Im Studio der Epoch Times war Dr. Thilo Sarrazin zu Gast. „Vieles ist im Augenblick offen und in Bewegung, wobei man natürlich nie weiß, wo die Bewegung hingeht, ob sie am Ende in die richtige Richtung geht und welche Kräfte überwiegen“, sagte er uns. Der Umstand, dass die Zukunft so ungewiss sei, wäre ja einerseits immer Anlass zu Ängsten und zu Sorgen, andererseits könne es ja auch Anlass geben zur Hoffnung: „Denn was ungewiss ist, ist eben auch nicht endgültig.“
Weithin bekannt war er schon als Finanzsenator in Berlin. Später kamen Zeiten, in denen er mit eigenen Büchern auch für viel Aufregung sorgte. Gar nicht beabsichtigte Aufregung. Aber sie entstand, weil er sich traute, viele Dinge beim Namen zu nennen. Nachdem die erste Aufregung über sein neues Buch „Die Vernunft und ihre Feinde“ durch die Medien gegangen ist, haben wir ihn eingeladen, um Rückschau zu halten. Das gesamte Interview sehen Sie hier im Video. Das Gespräch führte Renate Lilge-Stodieck.
Was war Ihr erster Aufreger in dieser langen Geschichte Ihrer Veröffentlichungen?
Der erste Aufreger? Also sagen wir mal so. Ich war ja die größte Zeit meines Lebens gar keine öffentliche Person. Ich hatte zwar wichtige Staatsämter, bin als Beamter aufgestiegen, war bei Unternehmen Geschäftsführer und Vorstand, aber in eine Position, in der ich von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, kam ich eigentlich erst in relativ vorgerückten Jahren im Jahr 2002, als ich Berliner Finanzsenator wurde.
Da war ich an sich aber der Thilo Sarrazin, der ich immer schon war. Nur wurde ich jetzt irgendwie von viel weiteren Kreisen wahrgenommen. Und der Thilo Sarrazin, der ich immer schon war, hatte immer eine Tendenz, die Dinge für sich geistig auf den Punkt zu bringen und auch eine Tendenz im Gespräch mit anderen, genau diesen Punkt dann auch rüberzubringen.
Das bedeutet eben, dass ich einen Hang zu der klaren Formulierung von den Dingen hatte, die ich als wahr und richtig erkannte. Als ich Berliner Finanzsenator wurde, waren ja die Staatsfinanzen in Berlin in einem verheerenden Zustand. Das Problem war, dass die Ausgaben um etwa ein Drittel höher waren als die Einnahmen.
Die Berliner lebten in der Illusion, sie müssten praktisch jetzt in die Zukunft hineinwachsen und mehr Einnahmen generieren, indem sie mehr Ausgaben tätigten – während ich diese ganze Sache als grundlegend verfehlt ansah. In einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ sagte ich dann wenige Wochen nach meiner Amtsübernahme: „Ich habe mir das angeschaut, Berlin hat kein Einnahmeproblem, unsere Einnahmen pro Kopf sind höher als in Hamburg, Berlin hat ein Ausgabenproblem.“
Das löste in der Stadt einen parteiübergreifenden Wutschrei aus. Selbst mein Chef und Regierender Bürgermeister Wowereit schimpfte über diese völlig unsinnige Äußerung. Aber ich habe mich dann damit durchgesetzt. Ich habe dann die Berliner Politik und die Berliner Bevölkerung davon überzeugt, dass wir in der Tat ein Ausgabenproblem hatten. Erst, indem ich die Wahrheit aussprach und die Wahrheit auch ansprach, auf unterschiedlichste Arten, sodass niemand ihr entgehen konnte, gab es dann eine politische Debatte und auch politische Entscheidungen, die am Ende in die richtige Richtung führten.
Das ist ein elementares politisches Gesetz, aber auch ein elementares Lebensgesetz. Nur wenn man sich bemüht, die Wahrheit zu erkennen und sie dann auch zum Thema zu machen, kann man ja Dinge ändern.
Ja, in Ihrem Fall hatten Sie das Glück, dass Sie sehr viele Zahlen hatten. Also als Finanzsenator ist ja alles zahlen-basiert.
Das hat es einfacher gemacht, aber für viele auch schwerer. Viele mögen ja keine Zahlen.
Jetzt sprechen Sie in Ihrem neuen Buch über „Die Vernunft und Ihre Feinde“. Sie identifizieren die „Feinde der Vernunft“ als „Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens“. Können Sie dazu mehr erklären?
Was ist eine Ideologie? Ideologie ist eine geistige Handlungsanweisung. Wie ich auf die Welt schaue – jeder braucht natürlich gewisse geistige Handlungsanweisungen, jeder braucht da Standpunkte. Ohne Standpunkte kann man auch keine Fragen stellen. Überall, wo der Mensch um Erkenntnis ringt, geht es darum, dass man zwar mit bestimmten Fragen an die Dinge herangeht, dass man gleichzeitig aber schaut, dass man sich nicht ideologisch verengt.
Zum Beispiel: Der klassische Marxist oder der Kommunist sieht überall die Ausbeutung der Arbeiter, und er sieht das böse Kapital. Der klassische Markt-Ideologe sieht überall das Wirken heilsamer Marktkräfte und vernachlässigt, dass dabei viele Menschen unter die Räder geraten. Der religiöse Fanatiker unterscheidet die Welt nach den Gläubigen, nach Ungläubigen, dann nach Erleuchteten und Unerleuchteten. Er will den Ungläubigen ans Leder und möchte sie am liebsten ausrotten, damit die Wahrheit, so wie er sie sieht, die religiöse Wahrheit über alle scheint.
Diese Gefahr ideologischen Denkens, also praktisch aus einer eingeengten Perspektive von Ideen auf die Welt zu schauen und sie nur nach dieser Perspektive zu sortieren, ist dem Menschen angeboren, weil der Mensch sich seine Umwelt gerne einfach machen möchte. Er möchte auch einfache Erklärungen haben. Seiner angeborenen Neigung, die Welt verengt zu sehen, muss er immer wieder begegnen, denn nur so kommt er auf die Wahrheit.
Die Wahrheit ist natürlich vielfältig und wir sind alle irrtumsanfällig. Bei vielen Dingen, die wir jetzt für wahr halten, werden wir möglicherweise irgendwann auch erkennen, dass wir uns geirrt haben. Das ist dann wiederum ein Erkenntnisfortschritt – wenn man sich bemüht, die Welt so zu sehen, wie sie ist und dabei offenbleibt für all das, was dem eigenen Standpunkt widerspricht.
Bei diesem Buch über „Die Vernunft und ihre Feinde“ war nicht nur die Pressekonferenz sehr gut besucht, Sie wurden auch innerhalb von einem Tag überall veröffentlicht. Wie waren die Reaktionen?
Zunächst einmal muss man sagen, dass letztlich weite Teile der Presse gesagt hatten: Wenn wir Sarrazin inhaltlich nicht besiegen können, können wir doch vielleicht schauen, dass möglichst wenige Menschen von ihm erfahren. Also berichten wir nicht. Diese Strategie war nur begrenzt erfolgreich. Aber natürlich hat so etwas immer seine Auswirkungen, wenn man nicht im Fernsehen ist, wenn man nicht in den Tageszeitungen ist und so weiter. Ich glaube, es waren hier zwei Dinge.
Erstens ist das Thema, dass das verengte ideologische Denken uns auf ganz vielen Wegen in der Gesellschaft in die Irre führt, keine Frage von links oder rechts. Es gibt genauso auf der rechten Seite verengtes nationalistisches wie auf der linken Seite verengtes marxistisches Denken. Das ist etwas, was alle Ideologien haben. In dem Buch analysiere ich eine generelle Tendenz in den Gesellschaften des Westens, sich zu ideologisieren. Auch mit der Folge, dass die unterschiedlichen „Lager“ miteinander gar nicht mehr reden, sondern jedes in seinen eigenen Blasen lebt. Das ist für die Gesellschaft gefährlich, es führt aber auch geistig nicht weiter. Das beschreibe ich in dem Buch und viele – auch meiner Gesinnungsfeinde – merken, dass in der Gesellschaft etwas schief läuft.
Natürlich führt es im Feuilleton zu großer inhaltlicher Verunsicherung, dass der ganze gelebte Pazifismus Deutschlands und auch die nahezu totale und einseitige Abrüstung unserer Bundeswehr nichts daran geändert hat, dass wir mit einem aggressiven Russland umgehen müssen. Dass wir alle über Einwanderung reden und das ganz toll finden und wir aber gleichzeitig sehen, dass die Kriminalität im Lande vor allen Dingen von migrantischen jungen Männern ausgeht, führt zu vielfältiger Verunsicherung. Dazu gehört auch, dass wir offenbar mit der Einwanderung, wie wir sie haben, unsere Fachkräfte-Lücke nicht füllen können.
Wie ändern sich gesellschaftliche Strukturen und Denkstile? Sie ändern sich ja nicht, indem plötzlich Heerscharen von Kommentarschreibern und Kolumnisten bekennen, dass sie geirrt haben, sondern sie ändern sich, indem eine Verunsicherung in den Köpfen beginnt. Wenn die Verunsicherung in den Köpfen um sich greift, werden sich einige, die bisher schwiegen, stärker zu Wort melden.
Andere, die bisher die Wortführer waren, werden sich entweder ein bisschen zurückziehen oder vielleicht auch nicht mehr so gehört werden. Es sind komplizierte Prozesse, in denen sich auch dann die Meinung in der Gesellschaft ändert. Und ich nehme es durchaus so wahr, dass wir einerseits in einer Zeit leben, wo die politische Korrektheit und die Cancel Culture sowie eine völlig verfehlte Rassismusdebatte immer neuen absurden Höhepunkten zustreben. Andererseits greifen gleichzeitig auch die Verunsicherung und der Zweifel an der Gesellschaft um sich, ob das wirklich die wesentlichen Themen sind, die uns bewegen sollen.
Mit 'Deutschland schafft sich ab' und dessen 1,6 Millionen verkaufte Auflage – da kann ich sagen, dass ich einen der größten Sachbucherfolge der Nachkriegszeit erreicht habe. Da alle meine übrigen Bücher ebenfalls auf die Spiegel-Bestsellerliste kamen, kann ich nur sagen: Das war jetzt keine Eintagsfliege. Mit den Büchern, die ich schreibe, treffe ich offenbar jedes Mal wieder einen Punkt.
Wie kann man erreichen, dass sich das Parlament mit den von Ihnen angesprochenen Tatsachen beschäftigt?
Große Geister, die wissen, dass man alles hinterfragen kann und muss, sind häufig auch sehr bescheidene Leute. Der, der alles ganz genau weiß, ist meist ein oberflächlicher Denker und schrecklicher Dummkopf, und deshalb muss man auch in der Lage sein, den Standpunkt des anderen zu verstehen.
Ein Beispiel: Wenn wir jetzt in Haushaltsverhandlungen wären und mir gegenüber sitzt ein in Not geratener Bildungssenator, der Angst um seinen Posten hat und um streikende Lehrer und um die Öffentlichkeit und so weiter. Ich weiß natürlich, dass er einen fürchterlich unwirtschaftlichen Laden führt, in dem vieles nicht in Ordnung ist. Und ich muss ihm jetzt auch einiges Geld wegnehmen. Ich habe das ja immer so gemacht: Ich habe irgendwelche Positionen gesetzt, über die sich der andere unendlich aufregte. Und dann kam er ins Reden. Während er ins Reden kam, hatte ich Pause, konnte entspannt sein und habe mich dann in seine Schuhe gestellt.
Ich versetzte mich in seine Situation und fragte mich, was er braucht, um politisch zu überleben und was er nicht braucht. Während er oder sie redete und sich echauffierte, habe ich mir das überlegt. Zu einem Zeitpunkt, wo der andere völlig verzweifelt war, weil er überhaupt nicht vorankam, habe ich ihm ein Angebot gemacht, das meiner Einschätzung entsprach und besser war als seine mittlerweile extrem niedrigen Erwartungen.
Wenn er dann wieder klug war, ist er darauf eingegangen. So habe ich meine Kompromisse geschmiedet. Das heißt, ich konnte ja auch als Finanzsenator nur längere Zeit überleben, indem ich die objektiven Bedürfnisse im Land und in der Stadt bei aller Härte so bediente, dass das zivile Leben nicht gefährdet wurde.
Ich zeige im Buch aber auch ganz klar die Grenzen auf, da gibt es ein Kapitel drei, da rede ich von der Ordnung der Natur. Da zeige ich dann die Dinge, die so elementar sind, dass derjenige, der sie vernachlässigt oder verneint, letztlich auch die Wirklichkeit verfehlt und darum auch nur, soweit er in der Politik tätig ist, falsche Politik machen kann. Er richtet Unheil an, indem er beispielsweise gegen die menschliche Natur verstößt.
Das Entscheidende ist die Kommunikation. Wie bringe ich Dinge rüber, wie kann ich mein Gegenüber an dem Punkt berühren, dass es dann selbst das Interesse hat. Darum ist für mich Verständlichkeit immer das A und O. Was nicht verstanden wird, da kann alles hineininterpretiert werden und da kann sich jeder spiegeln, wie er will. Es bleibt letztlich folgenlos.
Vielen Dank.
Dieser Artikel mit Auszügen aus dem Video-Interview erschien zuerst in der Wochenzeitung der Epoch Times, Ausgabe 65 am 8. Oktober 2022.
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