Am Turme – Von Annette von Droste-Hülshoff

Aus der Reihe Epoch Times Poesie - Gedichte und Poesie für Liebhaber
Titelbild
O, sitzen möcht' ich im kämpfenden Schiff, das Steuerruder ergreifen und zischend über das brandende Riff wie eine Seemöve streifen.Foto: iStock

Am Turme

Ich steh‘ auf hohem Balkone am Turm,

Umstrichen vom schreienden Stare,

Und lass‘ gleich einer Mänade den Sturm

Mir wühlen im flatternden Haare;

O wilder Geselle, o toller Fant,

Ich möchte dich kräftig umschlingen,

Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand

Auf Tod und Leben dann ringen!

Und drunten seh‘ ich am Strand, so frisch

Wie spielende Doggen, die Wellen

Sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch

Und glänzende Flocken schnellen.

O, springen möcht‘ ich hinein alsbald,

Recht in die tobende Meute,

Und jagen durch den korallenen Wald

Das Walroß, die lustige Beute!

Und drüben seh‘ ich ein Wimpel wehn

So keck wie ein Standarte,

Seh‘ auf und nieder den Kiel sich drehn

Von meiner luftigen Warte;

O, sitzen möcht‘ ich im kämpfenden Schiff,

Das Steuerruder ergreifen

Und zischend über das brandende Riff

Wie eine Seemöve streifen.

Wär‘ ich ein Jäger auf freier Flur,

Ein Stück nur von einem Soldaten,

Wär‘ ich ein Mann doch mindestens nur,

So würde der Himmel mir raten;

Nun muß ich sitzen so fein und klar,

Gleich einem artigen Kinde,

Und darf nur heimlich lösen mein Haar

Und lassen es flattern im Winde!

Annette von Droste-Hülshoff    (1797  – 1848)



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