Warum Väter unersetzlich sind: Die vernachlässigte Vaterliebe

„Neben der Identifikation mit dem Vater ist es vor allem der Blick, mit dem ein Vater sein Kind ansieht, der dessen Selbstbild formt. Das gilt sowohl für sein Selbstwertgefühl als auch für seine schulischen und beruflichen Leistungen.“ Victor Chu
Titelbild
Foto: Hamish Blair/Getty Images
Von 5. Mai 2016

In seinem Buch VATERLIEBE (erschienen im Klett-Cotta Verlag) beschreibt Viktor Chu vom Glück und den Herausforderungen des Vaterseins. Er widmet sich als Schriftsteller und Therapeut einem Thema, das besonders in Europa in den letzten 100 Jahren mehr als stiefväterlich behandelt wurde. Und er kann nicht umhin – nahezu klischeehaft – aufzuzeigen, dass selbst in einer globalisierten Welt und Gesellschaft das Elementarste die Liebe ist – besser gesagt: die Elternliebe.

Im Mittelpunkt steht die Frage: Wie wichtig ist die Vaterliebe? In einer modernen Gesellschaft, in der es als selbstverständlich gesehen wird, dass der Vater die Familie verlassen kann, oder eine Mutter sich bewusst entscheidet ein Kind allein großzuziehen? Was macht diese fehlende Vaterliebe aber mit dem Kind? Welche Spuren hinterlässt diese Lücke, wenn ein Elternteil, hier insbesondere der Vater, nie wirklich präsent ist?

Viktor Chu verdeutlicht besonders als Therapeut, dass die Vaterliebe genauso einzigartig ist wie die Mutterliebe, denn auch sie bleibt ein Leben lang bestehen und verändert sich permanent. Einem Kind gewährleistet diese Vaterliebe Schutz und Orientierung und dem Vater eröffnet sie einen völlig neuen Lebenssinn. Denn das Vatersein ist die wohl wichtigste Aufgabe im Leben eines Mannes – so Victor Chu.

In seinem Buch demonstriert er anhand von Fallbeispielen, welche Herausforderungen ein Mann meistern muss, um ein guter Vater zu werden, aber auch ein guter Vater zu bleiben. Für Victor Chu sind Eltern wie große Bäume. Wenn sie stabil stehen, können die jungen Pflanzen in ihrer Zeit an ihnen empor wachsen. Ein Vater ist nicht nur Vorbild bezüglich der  Erfolge, die er erlebt, er ist den Kindern auch ein Vorbild darin, wie mit Enttäuschung, Misserfolg und Niederlagen umgegangen werden kann. Von daher ist eine Vaterrolle besonders in der Pubertät junger Menschen unabdingbar.

Wie weit hat sich aber die Vaterrolle im Laufe dieses Jahrhunderts verändert? Welchen Einfluss hat die Partnerschaft heute auf das Vatersein und welche psychischen Folgen kann ein Vatermangel für die Töchter und Söhne haben? Denn, einen Vater nicht wirklich um sich zu haben, gilt fast als normal und ist gesellschaftlich akzeptiert; während eine Mutter, die ein Kind verlässt, als Rabenmutter dargestellt wird.

Ein christliches Vorbild?

Schon auf den meisten Weihnachtsbildern liegt der gesamte Fokus auf der Mutter Maria und ihrem Kind Jesus. Josef, der „Ersatzvater“ bleibt als Nebenfigur im Hintergrund. Nie gibt es eine körperliche Berührung mit ihm und dem Kind.

In der Christus-Geschichte wird die Vaterschaft Josefs quasi verleugnet. Und flapsig ausgedrückt könnte man meinen, dass Josef irgendwie benutzt und gebraucht wurde, um das Kind großzuziehen, was die Mutter mit der Hilfe des „Heiligen Geistes“ in die Ehe gebracht hat. Die Vaterfigur hat in der westlichen Welt lange nicht die Bedeutung gehabt, wie die Mutterfigur. Sie bleibt auf den Erzeuger beschränkt; der Rest bleibt Sache der Mutter.

Maria ist als Mutter die Heilige. Und irgendwann taucht Josef einfach nicht mehr auf. Es ist Maria, die ihren Sohn in seinem Leben und in den Tod begleitet und um ihn trauert. Wenn also eine ganze Kulturgeschichte auf den biologischen Vater keine Rücksicht nimmt, darf es einen nicht wundern, dass der Vatermangel als normal angesehen wird. Damit geht eine fast unmögliche Herabsetzung der Bedeutung des leiblichen Vaters einher. Die Figur der Mutter wird in der Person der Jungfrau Maria überhöht, während Joseph zum bloßen Ziehvater degradiert wird.

Aber genau diese fehlende Position des Vaters hat über Generationen hinweg bei vielen Menschen seelische Wunden hinterlassen und nicht selten ein schwieriges Leben ausgelöst.

Besonders mithilfe der Familienaufstellung und Gesprächen mit Betroffenen konnte Viktor Chu plausibel aufzeigen, dass die Vaterliebe unabdingbar für einen Menschen ist, um seinen Platz im Leben und in der Gesellschaft zu finden.

Denn auch die Vaterliebe ist etwas Unverwechselbares und kann nicht ersetzt werden, weder durch die Mutterliebe noch durch die Liebe eines Partners oder einer Partnerin. Der Verlust dieser Liebe prägt und beeinflusst den Menschen in all seinem Handeln und Tun.

Wenn ein Paar ein Kind bekommt, mischen sich die Positionen Mann/Frau neu. Eine Mutter ist schon biologisch gesehen vom ersten Moment an mit dem Kind verbunden, der Vater bleibt hingegen frei und ungebunden. Wenn er geht, verbindet ihn nicht wirklich etwas mit dem Kind. So der allgemeine Glaube. Eine Mutter kann nicht gehen.

Das Kind befindet sich bei der Geburt aber genau im Mittelpunkt. Verlässt der Vater Mutter und Kind, oder die Mutter entscheidet sich, das Kind allein großzuziehen, wird diese vollkommene und unumkehrbare Synthese zerstört. Das Kind kann man nicht in eine väterliche und eine mütterliche Hälfte auseinanderreißen. Die Natur lässt das Kind als vollkommene Synthese von Mutter und Vater entstehen. Und nicht selten, wenn der Vater verloren geht, sei es durch Tod oder Trennung, wird dieses Kind immer versuchen, diesen Teil nicht nur in sich sondern auch außerhalb seines Selbst zu suchen. Für jedes Kind gibt es das natürliche Bedürfnis, Mutter und Vater zusammen zu erleben. Selbst diejenigen, die ihren Vater nicht kennen, bestätigen immer wieder, dass dieser Vater der vertraute Unbekannte bleibt.

Gelingt es einem Paar nicht, nach einer Trennung ein gemeinsames Sorge- und Besuchsrecht vor allen Dingen kindgerecht zu regeln, wird die fehlende Vaterliebe, und zwar die gesamte Lebenszeit eines Kindes hindurch, als große Lücke empfunden. Und die Trennung vom Vater hinterlässt bei den meisten Kindern eine lebenslange Wunde.

Der Blick des Vaters auf das Kind

Neben der Identifikation mit dem Vater ist es vor allem der Blick, mit dem ein Vater sein Kind ansieht, der dessen Selbstbild formt. Das gilt sowohl für sein Selbstwertgefühl als auch für seine schulischen und beruflichen Leistungen. ( S.152)

Der Vaterverlust der Kriegsgeneration

Schon Herodot schrieb: Kein Mann ist so dumm, den Krieg herbei zu wünschen und nicht den Frieden; denn im Frieden begraben Söhne ihre Väter, im Krieg Väter ihre Söhne.

Insbesondere Deutschland mit seinen zwei Weltkriegen blickt auf eine lange gebrochene Vatertradition zurück. Somit brachten die beiden Weltkriege eine verheerende Vater-Sohn Beziehung hervor. Galt der Vater noch um die Jahrhundertwende als unumstößliche Macht, der Patriarch der Familie, mussten nach dem ersten Weltkrieg viele Kinder ohne Vater aufwachsen. Diejenigen Väter, die als Krüppel oder als seelische Verletzte zurückkamen, fanden nie wieder ihren Platz in der Gesellschaft, oft nicht einmal in ihrer eigenen Familie.

Die Schmach, den Ersten Weltkrieg verloren zu haben, bildete nicht umsonst ein neues Gesellschaftsbild. Frauen hatten sich während des Krieges die Straße und den öffentlichen Raum erobert, waren nicht mehr bereit, sich dem ehemaligen patriarchalischen System zu unterwerfen. Junge Männer suchten das Ewigweibliche in sich, Frauen gaben sich keck, schnitten sich die langen Zöpfe ab, und nicht umsonst entstand der „Tanz auf dem Vulkan“. Diese Ära dauerte aber nur sehr kurz.

Während der Zeit des Nationalsozialismus gab es wieder die klare Vater-Mutter-Kind- Position innerhalb der Familie. Dieses Gebilde zerbrach mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Nicht nur der Vater, auch die erwachsenen Söhne zogen in den Krieg. Jungs wurden gedrillt, um für ihr Vaterland zu sterben. Diese Liebe zur Nation überwog alles. Diejenigen, die den Krieg überlebten, blieben nicht selten ein Leben lang traumatisiert und gaben diese Traumata als Vater unbewusst an die nächste Generation weiter.

Fast ein Drittel der Kinder wuchsen nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Vater auf. Gerade für diese Jungen fehlte ein wichtiges Vorbild. Auch wenn es wie ein Klischee klingt, so scheint doch viel Wahrheit dahinter zu stecken: ein Junge braucht das väterliche Vorbild, um ein Mann zu werden. Er braucht ein reales männliches Gegenüber, an dem er sich reiben kann, in dem er seine Kräfte messen kann und mit dem er sich identifizieren kann. Viktor Chu sieht in der Vaterfigur die Chance des Vaters, Söhnen Mut und Selbstbewusstsein beizubringen.

Nicht selten erlebten die vaterlosen Jungen nach dem Krieg ein problematisches Verhältnis zur Mutter, weil entweder der Vater permanent idealisiert oder sein Leben totgeschwiegen wurde. Die schützende Hand des Vaters, an der sie sich hätten festhalten können, wenn sie Angst hatten, löste besonders in der Pubertät und im Erwachsenwerden eine große Leere aus. Nicht selten erzählen die Männer, dass dieses leere Gefühl, nie den erforderlichen Schutz erfahren zu haben, sie ein Leben lang begleitete.

Söhne erlebten, wie die Mütter beide Rollen übernehmen mussten. Nicht selten beschreiben diese Männer ihre Mütter als harte Person, und nicht selten mussten sie Prügel einstecken. Und als Abwesender schien dieser Vater trotzdem höchst anwesend zu sein.

Und die Töchter ohne Väter beschreiben oft ihre Mütter als nicht sehr liebevoll. Auch sie wurden nicht selten in aller Härte erzogen. Dieser Frauenkosmos, der nicht selten entstand, ließ vielen Töchtern keine Möglichkeit, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Viele blieben bei ihren Müttern, um zu helfen. Und nie gab es einen Ort, über den Verlust des Vaters zu trauern.

Nicht umsonst wird gesagt, dass ab dem siebten Lebensjahr der Vater derjenige ist, der das Kind aus der häuslichen geschützten Umgebung in die Welt hinaus führt. Dieses In-die-Welt-Hinaustreten kann ein schmerzhafter Prozess werden, wenn die schützende Hand des Vaters fehlt.

Was auch immer gerne negiert wird, nicht nur das Kind hätte den Vater gebraucht, sondern auch die Mutter hätte gern einen Mann an ihrer Seite gehabt. In vielen Interviews konnten die Männer berichten, dass sie oft in irgendeiner Art und Weise diese Position ersetzen mussten.

Emanzipation- und Genderbewegung

75 Jahre Frieden in Europa haben auch den Niedergang der patriarchalischen Gesellschaftsordnung zur Folge. Von daher kann man sagen, dass es Jahrzehnte gebraucht hat, um die Position des Vaters neu zu definieren, aber auch zu erkennen, wie wichtig ein Vater ist.

Nur was hat sich für ein Männerbild entwickelt, nach zwei Weltkriegen, der Emanzipationswelle und jetzt der neuen Genderbewegung, in der scheinbar das Geschlechtslose propagiert wird? Victor Chu versucht klar aufzuzeigen, dass es ihm nicht um ein altes patriarchalisches System geht, aber dass gerade heute die Männer in einer besonderen Krise stecken, da sie sich neu besinnen müssen. Nicht nur in ihrer Rolle in der Paarbeziehung, sondern auch in der Familie sowie in der Gesellschaft. Einerseits wird die männliche Stärke gesucht und gebraucht, aber andererseits sollen sie in bestimmten Situationen nicht dominant sein.

Hier in der heutigen modernen Gesellschaft die Balance zu wahren, einerseits der Rolle als Eltern gerecht zu werden, aber auch berufliche Freiheiten zu ergreifen ist nicht nur immer ein Problem für Frauen, sondern auch eins der Männer.

Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern vermischten sich im Laufe der Jahrzehnte immer mehr. Nicht selten kommt es diesbezüglich zu einer Orientierungslosigkeit, insbesondere für junge Menschen. Männer wissen oft nicht mehr, wozu sie in der Gesellschaft eigentlich gebraucht werden. Sie verlieren Sinn und Ordnung. Er muss sich in seiner männlichen Identitäten neu definieren. Heute wird der Mann von allen Seiten kritisiert und seine Position innerhalb der Familie und der Gesellschaft hinterfragt. Der Mann von heute weiß nur, wie er nicht zu sein hat. Wirklich neue Vorbilder gibt es aber nicht mehr für die neuen Männer, sie müssen sich diese neu erschaffen.

Wenn der junge Mann Vater wird, tritt er automatisch in die Tradition seiner Familie. D.h., plötzlich erinnert er sich seiner eigenen Kindheit und seines Verhältnisses zu seinem Vater. Gleiches gilt auch für die Frau, hier spielt dann die eigene Mutter eine größere Rolle.

Nicht selten ertappt man sich dabei, dass man vieles macht, was die eigenen Eltern einem vorgelebt haben. Spätestens hier beginnen ganz oft Aufarbeitungen aus der eigenen Kinderzeit. Fehlte der Vater, so erlebt Viktor Chu oft, dass besonders Väter Schwierigkeiten, haben eine wirklich intensive Vaterrolle anzunehmen.

Und nicht selten tauchen unverarbeitete Konflikte und Traumata vergangener Generationen auf, die auf die Nachkommenschaft übergehen, und einen schwer belasten können.

Väter und Töchter

Im Blick des Vaters findet die Tochter Bestätigung, dass sie zu einer wunderbaren Frau heranwachsen kann. Töchter, die den Vater nicht erlebt haben, spüren ein Leben lang, eine gewisse Scheu und Scham dem anderen Geschlecht gegenüber.

"Ohne dass sie es sich bewusst zu machen braucht, ist es das Männliche am Vater, das sie gleichzeitig fasziniert und anzieht, aber auch ängstigt. Er ist für sie der Mann schlechthin. Sie fühlt sich gleich von ihm als weibliches Wesen gesehen und behandelt. Als der erste Mann in ihrem Leben macht er einen tiefen Eindruck in ihrer Seele. Es ist, als würde er seinen Stempel auf ein weißes Blütenblatt aufdrücken." (S. 159)

Victor Chu kommt zu der Erkenntnis: VATERLIEBE ist die Grundlage für eine gelungene Vaterschaft. Sie ist für jedes Kind unersetzlich und sein ganzes Leben lang ein wichtiger Begleiter.

In seinem Buch versucht er der Frage nachzugehen: Was würde ich heute als alter Vater dem Jungen von damals sagen? Wovor würde ich ihn warnen? Welche Hoffnungen haben sich bestätigt, welche sich als Illusion erwiesen? Und vor allem: Was würde ich genauso machen, was anders?

Ein wichtiges Buch, um den Kindern von heute und morgen die Möglichkeit zu geben, ihren Weg in unsere Gesellschaft zu finden.

Victor Chu Dr. med., ist Arzt und Diplom-Psychologe und arbeitet als Psychotherapeut, TaiChiLehrer und Ausbilder am GestaltInstitut Heidelberg. Er und seine Frau haben vier Kinder und leiten eine psychotherapeutische Praxis bei Heidelberg.

Victor Chu

VATERLIEBE

300 Seiten

Klett-Cotta; Auflage: 1 (20. Februar 2016)

ISBN-10: 3608980636

€ 22,95



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion