Musiker und Dirigenten auf Augenhöhe

Mit dem „Kritischen Orchester®“ gibt es für junge Dirigenten die einmalige Möglichkeit, von Rückmeldungen der Musiker zu lernen. Voraussetzung für die Lebendigkeit des Projektes ist die Art und Weise des Umgangs miteinander.
Titelbild
Aleksandra Melaniuk, Finalistin, schätzte die freundliche und inspirierende Atmosphäre der Werkstatt Kritisches Orchester.Foto: Kai Bienert
Von 16. März 2023

Sonntagnachmittag, milde Frühlingssonne, im Herzen von Berlin. Es ist der 12. März 2023. Gegenüber des Berliner Schlosses mit Humboldtforum die Hochschule für Musik „Hanns Eisler“. Wer nicht eingeweiht ist, vermutet kaum, welch außergewöhnliche Veranstaltung dort im zweiten Obergeschoss im klangvollen Krönungskutschensaal stattfindet. Laut Pressemitteilung trifft sich dort das „weltweit einzige Kritische Orchester“.

Was verbirgt sich hinter diesem etwas spröden Namen? Eine ganze Welt. Musiker und angehende Dirigenten begeben sich gemeinsam auf neues Terrain, und das nun schon zum 19. Mal. Am 1. Dezember 2002 gab es den Startschuss zu dieser experimentellen Form der Zusammenarbeit im Bereich der klassischen Musik.

Ungenutztes Potenzial

Der zündende Funke kam von Klaus Harnisch. Er war 1990 Mitgründer des Dirigentenforums (heute Forum Dirigieren) und fing im Rahmen seiner Arbeit über fast ein ganzes Jahrzehnt Äußerungen der Musiker auf. Ihm wurde das ungeheure Potenzial bewusst, welches in der Rückmeldung der Musiker an den Dirigenten liegt. Zumal die heutige hoch qualifizierte Ausbildung von Orchestermusikern an deutschen Musikhochschulen der des Dirigenten in nichts nachsteht.

Diese Beobachtung reifte bei Harnisch, studierter Regisseur für Musiktheater, zu der Idee des Kritischen Orchesters. Einem Orchester also, welches die Einbahnstraße vom Dirigenten zu den Musikern verlässt. Hier geben die Musiker jungen Dirigenten am Anfang Ihrer Berufslaufbahn wertvolle Hinweise. Bei seiner Verabschiedung vom Dirigentenforum 1999 stellte Harnisch diese Idee vor. Doch es brauchte noch drei Jahre, die Idee Wirklichkeit werden zu lassen. Und den richtigen Menschen.

Diesen fand Harnisch in Prof. Christhard Gössling, Soloposaunist der Berliner Philharmoniker und zum damaligen Zeitpunkt Rektor der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“. Zwei weitere Musiker kamen hinzu:  Michael Sanderling, damals Solocellist des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin und Professor für Violoncello an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main, sowie Leon Spierer, langjähriger 1. Konzertmeister der Berliner Philharmoniker.

Woher kommt das Orchester?

Danach begann die eigentliche Arbeit, erinnert sich Harnisch. Bundesweit wurde in großen Orchestern gefragt, wer Interesse hätte, die Doppelfunktion des Musikers und Mentors zu übernehmen. Und damit auch aus der gesicherten Position des Dirigatempfängers herauszutreten und Verantwortung zu übernehmen. Inzwischen reihen sich in der 2018 erschienen Chronik des Kritischen Orchesters Hunderte von Namen aneinander, die sich über die Jahre in wechselnder Besetzung zu einem Orchester der besonderen Art formierten. Allein bis 2015 lassen sich 507 Musikerinnen und Musiker zählen.

Rund 35 hoch motivierte, für diesen Zweck ehrenamtlich spielende Profimusiker haben auch dieses Wochenende zusammengefunden. Generationsübergreifend. Gut zwei Drittel Musiker mit 30, 40 Jahren Berufserfahrung oder auch mehr, einige schon im Ruhestand. Daneben auch junge Gesichter, Musiker, die am Anfang Ihrer Laufbahn stehen. Alle stellen sich drei Tage lang zur Verfügung, konzentriert mit den Dirigenten, diese erst zwischen 22 und 30 Jahren alt, zu arbeiten.

„Das ist der frische Wind, den wir in der klassischen Musik brauchen“, so William Becerra, einer der beiden Hornisten, die dieses Jahr im Kritischen Orchester mitwirkten. Es mache Freude, die Entwicklungsschritte der nachkommenden Generation an Dirigenten zu sehen und daran mitzugestalten. Es sei dieser Geist des gemeinsamen Erarbeitens eines Stückes, der beflügelt. Konstruktive Rückmeldung statt destruktiver Unzufriedenheit hinter vorgehaltener Hand.

Die Kommunikation zwischen Musikern und Dirigent muss glücken. Geigerin Katharina Ginkel weiß, wie wichtig dafür ein freundliches Feedback ist. Sie – ihr Mann selbst Dirigent – möchte dafür helfend zur Seite stehen, damit junge Menschen am Dirigentenpult von Anfang an in eine gute Richtung starten.

Eine Arbeitsatmosphäre, die durch Vertrauen geprägt ist

Beethovens 4. Symphonie B-Dur, opus 60, 3. Satz. Alle Augen des Orchesters richten sich auf den jungen Dirigenten, seine Arme geben den Impuls zu beginnen. Nach mehreren Takten unterbricht das Spiel. Ein Musiker merkt an, dass ein fortissimo vom Orchester auch nur bis zum gewünschten Punkt gehalten werden kann, wenn die Körperspannung des Dirigenten dies auch bis dorthin zeige, und sich nicht vier Takte vorher schon auflöse. 

Geduldig, je nach Temperament unterschiedlich, gelingt es den Dirigenten die Einwürfe aufzunehmen. Ein Austausch, der sich an diesem Nachmittag in verschiedenen Facetten wiederholt. Und bereitwillig von allen getragen wird. 

Seit 2014 ist Lothar Strauß künstlerischer Leiter des Projekts und trägt Verantwortung dafür, die Rückmeldungen des Orchesters auf einem respektvollen, konstruktiven Niveau zu halten. Seine Motivation der Mitarbeit speist sich aus dem Willen, den Arbeitsprozess zwischen Musikern und Dirigenten in einen guten Kreislauf zu bringen.

„Sie müssen wissen, welche Klänge möglich sind, damit Sie sie von uns fordern können“, wird Strauß in der Chronik des kritischen Orchesters zitiert. Und sein Vergleich eines professionellen Orchesters mit einem Formel-1-Auto bringt dies in ein Bild. „Es kann sehr schnell fahren. Wenn aber ein Fahrer drin sitzt, der das Potential nicht ausschöpfen kann, ist dies ziemlich unbefriedigend, sowohl für das Orchester, als auch für das Publikum“, erläutert er mit einem Lachen.

Seit 1984 ist Lothar Strauß 1. Konzertmeister an der Staatsoper Unter den Linden. Mit 22 Jahren, noch während seines Studiums, wurde er für dieses Amt ausgewählt. Seither führte ihn seine Konzerttätigkeit rund um den Globus. Er arbeitete mit berühmten Dirigenten wie Daniel Barenboim und Sir Simon Rattle und hat Professuren in Wien und Berlin inne.

Pure Selbstdarstellung und Zynismus sind tabu

Das Projekt Kritisches Orchester zweifle nicht den Wert der Hierarchie an, stellt Strauß klar. Jedes Schiff brauche einen Kapitän. Doch die Qualität des Kapitäns kann sich besser entwickeln, wenn er frühzeitig mit „empathischer Ehrlichkeit“ so Strauß, seine Arbeit gespiegelt bekomme. Und der Kapitän respektive Dirigent sich bewusst ist, dass für ein gutes Zusammenspiel wie bei einem Uhrwerk jedes Einzelteil nötig ist.

Dass für einen solchen Arbeitsansatz gegenseitiger Respekt die Voraussetzung ist, versteht sich von selbst. Dies mag auch ein Grund für die ungebrochen hohe Attraktivität der Dirigierwerkstatt sein. Dabei sind keine Preisgelder zu gewinnen. Was vergeben wird, ist Zeit, wertvolle Zeit mit dem Orchester, die sich von der 1. bis zur 3. Runde auf 40 Minuten pro Dirigent steigert.

Vom Kooperationspartner Deutscher Musikrat international verbreitet und gut organisiert, kamen dieses Jahr aus 37 Nationen 130 Bewerbungen. Davon wurden sieben Teilnehmer per Video ausgewählt, vier Stipendiaten des Forums Dirigieren kamen hinzu. Am dritten Tag in der letzten Runde blieben fünf Dirigenten, die öffentlich im fast bis auf den letzten Platz besetzten Krönungskutschensaal ihr Zwiegespräch mit den Musikern zeigen und verbessern konnten.

Wenn man ins Wasser kommt, lernt man schwimmen

Aleksandra Melaniuk, eine der fünf Finalisten, war erfüllt von der Intensität der fruchtbaren Zusammenarbeit. Sie schätze die zielführenden und dabei freundlichen Kommentare der Musiker. „Sie ließen mich nicht mit dem Gefühl zurück, ungenügend oder unprofessionell zu sein, vielmehr fühlte ich mich inspiriert, an bestimmten Dingen weiter zu arbeiten und mich zu verbessern“, so die 22-jährige Jung-Dirigentin aus Polen.

Der renommierte Dirigent Dr. Johannes Wildner stellte sich dieses Jahr als Mentor für den Nachwuchs zur Verfügung. In langen Gesprächen bei Klavierproben wurden wertvolle und interessante Erfahrungen weitergegeben.

Doch die unmittelbare Interaktion mit dem Orchester ist unersetzlich, bestätigt David Fernández Caravaca, der mit Kyrian Friedenberg, Artem Lonhinov und Aurel Dawidiuk auch ins Finale einzog. Nur die Musiker selbst können schließlich rückmelden, ob das Gewünschte – sei es höheres Tempo oder eine dunklere Klangfarbe – in der nonverbalen Sprache des Dirigenten eindeutig genug war, um dechiffriert werden zu können.

Wildner würde jederzeit wieder seine Unterstützung anbieten, habe doch auch er noch Neues dazugelernt, gesteht er halb erstaunt, halb amüsiert. Kritik – in gütiger Form – hat sich als positiver Treibstoff erwiesen.



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