Erinnerungen an Tiananmen und die Friedensbewegung in der DDR

Rainer Eppelmann war Minister für Verteidigung und Abrüstung in der ersten und letzten frei gewählten DDR-Regierung vor der Wiedervereinigung, im Kabinett de Maizière. Heute ist er Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Anlässlich des 20. Jahrestages des Tiananmen-Massakers sprach die Epoch Times mit dem ehemaligen evangelischen Pfarrer.
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"Das hat uns natürlich zunächst große Hoffnungen gemacht, hat unsere eigenen Hoffnungen verstärkt." (AFP)
Epoch Times4. Juni 2009

Epoch Times: Können Sie sich noch daran erinnern wie Sie damals vom Tiananmen-Massaker erfahren haben?

Rainer Eppelmann: Ja, da kann ich mich noch sehr genau dran erinnern, das war etwas, das mich sehr bewegt hat. Wir hatten ja schon vorher mitbekommen, dass die Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens demonstrierten und da nicht wieder weg gingen. Das wurde auch über west-deutsches Fernsehen in die DDR ausgestrahlt. Von daher waren wir darüber informiert, dass nicht nur in Polen, in der Tschechoslowakei und in Ungarn, und ein bisschen auch in der DDR und in der Sowjetunion, sondern nun auch in der Volksrepublik China die Menschen auf die Straße gingen und sagten: „Schluss mit der Diktatur!“

Das hat uns natürlich zunächst große Hoffnungen gemacht, hat unsere eigenen Hoffnungen verstärkt, dass wir auf dem richtigen Weg waren und jetzt offensichtlich die Zeit reif zu sein schien, etwas zu verändern, zu mehr Demokratie hin. Umso größer war dann der Schreck, als wir feststellen mussten, auf welch brutale Art und Weise das von den Regierenden in der Volksrepublik China unterdrückt wurde. Es standen ja auf einmal öffentlich Tausende da und sagten: „Wir sind nicht mehr damit einverstanden, was in unserem Land passiert, was ihr zu verantworten habt.“

Ich erinnerte mich an Erzählungen meines Vaters, wie sich die Regierenden der DDR am 17. Juni 1953 uns gegenüber verhalten hatten, indem sie sowjetische Panzer zu Hilfe riefen und dass dann diese sowjetischen Panzer gegen unbewaffnete Demonstranten losgingen. Die Demonstranten hakten sich unter, weil sie meinten, die Panzer würden dann anhalten, was sie aber nicht machten, stattdessen verletzten sie die Menschen oder töteten sie.

Und auf eine genauso grausame Art und Weise ist das eben auch auf dem Platz des Himmlischen Friedens passiert, das ist uns gewaltig in die Knochen gegangen. So sehr, dass uns das immer noch gegenwärtig war, als wir im Herbst 1989 dann selber auf die Straße gingen. Wir hofften zwar immer, dass unsere Regierenden das in Europa nicht mehr wagen würden, was sich die Regierungschefs in Peking getraut hatten, aber eine Garantie hatten wir dafür natürlich nicht.

Wir dachten dann auch an die Studenten und Studentinnen, die da so fürchterlich behandelt wurden. In der Kirche, in der ich damals Pfarrer war, in der Samariter-Gemeinde in Berlin Friedrichshain, wurde der meines Wissens einzige Gedenk- und Trauergottesdienst in Berlin für die Umgebrachten veranstaltet.

Epoch Times: Wann war das, wissen Sie das noch?

Eppelmann: Den Tag kann ich Ihnen jetzt nicht mehr genau sagen, unmittelbar danach jedenfalls, wir brauchten ein paar Tage Zeit, um das vorzubereiten. Da waren nicht nur Menschen unseres Friedenskreises anwesend, sondern auch aus anderen Friedenskreisen, da hatte noch die Mission der evangelischen Kirche mitgeholfen. Das war ein sehr, sehr gut besuchter Gottesdienst. Vor unserer Kirche gab es Metalltore, die hatten wir geschlossen und dafür die hölzernen Tore der Kirche offen gelassen, sodass man in den Vorraum blicken konnte.

Wir hatten große Blumengebinde mit weißen Blüten aufgestellt, als Farbe der Trauer. Zum einen war das ein Gottesdienst und zum anderen, wenn sie so wollen, ein Stück Demonstration, wortlose Demonstration, mit den Blumen, die da noch tagelang standen, bis sie verwelkt waren.

Ich kann mich noch erinnern, dass während des Gottesdienstes hinter der Kirche ein LKW stand, dessen Ladefläche verdeckt war. Offensichtlich war der vom Ministerium für Staatssicherheit dort abgestellt worden, er hatte Pflastersteine geladen. Die Staatssicherheit hatte damals offensichtlich überlegt, dass sie, wenn sie eine Chance gehabt hätte, gewalttätig geworden wäre. Das hat uns in besonderer Weise betroffen gemacht. Zu der Zeit war gerade Egon Krenz der Chef, weil Honecker erkrankt war. Der hatte ja jubelnd die chinesische Regierung gefeiert, weil sie mit den konterrevolutionären Studenten so umgegangen ist. Zum Glück hat ihn wenige Monate später sein Schicksal ereilt.

"To be or not to be" (AFP)"To be or not to be" (AFP)

Epoch Times: Können Sie sich noch daran erinnern wie viele Leute an diesem Gottesdienst teilgenommen haben?

Eppelmann: Wir haben sie nicht gezählt, aber die Kirche war voll, das müssen 800-1000 Menschen gewesen sein.

Epoch Times: Das war ja sehr mutig, hatte die Staatssicherheit vorher keine Warnungen herausgegeben?

Eppelmann: Nein, selbst der LKW, von dem ich erzählte, der stand nicht vor der Kirchentür, sondern hinten. Wir haben das nur durch Zufall bemerkt. Das trauten sie sich dann zu der Zeit offensichtlich schon nicht mehr. Wir hatten einen Monat vorher ihren Wahlbetrug aufgedeckt.

Ich weiß nicht, ob Ihnen das bekannt ist, aber bei den sogenannten Wahlen zu den Kommunalparlamenten, Anfang Mai hatten wir mitgezählt. Die Auszählung in den Wahllokalen musste nach dem Wahlgesetz der DDR öffentlich sein und wir hatten in fast allen Wahllokalen mitgezählt und als am nächsten Tag dann die offiziellen Zahlen bekannt gegeben wurden, konnten wir beweisen, dass betrogen wurde.

Epoch Times: Können Sie sich daran erinnern, wie Sie damals, an jenem Abend, vom Tiananmen-Massaker erfahren haben, durch Radio oder durch Fernsehen?

Eppelmann: Durchs Fernsehen, ja ja. Ich sprach letzte Woche mit Herrn Nooke und er hat gesagt, dass er in der Sofienkirche war und es über das Radio gehört hatte.

Ich selber war zuhause und habe es im Fernsehen mitgekriegt. Ich meine noch, einen einzelnen Studenten gesehen zu haben, der den Panzern entgegen trat und versuchte, sie aufzuhalten. Sie sind zunächst auch stehen geblieben, dann aber sind sie weiter gerollt.

Epoch Times: Wissen Sie noch, was Sie dachten, als Sie diese Bilder sahen?

Eppelmann: Ich war ganz traurig und wütend zugleich und hatte auch ein bisschen die bange Frage: Wird man sich in Ostberlin genauso verhalten wie in Peking? Wir waren ja in einer vergleichbaren Situation.

Epoch Times: Was war die Hauptbotschaft des Gottesdienstes?

Eppelmann: Im Grunde, darauf hatten wir uns ja inzwischen geeinigt, zwei Worte: Keine Gewalt. Wir hatten eine gemeinsame Verantwortung für die Gesellschaft in der wir lebten, die Regierung und die Regierten.

Die Regierten, also die Studenten in Peking, hatten sich in die gesellschaftlichen Prozesse gewaltfrei eingemischt, sehr wünschenswert. Eine Gesellschaft kann, im Grunde genommen, bloß vom Engagement ihrer Bürger leben, das hatten die Studenten auf eine vorbildliche Art und Weise gezeigt und die Regierung hat ihrerseits katastrophal versagt.

Epoch Times: Versagen – ist das das passende Wort?

Eppelmann: Ja. Die haben versagt.

Epoch Times: Was würden sie über die Studentenbewegung, die niedergeschlagen wurde, sagen? Hat sie eine Rolle im Prozess der Demokratisierung der Ostblock-Länder gespielt?

Eppelmann: Sicher nicht so unmittelbar, sagen wir mal wie Solidarność oder Charta 77 in der Tschechoslowakei. Das ist für uns in Deutschland sicher wichtiger gewesen, weil das auch schon länger lief und auch nicht ausgelöscht werden konnte, trotz mancher Inhaftierungen, die es gegeben hatte oder auch die Sache mit dem Priester Popiełuszko. Dass da ein Geistlicher regelrecht totgeschlagen wurde, tatsächlich mit Zaunlatten totgeschlagen wurde, das wirkte, weil es nah dran war, länger und intensiver, als das, was dann für ein paar Tage unser Denken und unser Beobachten beeinflusste, nämlich das was da in Peking passierte.

Das war zunächst ein ungeheuer großes Zeichen der Hoffnung: Selbst in der Volksrepublik China geht es los, das beschränkt sich also nicht nur auf Europa. Das hat natürlich Mut gemacht, dass so etwas nun also nicht nur in der DDR, in Polen und in der Tschechoslowakei, sondern sogar fernab in China passierte. Wir konnten ja bei uns immer noch davon ausgehen, dass der DDR-Bürger über westliches Fernsehen vom Leben in der Demokratie viel mitbekommen hatte. Wir mussten aber davon ausgehen, dass die meisten chinesischen Bürger vom Leben in der Demokratie überhaupt keine Ahnung hatten. Und dass die dann so gescheit gewesen sind, dass sie trotzdem sagten: „Wir sind mit dieser Diktatur nicht mehr zufrieden und nicht mehr einverstanden und wir wollen andere Verhältnisse, wir wollen mitbestimmen, was in unserem Land passiert und was mit uns passiert“, das war ein ungeheuer Mut machendes Zeichen.

Daher auch die Trauer und die Betroffenheit, als wir feststellten, auf welch altbekannte Weise die Regierung dann mit ihren Landsleuten umging. Also wir bewundern sie bis heute, diese Menschen, die den Mut hatten, da hin zu gehen und das zu tun.

Epoch Times: Sie leiten die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. In China ist das Thema Tiananmen-Massaker wie viele andere ein Tabuthema, also eine Aufarbeitung ist noch weit entfernt. Wie beurteilen Sie diesen Zustand?

Eppelmann: Ich muss zur Kenntnis nehmen, dass es bisher so ist, dass die Kommunistische Partei in China offensichtlich nicht daran denkt, über ihre eigene Geschichte selbstkritisch nachzudenken. … Und ich weiß nicht ob sie überhaupt jemals reformfähig werden, die kommunistischen Diktaturen in Mittel- und Osteuropa waren ja alle reformunfähig, deswegen mussten sie auch gehen, die Geschichte lehrt das. Wer nicht zu Bewegung und Reform fähig ist, wird früher oder später kaputt gehen.

Und das ist eben auch die Frage für die Kommunistische Partei, wenn sie nicht bereit ist, einen Weg zur Demokratie zu gehen, keine Kritik an sich selber legen kann, die eigenen Fehler nicht erkennen kann und dass es an der einen oder anderen Stelle eben doch möglicherweise Menschen oder Gruppierungen gibt, die das erfolgreicher oder besser können als sie selber. Dann werden auch sie irgendwann abtreten müssen und sie werden, wenn sie es nicht freiwillig tun, dazu gedrängt werden.

Epoch Times: Eine letzte Frage. Sie waren evangelischer Pfarrer. Warum hatte die Glaubensgemeinschaft so eine Antriebskraft in dieser Zeit, in der DDR?

Eppelmann: Das hing letztlich mit einer sogenannten Veranstaltungsverordnung, also mit einem Gesetz in der DDR zusammen. Die Veranstaltungsverordnung besagte, dass jeder Bürger der DDR eine Versammlung hätte durchführen können, eine Demonstration hätte durchführen können, er hätte diese bloß vorher bei den zuständigen Stellen der deutschen Volkspolizei anmelden müssen: Warum und mit wem er das machen will und wo sie lang gehen wollen, und, und, und. Dann kam da aber ein Satz drin vor, nämlich dass dies eigentlich die Aufgabe der Partei und der Massenorganisationen sei, so wie in der Volksrepublik China auch. Und dann stand unten, dass es eine Ausnahme gäbe: die Kirchen bräuchten ihre gottesdienstlichen Veranstaltungen nicht anzumelden. Darum war die Kirche der einzige Freiraum.

Auf diesen Gedanken kamen wir angesichts der angedrohten Nato-Nachrüstung, weil die Russen inzwischen die SS-20 zur SS-21 verbessert hatte, die sehr viel zielgenauer war und sehr viel weiter fliegen konnte. Da drohten die Nato-Länder damit, mit Cruise Missiles und Pershing-Raketen nachzurüsten um den atomaren Gleichstand wieder herzustellen [Anm. d. Nato-Doppelbeschluss 1980]. Sie haben gleichzeitig aber gesagt – und das war das Verdienst vom damaligen Kanzler Helmut Schmidt: „Wir wären bereit, die nicht zu bauen, wenn ihr eure wieder abbaut. Das kann aber nur auf dem Verhandlungsweg passieren.“ Die Sowjetunion hatte sich aber zuerst nicht auf Verhandlungen eingelassen, das klappte nachher erst unter Gorbatschow, das war aber erst 1985.

Das hatte uns auf den Weg gedrängt, innerhalb der DDR etwas dagegen zu sagen, weil die Regierenden der DDR natürlich die Haltung der Sowjetunion voll unterstützt hatten. Wir gründeten unsere Friedenskreise. Die begannen mit einer biblischen Lesung und endeten mit einem Segenswort, das heißt, vom Rahmen her waren sie eine geistliche Veranstaltung. Und da man sich nirgendwo anders in der DDR alternativ treffen konnte, kamen auch Leute zu diesen Kreisen dazu, die überhaupt nichts mit Kirche zu tun hatten.

Epoch Times: Wurde bei diesen Gottesdiensten gar nicht kontrolliert?

Eppelmann: Natürlich, die waren dabei, hörten zu, natürlich das war völlig klar, dass da auch Leute von der Staatssicherheit dabei waren. Das hatte dazu geführt, das manche Leute gar nicht zu uns kamen, weil sie sich nicht trauten oder sie gingen dann wieder, weil sie sagten: „Das halt ich nicht aus, denen sieht man ja an, dass die nur hier sind um zuzuhören und das dann hinterher zu berichten.“ Die trauten sich aber nicht, sich da einzumischen oder das zu verhindern.

Epoch Times: Herr Eppelmann, wir danken für das Gespräch.

Das Gespräch führte Lea Zhou

 



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