„Präzisionsunterdrückung“: Die Doppelstrategie hinter Chinas Corona-Lockerungen

China lockert seine Corona-Politik inmitten ansteigender Fallzahlen. Warum? China-Experten warnen vor einem Schachzug, dem eine umfassende Verfolgung der Teilnehmer der Corona-Proteste folgen werde. Eine Analyse.
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Symbolbild.Foto: Kevin Frayer/Getty Images
Von 7. Dezember 2022

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Befindet sich China im Wandel? Ja und nein. Nein, wenn man auf eine Veränderung zu mehr Demokratie und Freiheit durch die herrschende Kommunistische Partei hofft – und ja, wenn die Straßenbewegung der „White Paper Revolution“ nach der Lockdown-Brandkatastrophe in der Uiguren-Hauptstadt Ürümqi etwas entfacht hat, das es seit den Studentenprotesten von 1989 in China nicht mehr gegeben hatte. Der Funke der Freiheit ist erwacht.

Oberflächlich gesehen scheint es so, dass sich das Regime nach den Protesten auf Lockerungen bei den harschen Corona-Maßnahmen seiner Null-COVID-Politik eingelassen hat, wie etwa in Peking, Guangzhou, Tianjin, Chengdu und andere Orten. China-Experten befürchten jedoch eine Doppelstrategie der KPC – und dass die Zugeständnisse von einer sogenannten „Präzisionsunterdrückung“ begleitet werden.

Lockerungen mit Hintergedanken

Der öffentliche Verkehr in Peking wird für die Bürger wieder einfacher. Seit dem 5. Dezember fordern die Mitarbeiter von Pekings Bussen und U-Bahnen keine 48 Stunden gültige Zertifikate für einen negativen Corona-Test mehr von den Passagieren. Auch die verschiedenen Gesundheitseinrichtungen der Hauptstadt verlangen von den Patienten keine solchen Tests mehr. Vielerorts wurde der Geschäftsbetrieb wieder aufgenommen, in Shoppingmalls wie Beijing Badaling Outlets, Chaoyang Joy City und großen Supermärkten.

Auch in der südchinesischen Provinz Guangdong wurden Lockerungen eingeleitet. In der zuletzt vom Coronavirus stark heimgesuchten Provinzhauptstadt Guangzhou (Kanton) und in der bedeutenden Wirtschaftsmetropole Shenzhen – beide vor den Toren Hongkongs – wurden die Testzertifikate für Busse, U-Bahnen und Taxis et cetera ab dem 3. Dezember nicht mehr kontrolliert.

In Tianjin, bei Peking, wurde am 2. Dezember der städtische Verkehr gelockert. Die Tianjin-Metro verzichtet seither auf das 72-Stunden-Corona-Zertifikat. In der südwestchinesischen Metropole Chengdu können die Menschen mit ihrem Gesundheitscode die Gemeinden betreten und verlassen. In der mittelchinesischen Provinzhauptstadt Zhengzhou öffneten nicht nur Supermärkte, sondern auch Gemüsemärkte, Friseurläden, Kinos, Restaurants, Turnhallen und Bibliotheken.

Allerdings: Die Staatsnachrichtenagentur „Xinhua“ (Chinese News Agency), das Sprachrohr der herrschenden Kommunistischen Partei, meldete am 3. Dezember die Anpassung der Corona-Maßnahmen in vielen Orten Chinas, erklärte jedoch dazu, dass „Anpassung nicht dasselbe ist wie ‚Liberalisierung‘“. Viele Orte würden immer noch die von der KPC im November erlassenen 20 Maßnahmen zur Epidemie-Prävention umsetzen.

Trickreiche Strategien – umfassende Unterdrückung

Der in den USA ansässige China-Experte Wang He sagte der chinesischsprachigen Epoch Times in einem Interview am 4. Dezember, dass er glaube, dass die KPC eine zweiseitige Strategie verfolge: einerseits sogenannte Zugeständnisse bei den Corona-Maßnahmen im Einklang mit den 20 Maßnahmen der Partei und andererseits die Verstärkung der Unterdrückung der Protestbewegung. Wang He: „Die 20 Artikel kamen zuerst und die ‚White-Paper-Bewegung‘ kam später, aber es gibt große Unterschiede in der Umsetzung der 20 Artikel im ganzen Land.“ Das bedeute, dass die KPC die Verantwortung und die Entscheidungen auf die lokalen Regierungen verlagert habe. Diese müssten nun herausfinden, was die oberste Regierung wolle. Das sei das Gleiche wie vorher.

„Aber auf der anderen Seite hat die KPC die Unterdrückung verstärkt, Prävention und Kontrolle verstärkt, und die Polizei ist auf die Straße gegangen, und einige Menschen wurden festgenommen.“ Für die Entwicklung der „White-Paper-Bewegung“ sagte Wang, dass man derzeit noch nicht sehen könne, wie weit die Bewegung gehen und ob es noch weitere groß angelegte Proteste geben werde. Die KPC sei jedenfalls beunruhigt und marschiere im großen Stil auf. Wang verwies dazu auf eine Sitzung des KPC-Komitees für Politik und Recht am 28. November, auf der die „Oberhäupter“ verschiedener Provinzen und Städte persönlich Stellung genommen hätten. Dies deute darauf hin, dass die Partei dem Thema höchste Priorität einräume, als ob sie einem großen Feind gegenüberstehe. Es sei schwer zu sagen, ob sie umfangreiche Zugeständnisse machen werde.

Wang He glaubt eher, dass die Partei ein paar „alte Methoden“ anwenden werde, um die „White-Paper-Bewegung“ zu unterdrücken. Er glaubt, dass die KPC die „alte Routine“ anwenden wird: „Sie will ein paar prominente sogenannte Organisatoren und Planer verhaften, das heißt, um an ihnen ein Exempel zu statuieren.“ Das habe die Partei schon immer so gemacht. Jetzt seien aber die Kapazitäten zur Überwachung der Menschen viel leistungsfähiger als in der Vergangenheit. Wenn die Zielgruppe ins Visier genommen werde, sei es für die Partei fast transparent, was die andere Seite tue.

Präzise Verfolgung statt Panzer

Ähnlich äußerte sich Zhang Tianliang, ein chinesischer Polit-Kommentator in den Vereinigten Staaten. In seiner YouTube-Sendung am 3. Dezember verwies Zhang nach Angaben der chinesischsprachigen Epoch Times darauf, dass die schrittweise Freigabe verschiedener Teile Chinas ein „weicher“ Schachzug der KPC sei, um die Lage durch einen begrenzten Kompromiss vorübergehend zu beruhigen. Doch die Vergeltung der Partei werde kommen.

Zhang halte es zwar für unwahrscheinlich, dass die Partei wieder Panzer zur Unterdrückung der Menschen auf die Straße schicken werde (wie 1989), sie aber eine „Präzisionsunterdrückung“ anwenden werde. Zhang berichtete nach Angaben von „Voice of America“ vom 3. Dezember, dass die Polizei der KPC drei Methoden eingesetzt habe, um herauszufinden, wer an den Protesten teilgenommen habe: Gesichtserkennung, Informationen über Mobiltelefone und Informanten.

Verhaften, verurteilen und im TV vorführen

Bereits am 30. November sagte Tang Jingyuan, ein ebenfalls in den USA lebender China-Experte, der Epoch Times im Interview, dass die KPC die Polizei, die Bewaffnete Polizei und Spezialeinheiten einsetzen könne, um die sogenannte „Stabilität“ aufrechtzuerhalten. Die KPC könnte sich nach Angaben von Tang auf „Big Data, die Gesichtserkennung und ihre verschiedenen Überwachungsmittel stützen“.

Technisch gesehen sei es für die Partei nicht allzu schwierig, die meisten der an den Protesten beteiligten Personen zu ermitteln und ins Visier zu nehmen. „Ich denke, sie können sie verhaften, vor Gericht stellen, verurteilen und sogar im Fernsehen dazu bringen, ihre Schuld zu bekennen.“ Laut Tang werde auf diese Weise zum einen eine abschreckende Wirkung erzielt, zum anderen könne sich die Partei dadurch eine Legitimation für die Repressionen verschaffen.

42 US-Senatoren warnen China

Angesichts der drohenden Repressionen gegen die mutigen Teilnehmer der jüngsten Proteste in ganz China schickte eine überparteiliche Gruppe von 42 US-Senatoren am 1. Dezember einen Brief an Qin Gang, den chinesischen Botschafter in den USA. Darin warnten sie die Kommunistische Partei Chinas eindringlich davor, „das gewaltsame Vorgehen gegen friedliche Demonstranten, die einfach mehr Freiheit wollen“ zu wiederholen (wie 1989). Man beobachte die Proteste und die Reaktion der Partei darauf sehr genau.

Die „White-Paper-Bewegung“ entstand, nachdem in China viele Kundgebungen abgehalten worden waren, um der Opfer des Feuers in Ürümqi (Xinjiang) am 24. November zu gedenken. Es folgten weitere Proteste und Demonstrationen gegen die Null-COVID-Politik des Regimes. Weil die Demonstranten vielerorts ein leeres Blatt Papier in der Hand hielten und damit die KPC beschuldigten, die Sprache zu kontrollieren, wurde sie die „White-Paper-Bewegung“ genannt – die bisher größte Protestdemonstration in China seit der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 auf dem Tian’anmen-Platz in Peking.



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