Caravaggio und die Bekehrung des Saulus

Seit Jahrhunderten ist die Bekehrung des Saulus ein wichtiger Topos der abendländischen Kunst.
 Eine der kraftvollsten Darstellungen wurde im Jahr 1600 von Caravaggio für die römische Kirche Santa Maria del Popolo geschaffen.
Titelbild
Ausschnitt aus dem Gemälde „Die Bekehrung des Saulus“ von Michelangelo Caravaggio.Foto: Gemeinfrei
Von 10. Mai 2024

In Auftrag gegeben hatte das Gemälde Tiberio Cerasi, der mächtige 
Schatzmeister von Papst Clemens VIII. für die Kirche Santa Maria del Popolo, auf die Pilger beim Passieren des nördlichen Stadttors Roms als Erstes trafen.

Und es kamen viele, denn das Jahr 1600 war vom Papst zum Heiligen Jahr ausgerufen worden. Ein außergewöhnliches Ereignis, für das die katholische Kirche all jenen, die Rom und seine Kirchen besuchten, besondere Gnaden und Sündenablässe verhießen. Im Heiligen Jahr 1600 nahmen deshalb über eine Million Menschen die weite Reise in der Hoffnung auf Vergebung und Neubeginn auf sich – oft zu Fuß.

Und eine der wohl existenziellsten Bekehrungsgeschichten der Bibel sollte die Pilger in Form von Caravaggios künstlerischer Vision begrüßen.

Vom Saulus zum Paulus

Nach den Berichten der Apostelgeschichte und seinen eigenen Zeugnissen nahm die Lebensgeschichte des Heiligen Paulus ihren Anfang in der Stadt Tarsus, die heute zur Türkei gehört. Erstmals begegnet man ihm in der Bibel unter seinem eigentlichen Geburtsnamen Saulus, als er am Rande der Steinigung des frühchristlichen Diakons Stephanus steht und die Täter ihm nach der Tat huldigen. Denn: Als römischer Bürger und jüdischer Pharisäer hatte Saulus den Auftrag der Tempelälteren erhalten, die aufkeimende christliche Gemeinde zu zerstören, Männer und Frauen zu verfolgen und in den Kerker zu werfen. Schließlich machte er sich sogar nach Damaskus auf, um auch dort Christen, die er als Kriminelle sah, aufzuspüren.

Doch es geschieht Unerwartetes.
 Auf dem Weg nach Damaskus erscheint ihm Christus. Sein Ruf und seine Frage an Saulus könnten nicht eindringlicher und direkter sein: „Saulus, Saulus, warum verfolgst Du mich?“

Saulus ist so tief erschüttert, dass er für mehrere Tage erblindet und weder essen noch trinken kann. Als er wieder zu Kräften kommt, ist er ein vollständig Verwandelter: Paulus, der Völkerapostel.

Seine bewegenden Briefe werden ein Drittel des gesamten Neuen Testaments ausmachen. Um die frohe Botschaft von Hoffnung und Erlösung den frühchristlichen Gemeinden und allen Bewohnern eines zynischen Kaiserreichs zu verkünden, wird er über 10.000 Meilen (etwa 16.000 Kilometer) zurücklegen, bevor er schließlich in Rom das eigene Martyrium durch Enthauptung erleidet.

Caravaggios Durchbruch


Die Cerasi-Kapelle in Santa Maria del Popolo in Rom mit Gemälden von Annibale Carracci (im Zentrum) und Caravaggio (auf beiden Seiten), alle um 1600–1601. Foto: Frederick Fenyvessy, CC BY 2.0

Im Jahr 1600 nun ist der Auftrag von Tiberio Cerasi für den Maler Caravaggio eine wunderbare Gelegenheit, sich künstlerisch neu zu erfinden. 
Zehn Jahre zuvor war er aus Mailand nach Rom gekommen. Im Gegensatz zu Michelangelo Buonarroti und Raffael war er aber weder ein Meister der Freskomalerei noch der zeichnerischen Studie. Caravaggios Karriere als Atelierkünstler schien vorgezeichnet zu sein. Die Gemälde von Früchten, Blumen und anderen beliebten Themen würden ihm aber aller Wahrscheinlichkeit nach zu keinem großen Ruhm verhelfen.

Doch Cerasi tritt an den Mailänder Maler heran, während dieser gerade an seinem ersten öffentlichen Auftrag für die Kirche San Luigi dei Francesi in Rom arbeitet. Mit diesem zweiten Auftragsprojekt in ein und demselben Jahr war für Caravaggio die Gelegenheit zum Durchbruch endlich gekommen.

Zeit- und Konkurrenzdruck waren jedoch enorm.
 „Die Bekehrung des Saulus“ und „Die Kreuzigung des Heiligen Petrus“ entstanden für die Seitenwände der Cerasi-Kapelle, während das zentrale Altarbild der anerkannteste Maler Roms, Annibale Carracci, schuf.

Es war vorherzusehen, dass die herausragende Könnerschaft und strahlende Farbpalette von Carraccis „Himmelfahrt der Jungfrau Maria“ sowohl die Kunstkenner Roms als auch die Pilger begeistern würden, die zu Abertausenden in die Ewige Stadt strömten.

Und nicht nur das: Die einzigen vergleichbaren Darstellungen der Bekehrung des Saulus und der Kreuzigung des Heiligen Petrus waren von niemand Geringerem als Michelangelo Buonarroti 50 Jahre zuvor für den Vatikan geschaffen worden.

Auch Caravaggio hieß mit Vornamen Michelangelo, und so muss der drohende Vergleich mit seinem Namensvetter und grandiosen Vorläufer für ihn einschüchternd gewesen sein.

Michelangelo Buonarrotis „Bekehrung des Saulus“‎. Fresko in der Cappella Paolina, Palazzi Pontifici, Vatican, 625 cm x 661 cm. Foto: Sailko, CC BY 3.0

Der Florentiner Michelangelo hatte sein Fresko mit Dutzenden Figuren gefüllt, die vom Ort der dramatischen Begegnung zwischen Saulus und Jesus explosionsartig auseinanderstieben. Caravaggio entschied sich jedoch, Michelangelo Buonarroti nicht nachzueifern. Stattdessen entwickelt er seinen ganz eigenen Ansatz und reduziert die Szene auf nur drei Figuren: Saulus, das Pferd und den Pferdeknecht.

„Die Bekehrung des Saulus“ von Michelangelo Caravaggio, Ölgemälde in der Cerasi-Kapelle von Santa Maria del Popolo, Rom, 230 cm x 175 cm, Gemeinfrei

Saulus trägt das Lederwams eines Soldaten, ein Symbol, das die aggressiv militanten Absichten des Saulus andeutet, der aufgebrochen war, um Christen zu jagen und zu verhaften. Das Pferd ist ein untersetztes Arbeitstier, weit von der Eleganz eines Vollblüters anderer Versionen entfernt. Der heruntergerissene Knecht sieht aus, als sei er gerade aus einer Römischen Spelunke gekommen. Die drei Figuren füllen den gesamten Raum der Leinwand. Das Pferd nimmt dabei den Löwenanteil ein.

Keine strahlende Sonne, kein stahlblauer Himmel erleuchten das Ereignis. Caravaggio setzt gezielt die Helldunkelmalerei des Tenebrismus ein, den er bereits kurz zuvor auf seinen Gemälden für die Kirche San Luigi dei Francesi zur Schau gestellt hatte. Der dramatische Augenblick der Bekehrung spielt sich vor einem schlichten Hintergrund ab. Doch bemerkenswerterweise ist einer körperlich abwesend: Christus.

Eine völlig neue, geradezu unerhörte Idee

Obwohl der persönliche Ruf Jesu und damit Sauls Bekehrung eine der bekanntesten Passagen der Bibel ausmachen, entscheidet sich Caravaggio dafür, die wichtigste Gestalt des Ereignisses unsichtbar werden zu lassen. Das ist überraschend, doch im Rückblick auf das Fresko Michelangelos lässt sich ein Entwicklungsfaden zwischen der älteren und Caravaggios Version des Themas erkennen.

Bei Michelangelo erscheint Christus im oberen Teil des Freskos über dem liegenden Saulus und sendet einen Strahl gleißenden Lichtes wie einen Blitz herab. Das Ross flieht, die Soldaten ziehen sich alarmiert zurück und jemand versucht sogar, den göttlichen Ansturm mit einem Schild abzuwehren.

In seinem Gemälde behält Caravaggio das kraftvolle Licht bei, blendet jedoch die Figur Christi aus, weist aber gleichzeitig auf seine göttliche Gegenwart durch das Leuchten hin, das sich im Gesicht des Saulus widerspiegelt.

Es ist kein natürliches Licht, wie das der Sonne oder des Mondes. Und: Sein Zentrum des Geschehens liegt fast ausschließlich auf Saulus. Das Pferd bemerkt nichts und ebenso wenig der Pferdeknecht. Beide warten nur geduldig darauf, dass sich Saulus wieder erheben möge.

Vielschichtige Bedeutungen

Mit dieser Bildkomposition bietet Caravaggio äußerst vielschichtige Bedeutungsebenen an. Die Erscheinung Christi wird zum Licht der Erkenntnis im Sinne einer höheren Ebene des Verstehens. „Licht zu sehen“ kann darüber hinaus auch das klare Erkennen der eigenen Fehler bedeuten und als die Entdeckung eines neuen Weges interpretiert werden.

Ausschnitt aus dem Gemälde Michelangelo Merisi da Caravaggios „Die Bekehrung des Saulus“. Die göttliche Gegenwart Christi wird durch das Leuchten angedeutet, das sich im Gesicht von Saulus widerspiegelt. Öl auf Leinwand, aus dem Jahr 1600, von Michelangelo Merisi da Caravaggio. Foto: Gemeinfrei

Caravaggio stellt Saulus als jungen Mann dar, der schwere Sünden begangen hat, doch gleichzeitig viele Jahre vor sich hat, in denen er die frohe Botschaft Jesu verbreiten wird. Bald wird der Mann, der hier die Waffen streckt, seine Fähigkeiten für eine neue Mission, nun im Auftrag Christi, einsetzen.

In Caravaggios Gemälde bedeckt Saulus nicht sein Gesicht. Seine Verwandlung vollzieht sich also nicht im Verborgenen, sondern vor den Augen des Betrachters.

Einzigartig ist auch die Farbgebung. Auf den ersten Blick dominieren die Brauntöne des Hintergrunds im Fell des Pferdes und in der beigefarbenen Tunika des Dieners. Caravaggios Lichtführung fokussiert sich jedoch auf Saulus, entzündet die Szenerie und bringt das Lederwams Sauls in hellem Orange zum Leuchten. Auf seinem purpurroten Umhang liegend, entsteht um den Gefallenen herum der Farbeindruck züngelnder Flammen.

Was bedeutet es aber, gerufen zu sein und wahren Sinn zu finden? 
Wie fühlt es sich an, sich in sein bestes Selbst zu verwandeln? Caravaggio führt einen Mann vor Augen, der in Hoffnung, Liebe und für seine neue Bestimmung brennt.

Indem er eine vielfigurige, ausladende Komposition vermeidet, lässt Caravaggio eine packendere, direkte Vorstellung dieser plötzlichen persönlichen Verwandlung entstehen.

Ohne Fanfaren, ohne Zuschauer porträtiert Caravaggio den intimen Moment einer persönlichen Umkehr als bewegenden Augenblick des Hörens einer inneren Stimme und des Aufbruchs zu einem neuen, höheren Pfad, der fortan konsequent beschritten wird.



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