Wahlrechtsreform verabschiedet: Künftig höchstens 630 Abgeordnete

Der Bundestag hat mit einer klaren Mehrheit die lang erwartete Wahlrechtsreform verabschiedet. Demnach wird die Abgeordnetenzahl auf 630 begrenzt und die Fünf-Prozent-Hürde zwingend. Die Chancen für kleine Parteien und Direktkandidaten sinken. Union und Linke wollen das Bundesverfassungsgericht anrufen.
Der Bundestag hat am 17. März die lange erwartete Wahlrechtsreform verabschiedet - zum Ärger kleinerer Parteien. Foto: Screenshot Bundestag.de
Der Bundestag hat am 17. März die lange erwartete Wahlrechtsreform verabschiedet – zum Ärger kleinerer Parteien.Foto: Screenshot Bundestag.de
Von 17. März 2023

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Der Bundestag hat nach jahrelangen Streitigkeiten eine Wahlrechtsreform nach Ideen der Ampelregierung beschlossen. Die Novelle stärkt die Macht der Parteien über ihre Landeslisten-Vorauswahl und schmälert die Chancen für Direktkandidaten in den Wahlkreisen.

Das Parlament folgte damit einer Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts, das die aktuelle Praxis der Sitzverteilung im Bundeswahlgesetz schon vor Jahren als verfassungswidrig bemängelt hatte.

Die Reform wurde mit 400 der 684 abgegebenen Stimmen angenommen. 261 Abgeordnete lehnten die Novelle ab. Es gab 23 Enthaltungen. Nicht alle 736 Parlamentarier nahmen teil. Das neue Wahlrecht soll schon mit der nächsten Bundestagswahl gelten. Diese soll regulär im September 2025 stattfinden.

Die Unionsfraktion und die Linke wollen die Durchsetzung verhindern: Sie kündigten an, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Der im Vorfeld angekündigte Vorschlag des Unionsfraktionsvorsitzenden Friedrich Merz, nach dem sich alle vor der Abstimmung lieber noch einmal zwei Wochen Bedenkzeit nehmen sollten, wurde abgeschmettert.

Friedrich Merz (CDU) im Bundestag. Foto: Screenshot Bundestag.de

CDU-Parteichef Friedrich Merz scheiterte mit seiner Bitte um zwei Wochen Bedenkzeit. Foto: Screenshot Bundestag.de

Kurzfristige Ergänzungen führten zu Unmut bei der Opposition

Die Ampelreform „zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes“ (20/5370, PDF) war vom Ausschuss für Inneres und Heimat erst am 15. März noch einmal geändert worden: Nur zwei Tage vor der Abstimmung hatte der Ausschuss zum Ärger der Oppositionsparteien unter anderem die Erhöhung der Mitgliederzahl des Bundestages von bislang 598 auf nun 630 eingearbeitet und die „Grundmandatsklausel“ gestrichen (Drucksache 20/6015 [PDF]).

Die Abschaffung von Überhang- und Ausgleichsmandaten hatte schon vorher Eingang in die Ampelvorlage gefunden – ebenfalls gegen die Interessen der Opposition.

Unterm Strich bedeutet die Reform laut „Bundestag.de“, dass künftig nicht mehr alle Direktkandidaten, die in ihren Wahlkreisen die meisten Erststimmen gewinnen, automatisch in den Bundestag einziehen dürfen. Maßgeblich ist jetzt allein die korrekte Umsetzung der Zweitstimmen bei strikter Einhaltung der Fünf-Prozent-Klausel. Nur für die Repräsentanten nationaler Minderheiten wie etwa dem „Südschleswigschen Wählerverband“ gilt eine Ausnahme.

CSU muss künftig bangen – und damit auch die CDU

Der Christdemokrat Thorsten Frei hatte seine Ablehnung des Konstrukts („Ein Wahlrecht der enttäuschten Wähler“, „Anschlag auf die Demokratie“) bei der vorgeschalteten Plenardebatte mit einem Beispiel illustriert: Selbst wenn bei einer Wahl alle 46 bayerischen Wahlkreise von Direktkandidaten der CSU gewonnen würden, säße trotzdem kein einziger Christsozialer mehr im Bundestag, wenn die CSU die Fünf-Prozent-Hürde einmal nicht überspringen würde. Bis zu neun Millionen Wählerstimmen könnten so am Ende wertlos bleiben.

Freis Einwand scheint nicht unbegründet: Bei der Wahl 2021 hatte die CSU lediglich 5,2 Prozent geholt.

Ähnlich bedroht sehen sich die Linken, denn auch sie wären nach den Regeln der Reform mit ihren zuletzt 4,9 Prozent Zweitstimmenanteil nicht mehr im Parlament vertreten.

Bei der letzten Wahl im Herbst 2021 hatte lediglich die nun gestrichene „Grundmandatsklausel“ dafür gesorgt, dass die Linkspartei Bundestagsmandate erhielt, obwohl sie die Fünf-Prozent-Hürde knapp gerissen hatte. Nach der alten Grundmandatsklausel genügte nämlich auch der Gewinn von drei Direktmandaten per Erststimme.

Das hatten die Linken mit Gesine Lötzsch, Gregor Gysi und Sören Pellmann geschafft. Und so durften nicht nur ihre drei Wahlkreissieger, sondern weitere 36 Linken-Bewerber im Plenarsaal Platz nehmen und gemeinsam eine eigene Fraktion bilden.

SPD: „Man muss beim Wahlrecht einen Tod sterben“

Die SPD verteidigte den Reformentwurf der Ampel: Dirk Wiese, der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende, betonte, dass es keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf einen Bundestagsplatz für Wahlkreisgewinner per Erststimme gebe. Das Verfassungsgericht habe im Gegenteil immer wieder betont, dass die maßgebliche Größe für die Zusammensetzung des Parlaments allein die Zweitstimme sei.

„Man muss beim Wahlrecht einen Tod sterben“, sagte Wiese. Es sei schließlich die Union gewesen, die es jahrelang versäumt habe, eine „echte Wahlrechtsreform auf den Weg zu bringen“.

 

Der SPD-Abgeordnete Dirk Wiese bei seiner rede im Bundestag am 17. März. Foto: Screenshot Bundestag.de

Der SPD-Abgeordnete Dirk Wiese: „Die Bürger erwarten diese Reform und auch, dass wir die Bereitschaft zu dieser Reform haben.“ Foto: Screenshot Bundestag.de

Nicht jedem Wahlkreissieger wird mehr ein Platz garantiert

In Zukunft erhalten also nur noch so viele Parteivertreter einen Sitz, wie es wirklich dem Zweitstimmenergebnis entspricht – und zwar unter strikter Beachtung einer Höchstgrenze von 630 Abgeordneten und der Fünf-Prozent-Hürde.

„Stellt eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreissieger, als ihrem Zweitstimmenergebnis entspricht, sollen – in der Reihenfolge ihrer Ergebnisse bei den Wahlkreisstimmen – entsprechend weniger von ihnen bei der Mandatszuteilung berücksichtigt werden“, heißt es zur Erklärung auf den Seiten des Bundestags.

Überhang- und Ausgleichsmandate passé

Die Zahl der Bundestagsabgeordneten hatte sich in den vergangenen Legislaturen immer weiter von ihrem ursprünglichen Sollwert 598 entfernt. Aktuell gibt es 736 Parlamentarier. Das war der seit 2013 geltenden Regelung zu Überhang- und Ausgleichsmandaten zu verdanken.

Diese fußte zwar ebenfalls darauf, dass die Sitzverteilung nach dem Anteil der Zweitstimmen zu bemessen ist. Hatte aber eine Partei mit ihrer Erststimme mehr Wahlkreise – und damit mehr „Direktmandate“ – gewonnen, als ihr nach Zweitstimmenergebnis zustand, durften die übrigen Parteien zusätzlich so viele Abgeordnete entsenden, bis das Kräfteverhältnis wieder stimmte. Der „Überhang“ einer Partei wurde also mit „Ausgleichsmandaten“ kompensiert.

Der alte Sollwert von 598 Abgeordneten basierte auf dem Ansatz, dass das Parlament sich je zur Hälfte aus 299 Direktmandaten (die Gewinner der 299 Wahlkreiserststimmen) und aus 299 Listenmandaten (Zweitstimmen) zusammensetzen sollte, die die Parteien vorab bestimmen konnten. Den Ausschlag für die prozentuale Zusammensetzung des Parlaments gab auch hier grundsätzlich die Zweitstimme, wie es das Bundesverfassungsgericht zwingend vorsieht.

Opposition mit eigenen Ideen erfolglos

In den Tagen vor der Abstimmung waren immer wieder Stimmen gegen die Wahlrechtsreformpläne der rot-grün-gelben Koalition laut geworden. Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) beispielsweise hält nichts davon.

„Hier wird ein System geschaffen, das auf Täuschung und Enttäuschung des Wählers ausgelegt ist. Ihm wird suggeriert, er könne seine Wahlkreiskandidaten direkt wählen – dabei wird der Kandidat am Ende womöglich gar nicht ins Parlament gelangen“, sagte Schäuble in einem Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“ (Bezahlschranke).

Er sehe in dem Gesetzentwurf der Ampel eine „Irreführung der Wähler“ und einen „gezielten Angriff auf die CSU und damit gegen eine Partei, die seit 70 Jahren unsere Demokratie im Parlament maßgeblich mitgestaltet hat“. Auch verfassungsrechtlich bestehe ein Problem. Das Vorhaben der Ampel müsse deshalb gestoppt werden. Falls dies im Parlament nicht gelänge, müsse die Union vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.

Das sehen der Unionsfraktionsvorsitzende und CDU-Chef Friedrich Merz und CSU-Chef Markus Söder genauso. Die Unionsfraktion (20/5353 [PDF]) hatte ebenso wie die AfD-Fraktion (20/5360 [PDF]) einen jeweils eigenen Reformentwurf eingereicht. Beide scheiterten.

Die Linken legten sogar drei eigene Anträge (20/5356 [PDF], 20/5357 [PDF], 20/5358 [PDF]) vor – ebenfalls erfolglos.

Wählerschaft geteilter Meinung

Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes „Forsa“ für das „Trendbarometer“ von RTL und n-tv glauben mit 64 Prozent der 1.004 Befragten knapp zwei Drittel, dass ein verkleinertes Parlament die politische Arbeit verbessern würde. Gleichwohl hätten nur 43 Prozent das Wahlrecht dafür ändern wollen. 46 Prozent seien mit dem Status quo des Wahlrechts einverstanden und lehnten eine Reform ab.



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