nachgehen und Geld verdienen können. Tatsächlich hätten im 21. Jahrhundert jedoch viele hunderttausend Väter und Mütter in Mitteleuropa „jedes Vertrauen in die erzieherische Effizienz der sogenannten Erziehungseinrichtungen oder Bildungsstätten verloren“, so Hüter.

Es könne sogar zu schweren Störungen in der kindlichen Psyche kommen, wenn Kinder von ihren Eltern getrennt werden, weiß der Experte. An einem Beispiel stellt Hüter die gravierenden Eingriffe in die sensible Kinderseele dar. So hatten Eltern ihre beiden Kinder wieder aus der Krippe genommen, weil sie Verhaltensstörungen entwickelt hatten. Der eine Sohn litt unter Panik, der andere wurde rebellisch. Der Kindheitsforscher zitiert die Worte der betroffenen Eltern aus einem Zeitungsartikel: „Wir haben Kinder gesehen, die monatelang durchgeheult haben. Einige starrten ins Leere. Das psychische Leid dahinter wurde nicht erkannt.“

Wenn also der Grundstein in der frühesten Kindheit nicht gelegt wird, wie könnte dann Bildung gelingen? Wenn kein Vertrauen in die Eltern vorhanden ist, die ihre Kinder – mehr oder weniger gedankenlos – in Krippen und Kitas bringen, wie kann sich ein Vertrauen zu Erziehern und Lehrern entwickeln?

Schulanwesenheitspflicht – Übel des 21. Jahrhunderts

„Wir verheizen die wenigen Kinder, die wir noch haben, in ein defizitäres Bildungs- und Betreuungssystem, damit die Eltern für wenig Geld viel arbeiten können, nur um ein Wirtschaftssystem aufrechtzuerhalten, das zum Scheitern verurteilt ist“, sagt Hüter.

Wie er schlagen etliche Experten Alarm, doch der scheint bei den Politikern auf taube Ohren zu stoßen. Eine finanzielle Unterstützung der Familien sei viel sinnvoller, anstatt staatliche Betreuungen zu fördern, kritisiert Hüter. Denn was sich dann in den Schulen abspielt, ähnelt einem Trauerspiel:

„Wir haben es in der häuslichen Erziehung wie im Schulunterricht weitgehend mit Probierhandlungen zu tun, bei denen natürlich nicht ausgeschlossen ist, dass sie zufällig auch Erfolg haben können. Wie gering die Erfolgschancen so genannter Erziehungsmaßnahmen sind, bleibt der Öffentlichkeit nur deswegen relativ verborgen, weil die Kinder und Jugendlichen vieles von dem, was sie lernen sollen, weitgehend unabhängig von den erzieherisch gemeinten Probierhandlungen ihrer Eltern und Lehrer von selbst zu lernen vermögen.“ So zitiert Hüter die Worte von Ekkehard von Braunmühl, ein renommierter deutscher Pädagoge.

Grundsätzlich scheinen unsere Kinder eher Probanden in einem Bildungssystem zu sein, das nicht darauf ausgerichtet ist, intelligente und wissbegierige Kinder heranzuziehen, sagt Hüter.

Die Schule vermittele kein Wissen, sondern das sei „Beschäftigungstherapie“. Die meisten Menschen würden aufgrund dieses Bildungssystems später nicht mehr lernen wollen – ein Drama, nicht zuletzt für die Wirtschaft. Für die Konsumgesellschaft und die Pharmaindustrie sei dieses Bildungssystem hervorragend. Viele Industriezweige würden daran verdienen.

Die „schwarze Pädagogik“

Der Historiker kritisiert, dass vor allem im 18. und 19. Jahrhundert die sogenannte „schwarze Pädagogik“ eine „blutrote erste Hälfte des 20. Jahrhunderts beschert“ hat.

Der Aufruf zur psychischen Gewalt an Kleinkindern sei unbeschreiblich. Erziehungsratgeber, die Eltern ermutigen, ihre Säuglinge schreien zu lassen, oder nach denen Mütter sich an vorgegebene Stillzeiten halten sollen, hätten den Kern der Bindungszelle zwischen Eltern und Kind schwer gestört. Es gehöre inzwischen zur gängigen Praxis, „zum Wohle des Kindes“ das Menschenkind von seinen Eltern zu trennen, so Hüter – ein grotesker Widerspruch zu den Bedürfnissen jeden Kindes, das sich nach Zuneigung und Liebe sehnt.

Siegmund Freund, der Ur-Vater der Psychoanalyse glaubte, dass nur eine „Erziehungsdiktatur“ die „Menschenbestien“ niederhalten und domestizieren könnten, schreibt Hüter. Wie hätte Freud auch ahnen können, dass die Mehrheit der Kinder im 19. Jahrhundert in einer alltäglichen, schulischen wie auch häuslichen „Erziehungsdiktatur“ aufwachsen?

Bestseller wie „Die Mutter des Erfolges: Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte“ von Amy Chuan, in dem die Erziehung eines Kindes mit einer „atomaren Kriegsführung“ verglichen wird, oder das „Lob der Disziplin“ von Bernhard Bueb, mit der Aufforderung, Babys schreien zu lassen, führen verzweifelte Eltern in die Irre und schaden den Familien, vor allem dem Kind und der Gemeinschaft.

Blick in die Zukunft

„Um unsere täglich geborenen, gesunden, hoch begabten und sozial veranlagten kleinen Sapiens brauchen wir uns keine Sorgen machen. Besorgniserregend ist lediglich der Populismus in den gerade genannten Büchern“, sagt Hüter.

Er hat noch nicht alle Hoffnung verloren. Sein Bild für die Zukunft malt er mit klaren Worten:

„Noch in diesem Jahrhundert wird es nur Lernorte geben, in der jeder Mensch seinen ganzen Reichtum an Erfahrungen und Wissen vorbehaltlos an ein anderes Mitglied der Gemeinschaft weitergibt. Die Trennung zwischen Jung und Alt, Schule und Öffentlichkeit, wie auch in Kindheit und Erwachsenenalter wird es so nicht mehr geben. Es wird eine Welt sein, in dem der Mensch wieder sich selbst und jedem Mitglied der Gemeinschaft vertraut, von Geburt an.“

Doch damit das eintritt, müsse das Schulsystem revolutioniert werden.

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www.michael-hueter.org

Michael Hüter
KINDHEIT 6.7
Taschenbuch: 480 Seiten
Verlag: Edition Liberi & Mundo (2018)
ISBN-10: 9783200055070
D: € 24,30
A: € 25,00

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