„Tibet vor dem faktischen Aus?“

Ein Memorandum des ehemaligen Nationalrats und Regierungsrats Bernhard Müller in der Schweiz
Titelbild
Der Dalai Lama und Autor Dr. Bernhard Müller. (Bernhard Müller)
Epoch Times2. April 2008

Dr. Bernhard Müller, ehemaliger Nationalrat und Regierungsrat in der Schweiz, Buchautor und profunder Asienkenner, überließ der Epoch Times Deutschland ein „Memorandum“ zur Tibetfrage zur Veröffentlichung. Wir haben mit seiner Erlaubnis den Text gekürzt und durch Überschriften gegliedert.

Tibet-Memorandum von Bernhard Müller als PDF

Über eine lange Zeitspanne konnte und kann ich bei entwicklungsrelevanten und politischen Arbeitseinsätzen in Tibet, China und Nepal immer wieder neu, somit vor Ort, feststellen, dass Tibet seit seiner völker- und menschenrechtswidrigen Besetzung durch die Volksrepublik China ab dem Jahr 1949 kontinuierlich in einen Zustand allerhöchster Gefahr abgerutscht ist.

Kürzlich hat sich der Dalai Lama öffentlich wie folgt zur gegenwärtigen Lage und Situation geäußert: „Mein Volk stirbt auf seinem eigenen Territorium…“

Ich habe mich dazu entschlossen, die durch eine umfassende „Rechtshilfe“ auf über 3.000 Seiten angewachsene Dokumentation erstmals résuméartig auf wenigen Seiten zu zitieren und zu erklären. Dies erfolgt mit der Hoffnung und Absicht, alle diejenigen der unumwunden Lügen zu strafen, die behaupten, Tibet sei de facto und de jure Teil des chinesischen Staatenbundes.

Ein Blick auf Tibets Geschichte ohne Chinas Fälschungen

Die Kloster- und Universitätsstadt Labrang. (Bernhard Müller)
Die Kloster- und Universitätsstadt Labrang. (Bernhard Müller)

Im 7. Jahrhundert gelang es König Songtsen Gampo aus dem Tal der Könige, später von der neu gegründeten Stadt Lhasa aus, die zahlreichen Kleinkönigreiche Tibets zu einem recht gut strukturierten und organisierten Königreich zu vereinigen. Tibet wurde in Zentralasien sogar zur respektierten und nicht selten gefürchteten Großmacht.

Die sogenannte Schirmherrschaft der Mongolen über Tibet von 1240-1358 wird als Folge der gefälschten Geschichtsschreibung als Fremdherrschaft abgestempelt; in Tat und Wahrheit war die als Chö-Yön-Verhältnis bezeichnete Beziehung eine bilaterale buddhistische Institution, die für Tibet die Pflicht zur religiösen Unterweisung und Beratung des Partners und für das mongolische Reich die militärische Beistandspflicht enthielt.

Das Verhältnis basierte auf der „Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung zweier Länder“. So trat der 5. Dalai Lama mit einer neuen achtenswerten Verfassung, Gerichtsbarkeit und Gesetzgebung für das souveräne Tibet in Erscheinung, anderseits Dschingis Khan mit seiner eklatanten Entstehung eines Großreichs „zwischen St. Petersburg und Hongkong.“

Ganz anders in China: Die mongolische Yüan-Dynastie wurde 1368 gestürzt, China entledigte sich der kaiserlichen Fremdherrschaft. Hätte die gewichtige konfuzianische Beamten- und Gelehrtenschaft, als Bindeglied zwischen dem gebeutelten chinesischen Volk und den fremden Herrschern, erstaunlicherweise nicht Stärke bewiesen, wäre China kaum je fähig gewesen, sich zu befreien!

Auch die im Jahr 1720 zwischen dem 7. Dalai Lama und dem Mandschu-Kaiser vertraglich festgelegte Beziehung war ein buddhistisches Chö-Yön-Verhältnis, allerdings durch tendenziell wortbrüchige Botschafter (Ambane) in Lhasa oft verletzt. Im Gegensatz zu China, das seit 1644 während der sogenannten Qing-Dynastie von den Mandschuren erneut völlig fremdbeherrscht wurde, regierte sich Tibet nach wie vor selber.

Auf gar keinen Fall war Tibet Teil des mandschurisch fremdbeherrschten chinesischen Kaiserreichs! Hoffen wir, dass die Geschichtsfälschung korrigiert werden kann!

1913 rief Tibet die uneingeschränkte Souveränität aus

Mit der chinesischen Revolution im Jahr 1911, dem Bauernaufstand, nahm das 2.000jährige eigene und zeitweise fremdbeherrschte chinesische Kaiserreich ein abruptes Ende. Der siegreiche General Tschiang Kai-shek nahm nun bis zum Jahr 1949 Chinas Schicksal als Staatschef in die Hand. Es entstand eine diktatorisch gelenkte Republik.

Der Potala, das Wahrzeichen Tibets. (Bernhard Müller)
Der Potala, das Wahrzeichen Tibets. (Bernhard Müller)

Der 13. Dalai Lama seinerseits machte sauberen Tisch; er schickte die korrupten chinesischen Ambane nach Peking zurück, zwang die in Tibet stationierten Schutztruppen zur Kapitulation und rief im Jahr 1913 die uneingeschränkte Souveränität aus.

Aber auch die sogenannte Republik China konnte es vorerst nicht lassen, Tibet zu bekämpfen; doch im Jahr 1918 unterzeichneten China und Tibet ein Waffenstillstands- und Grenzbereinigungs-Abkommen; trotz den chinesischen Beteuerungen, dass dies kein eigentlicher Staatsvertrag gewesen sei, wird an Hand einschlägiger Akten das Gegenteil bewiesen. Wie sonst hätten England, China und Nepal, später auch Indien, im Jahr 1934 in Lhasa Botschaften errichten können? Eine Gesandtschaft/Botschaft wird ja nicht im eigenen Land, sondern nur und nur im Ausland errichtet! China verschweigt diese Tatsache bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

Im Jahr 1947 fand in Delhi die „Asian Relations Conference“ aller asiatischen Staaten statt. Tibets Staatseigenschaft, Unabhängigkeit und Souveränität wurden von keiner Seite in Frage gestellt – ganz im Gegenteil! Die Landesfahnen von Tibet und China wehten friedlich und nahe beieinander in Indien…

Maos Paukenschlag: Chinas Heer marschiert in Tibet ein

Dann der Paukenschlag im Jahr 1949: Mao Tse-tungs Truppen, nach dem „langen Marsch“, besiegten die maroden Kräfte des chinesischen Staates. Paukenschlag No. 2: Mao Tse-tungs Heere marschierten im gleichen Jahr in Tibet ein.

Trotzdem durfte Tibet immer wieder neu hoffen; im gleichen Unglücksjahr 1949 bezeichnete die Internationale Juristenkommission den chinesischen Einfall in Tibet als „schlimmste Art von Imperialismus und Kolonialismus, ausgerechnet von denjenigen verübt, welche dagegen anzukämpfen angeben“.

Die Kommission wartete in all den Jahren danach immer wieder mit Gutachten auf, welche Tibets Anspruch auf Souveränität ohne „Wenn und Aber“ unterstrichen.

Und dann zur UNO: In ihren Resolutionen von 1959, 1961 und 1965 verlangt die UNO unter anderem „die Wiederherstellung des Selbstbestimmungsrechts des tibetischen Volkes“, 1961 wörtlich: „Im Fall der chinesischen Aggression gegen Tibet geht es nicht allein um anhaltende und gravierende Verletzungen der fundamentalen Menschenrechte und Freiheiten der Tibeter, sondern auch um das Selbstbestimmungsrecht des tibetischen Staates.“

Gutachten, Resolutionen und betretenes Schweigen

Die leidige Tibetfrage kam immer wieder, irgendwann und irgendwo, aufs Tapet. Zwar stellte der wissenschaftliche Fachdienst des Deutschen Bundestages im Jahr 1987 unmissverständlich fest: „Nach der chinesischen Revolution von 1911, spätestens seit den Zwanzigerjahren, hat Tibet alle völkerrechtlichen Merkmale eines unabhängigen Staates erfüllt. … Weshalb haben die aktiven Bundeskanzler (Bundeskanzlerin) seit dem vom Deutschen Bundestagtag im Jahr 1987 eingeholten Rechtsgutachten nicht entsprechend reagiert und gehandelt?

Die von emsigem Leben strotzende Altstadt Gyantse, im Hintergrund die Stadtmauer mit dem Fort. (Bernhard Müller)
Die von emsigem Leben strotzende Altstadt Gyantse, im Hintergrund die Stadtmauer mit dem Fort. (Bernhard Müller)

Ausbeutung der Bodenschätze

Im Jahr 1989 fand in Bonn eine internationale Tibet-Anhörung statt. Die entsprechende Bonner-Erklärung zur Lage in Tibet enthält den folgenden Passus: „Wir verurteilen die anhaltende illegale Besetzung Tibets sowie umfassende systematische Verletzung der Menschenrechte, die Zerstörung der Umwelt und die übermächtige Militärpräsenz in Tibet.“ Zu diesem Hinweis auf die Umweltzerstörung in Tibet: Ich nehme für mich in Anspruch, Tibet zu kennen; dass Tibets reiche Bodenschätze seit der Invasion ruchlos, rücksichtslos, in unglaublichen Mengen zur Weiterverarbeitung und monopolistischen Vermarktung nach China abgeführt und in den regelmäßig publizierten Statistiken über die provinzialen Ein- und Ausfuhren verschwiegen werden, stellt für mich ein Gewaltverbrechen an Land und Leuten dar…

Nun bewusst der Sprung über den Atlantik: Im Jahr 1991 äußerten sich Senat und Repräsentantenhaus der USA unter anderem wie folgt (!): „Tibet hat in seiner langen Geschichte eine eigene natürliche, kulturelle und religiöse Identität bewahrt, die sich von derjenigen Chinas unterscheidet. … Nach den bestehenden Grundsätzen des Völkerrechts ist Tibet, einschließlich der in die chinesischen Provinzen Sichuan, Yünnan, Gansu und Qinghai eingegliederten Gebiete, die zu Tibet gehört haben, ein besetztes Land, dessen legitime Vertreter der Dalai Lama und die tibetische Exil-Regierung sind, wie sie vom tibetischen Volk anerkannt werden.“

Nehmen wir noch ein weiteres, unglaubliches Beispiel aus allerjüngster Zeit unter die Lupe:

Im Juli 2000 forderte das Europäische Parlament in Brüssel großmehrheitlich (!) seine Regierungen auf, „innerhalb dreier Jahre eine Lösung für Tibet anzustreben. Falls dies nicht gelingen sollte, so sei zu erwägen, den Dalai Lama und dessen Exil-Regierung als rechtmäßige Vertreter des tibetischen Volkes zu bezeichnen“. . . Und was geschah danach? Nichts, gar nichts…

Tibet vor dem Abgrund

Doch jetzt, Stichjahr 2008, bereits 59 Jahre nach Chinas Husarenstreich, stellen wir fest, dass alle Bemühungen gescheitert sind, Tibet durch rechtskonformes Vorgehen in die Freiheit zurückzuführen. Von ganz besonderer Tragik ist ferner die Tatsache, dass selbst die handstreichartige Einverleibung von Tibets Osten in chinesische Provinzen im Jahr 1965 ungesühnt geblieben ist!

Und sagen wir es klar und deutlich: Völlig unverständlich, ja, mit Blick auf die UNO, die EU, praktisch alle Mitglieder der Staatengemeinschaft, inklusive die Schweiz, katastrophal, dass Tibet infolge zunehmender Ignoranz und Tatenlosigkeit „der übrigen Welt“ vor dem Abgrund steht.

Zum Schluss: Die Hoffnung ist groß, dass diese Kurzdarstellung zur leidigen Tibetfrage von Politikern, den Medien, letztlich von allen dem Völkerrecht, den Menschenrechts-Konventionen, der Rechtschaffenheit, dem Anstand und nicht zuletzt der Liebe zum unsäglich leidenden tibetischen Volk verpflichteten Menschen aufgenommen und mit „Herz, Kopf und Hand“ entsprechend in die Tat umgesetzt wird. Es ist niemals zu spät, das Gute zu wollen und das Böse zu minimieren…

Tibet Memorandum von Bernhard Müller als PDF

Zur Person:
Dr. Bernhard Müller, Ökonom und Verhaltensbiologe, wirkte ab 1962 zunächst als Chef der schweizerischen Landwirtschafts- und Talentwicklungsprojekte im Himalajakönigreich Nepal und in der Folge auch als Experte in Tibet, China und Nordindien. Während 16 Jahren war Bernhard Müller bernischer Volkswirtschaftsdirektor und Nationalrat sowie Präsident der Schweizerischen Volkswirtschaftsdirektorenkonferenz und des Schweizerischen Tourismus-Verbandes.

Text erschienen in Epoch Times Deutschland Nr. 14/08

 

Leserbriefe

Dr. Bernhard Müller hat eigentlich alles gesagt, was über Tibet heute zu sagen ist. Ich möchte nur noch hinzufügen, daß ich eine internationale Untersuchungskommission der EU vorschlage, die die Situation der Menschenrechte während der olympischen Spiele 2008 zu untersuchen hat.

Christian Thomas Kohl



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