Abrechnung mit Chinas Zwangsabtreibungen und Ein-Kind-Politik: „Die dunkle Strasse“ von Ma Jian
Mit ziemlicher Sicherheit wird auch das neueste Werk von Ma Jian, „DIE DUNKLE STRASSE“, erschienen im Rowohlt Verlag, die chinesische Staatsführung verärgern. (Wer das Buch selbst lesen möchte: Vorsicht, Spoiler! Dieser Artikel verrät sehr viel.)
Der 1953 in Quingdao geborene chinesische Schriftsteller Ma Jian lebt seit 1999 im Londoner Exil. Viele seiner Werke sind in China verboten, weil sie „geistige Verschmutzung“ beeinhalten.
Ma Jian beschreibt die brachialen Folgen von Industrialisierung und Ökonomisierung, die seine Heimat von Jahr zu Jahr weiter zerstören. Ökologie und Menschenrechte finden keinen Platz, für Empathie gibt es schon lange keinen Raum. Der Einzelne zählt nichts, nur die von oben beherrschte Masse. Immerhin mehr als eine Milliarde Menschen. Und wer es wagt, einen Schritt aus dieser Masse herauszutreten, wird mit aller Gewalt und Brutalität zurückgestoßen und bestraft. Nicht selten endet diese Bestrafung mit dem Tod.
In der fiktiven Geschichte geht es um die junge und schöne Bäuerin Meili und ihren Mann Kongzi, einem Dorfschullehrer. Er ist ein Nachfahre des berühmten Philosophen Konfuzius, daher das Wortspiel Kong Zi, dem eigentlichen Name von Konfuzius. Das junge Paar sehnt sich neben seinem ersten Kind, einem Mädchen, nach einem Sohn, um die Genealogie des Konfuzius fortzuführen.
Da sie nicht wie per Gesetz vorgesehen fünf Jahre gewartet hatten, um das zweite Kind mit amtlicher Genehmigung zu produzieren, da ihnen die Behörden die Einkindehe vorschreiben, droht ihnen nun die Zwangsabtreibung und Zwangssterilisation. Deshalb beschließt die junge Familie zu fliehen.
Auf einem Boot schippern sie den verseuchten Jangtse entlang, und führen jahrelang ein illegales Tagelöhner- und Flussnomadenleben. Ihre Tochter Nannan wächst fortan als Illegale auf, wird nie die Möglichkeit erhalten eine staatliche Schule zu besuchen, noch erlebt sie eine unbeschwerte Kindheit.
Während dieser Reise wird den Dreien Tod, Leid und Brutalität begegnen, bestimmt und ausgeführt unter dem Kommando der Kommunistischen Partei, nur um das Milliardenvolk unter Kontrolle zu halten. Zudem stehen die Olympischen Spiele 2008 kurz bevor, und die Partei versucht alles daran setzen, nach außen hin das perfekte Bild der Volksrepublik China abzuliefern. Einer glücklichen und tüchtigen Nation. Jede schwangere Frau wird gnadenlos verfolgt und gedemütigt.
Kann sie nicht nachweisen, dass es ihr erstes Kind ist, bleiben ihr nur horrend hohe Summen, die sie als Strafe zu zahlen hat. Massen von korrupten Beamten und übergriffige Polizisten verdienen an dem Leid der anderen. Wer jedoch nicht das Geld besitzt, erlebt unter brutalsten Methoden eine Zwangsabtreibung und nicht selten die darauf folgende Zwangssterilisation.
Zudem wird jedes Hab und Gut konfisziert oder zerstört. Am Ende bleibt den Menschen nichts mehr. Mit aller Macht wird versucht, die chinesische Population unter Kontrolle zu halten.
Warum Ein-Kind-Politik?
Nach dem Machtantritt von Mao Zedong im Jahre 1949 verdoppelte sich in den folgenden 30 Jahren die Bevölkerung. Während dieser Zeit entstand die Zwei-Kind-Politik, um der explosionsartigen Bevölkerungszunahme entgegenzuwirken.
Es ging vor allem darum, Hungersnöte zu verhindern, die neben Naturkatastrophen und Kriegen jahrhundertelang die Zunahme der chinesischen Bevölkerung in Grenzen gehalten hatten.
1979/1980 führte die chinesische Regierung dann unter der Führung von Hua Guofeng die Ein-Kind-Politik ein, nachdem die Methode, die Zahl der Geburten auf zwei pro Familie zu begrenzen nicht das erwünschte Ergebnis gebracht hatte. Aber es gab auch Ausnahmeregelungen. So durften Bauernfamilien ein zweites Kind haben, wenn das Erstgeborene ein Mädchen war. Sie hatten aber fünf Jahre zu warten.
Denn keinen Erben zu haben, bedeutete den wirtschaftlichen Ruin. Das Mädchen bekam bei seiner Heirat eine Mitgift und hatte dann für die Familie des Ehemannes zu sorgen und konnte sich nicht um die eigenen Eltern kümmern.
Auch stand mittlerweile der wirtschaftliche Fortschritt im Vordergrund. China wollte um jeden Preis bei der Führung um die Weltmarktswirtschaft mithalten können, und sich nicht um eine bedrohliche Überbevölkerung kümmern.
Immer wieder geht Ma Jian genau auf dieses Problem ein, wie die chinesische Führung wirtschaftliche Interessen vor Menschenrechte setzt. Im Prinzip benutzt er die fiktive Geschichte nur, um aktuelle politische Fakten wie in einer Dokumentation wiederzugeben.
So lässt er nicht umsonst seinen Protagonisten Kongzi sagen: „Selbst der schrecklichste Kaiser in Chinas Geschichte wäre nicht auf die Idee verfallen, die Wirtschaft voranzubringen, indem er ungeborene Kinder massakrieren lässt und Stammbäume zerstört! Aber die Tyrannen von heute ermorden Millionen Babys im Jahr, ohne mit der Wimper zu zucken, und wenn ihnen eines entgeht, setzen sie den Eltern mit Geldstrafen zu und konfiszierten ihren Besitz.“
Eheleuten, die sich nicht an das neue Gesetz halten, droht eine Geldstrafe. Meili kann selber zusehen, wie Menschen willkürlich die Freiheit entzogen wird. Unter Folter werden sie gezwungen sich anzupassen, die Versklavung in Arbeits- und Umerziehungslagern erlebt sie am eigenen Leib.
All das gehört zum Arsenal des Regimes, über das Ma Jian ganz offen spricht. Der Autor hat das meiste mit eigenen Augen gesehen, sich vieles vor Ort erzählen lassen und den Rest nachgelesen.
Mehr als 300 Millionen Abtreibungen in den vergangenen 30 Jahren, viele davon waren erzwungen. 1983 war wohl ein besonders grausames Jahr laut der Statistik: 14,4 Millionen Abtreibungen und 29,7 Millionen Sterilisationen. Trotzdem ging die Geburtenrate in dem Jahr nicht signifikanter zurück als in den Jahren zuvor.
Wirtschaftliche Interessen gehen so weit, dass Babynahrung gepanscht wird, massenweise sterben Babys. Der Skandal wurde Ende der 90er weltweit bekannt.
Alles Leder, ob von Schuhen, Handschuhen oder Sofas, wurde geschreddert und dann zur Gewinnung von Protein ausgekocht, und gefälschter Babynahrung beigemischt.
Wer es doch schafft, heimlich ein zweites Kind zu gebären, verliert es dann nicht selten durch verseuchte Lebensmittel oder gepanschte Milchnahrung.
In der Praxis zeigte sich in der Realität allerdings, dass die Ein-Kind-Politik nur in den Städten weitgehend durchgesetzt werden konnte, zum Teil mit katastrophalen Folgen. Die Ein-Kind-Politik in Verbindung mit der konfuzianischen Tradition, die männliche Erblinie zu erhalten, hat zu häufigen Schwangerschaftsabbrüchen von weiblichen Embryonen und Föten geführt.
Oft wurden Mädchen einfach von ihren eigenen Eltern getötet, verkauft, weggegeben oder in Waisenhäuser gesteckt. Während ihrer Flucht erleben Meili und Kongzi immer wieder, was mit ungeborenen Kindern geschieht.
Ma Jian beschreibt eine Wirklichkeit, keine Fiktion. Alles findet sich in Zeitungen, Blogs und Foren, wird offen ausgesprochen. Er gibt dem Grauen einen Namen und inszeniert ein bedrohliches Panoptikum mit grellen Farben und seltsamen Landschaften.
Kongzi nimmt einen letzten Zug von seiner Zigarette und sagt: „Die Kommunisten, diese Schweine, haben das Vermächtnis des Konfuzius zerstört. Wohlwollen, Aufrichtigkeit, Anstand, Weisheit – die Werte, die er in Ehren gehalten hat, sind verschwunden. Wenn ein Panda schwanger wird, feiert die ganze Nation. Wird aber eine Frau schwanger, wird sie wie eine Verbrecherin behandelt. Was ist das für ein Land?“
In Ma Jians China gelten abgetriebene Föten als fruchtbarkeitssteigernde Delikatesse. Behinderte Kinder werden an Bettlerbanden verkauft, die ihnen zur Umsatzsteigerung sämtliche Knochen brechen, falls es nicht schon die Eltern getan haben. Und das entspricht den Realitäten.
Mittlerweile hat das chinesische Regime aber auch erkannt, dass es auf lange Sicht zu einem Mädchenmangel kommen wird. Damit werden viele Männer keine Frau finden, und ihre Genealogie stirbt aus. Chinas Regierung hat mit einem Verbot reagiert, welches untersagt, das Geschlecht des Ungeborenen zu bestimmen.
So müssen Ärzte und auch Eltern mit hohen Geldstrafen in Höhe eines Jahresgehalts (bis zu 30.000 Yuan), 4.600 Euro, manchmal auch mit Gefängnisstrafen rechnen, wenn sie das Geschlecht des Kindes per Ultraschall untersuchen.
In den ländlichen Regionen war und ist diese Ein- Kind- Politik nur bedingt erfolgreich. Denn hier bedeutet auch heute noch, dass viele Kinder die Garantie bieten, auch im Alter versorgt zu sein. Zumal es bisher kaum eine gesetzliche Alterssicherung gibt. Und diese Politik von oben wollen sich die einfachen Menschen auf dem Land eben nicht gefallen lassen.
DIE DUNKLE STRASSE
Und genau hier setzt Ma Jian mit seinem Roman „DIEDUNKLE STRASSE“ an. Der Roman beginnt mit dem brutalen Abschlachten von schwangeren Bäuerinnen und ihren Männern, die versuchen ihre Frauen zu schützen. Und das Ganze geschieht im Jahr 2000, also zur Milleniumswende, und nicht im Mittelalter.
Nach wie vor leben ungefähr 50 Prozent der Bevölkerung noch direkt von der Landwirtschaft, vor allem vom Ackerbau und sind von einfacher Herkunft. Und genau diese einfachen Menschen beschreibt Ma Jian und ihre dramatischen Schicksale im Verlauf eines gewaltigen wirtschaftspolitischen Umbruchs.
Während in den Städten die chinesische Industrialisierung explodiert und damit auch die Preise, und der Preis für das nackte Überleben, zeigt der Autor ein ungeschminktes, schockierendes Porträt von einfachen Menschen, die die Macht der Politik tagtäglich zu spüren bekommen. Wer versucht zu fliehen, findet sein Überleben nur im Dreck, muss auf vergifteten Gewässern leben, sich in ruinierten Landschaften durch Müllberge kämpfen, bleibt ein Getriebener und Gehetzter.
Meili muss die Familie mit Nahrung aus dem toxischen Wassern der Flüsse durchbringen. Es dampft in den Dioxinnebeln der Elektronikmüllkippen von Guangdong.
Wenn die von den Fabriken verursachte Verschmutzung besonders schlimm ist, schwimmt gelber Schaum auf dem Wasser, der Fluss führt tote Hühner und Hunde mit sich.
Fernab von den Ballungszentren Peking, Shanghai und Shenzhen erstreckt sich das riesige Gebiet als ein Reich ewiger Finsternis, das keinen Schritt über die blutigen Zeiten der Kulturrevolution hinausgekommen zu sein scheint. Das stellen Meili und Kongzi während ihrer Flucht jeden Tag fest. Die Sehnsucht nach einem friedlichen Leben wird ihnen genommen. Da helfen auch Kongzis Zitate seines großen Vorfahren nichts mehr. All die philosophischen Gedanken gehen im Gestank und Dreck der verseuchten Gebiete unter.
„Wusstest du, dass die Roten Garden in der Kulturrevolution erst das Grab des Konfuzius zertrümmert und dann die Leichen der 76. Generation seiner Nachkommen, Kong Lingyi und seiner Frau, ausgegraben und mit Spaten zerhackt haben? Das war eine Kriegserklärung gegen die chinesischen Nation.“
„Ich weiß. Sie haben zweitausend Gräber der Vorfahren zerstört. Die Leichen wurden herausgezerrt, entblößt und an Bäumen aufgehängt. Ich bin deiner Meinung, wir müssen unsere Familienehre rächen, aber nicht, indem wir eine Rebellion anzetteln. Die Zeit ist nicht reif dafür. Historisch gesehen sind Revolten in Zeiten der Not aufgeflammt. Aber heute erlaubt die Partei den Menschen, reich zu werden. Wer will jetzt noch eine Revolution?“
Wie lange ein Mensch dieses Leben erträgt, bleibt unbestimmt. Für die Protagonisten endet das bei Ma Jian mit dem Tod und der Auslöschung der Konfuzianischen Genealogie.
Der Roman handelt von der ewigen Flucht ohne Wiederkehr. Auf jeder Seite wird spürbar, nicht nur das Land gehört dem Staat, sondern der einzelne Mensch mit Leib und Seele. Jedes Fleckchen Erde wird vom Staat kontrolliert. Egal, wohin man flieht.
Und diese Flucht von Meili und Kongzi wird mehr als neun Jahre andauern. Meilis ungeborener Sohn wird gleich zu Anfang im achten Monat erst durch eine Intrauterin-Injektion durch die Bauchdecke halbtot gespritzt, dann mit der Geburtszange herausgezerrt und schließlich erdrosselt, bevor er in einem Plastiksack landet. Die Plazenta wird für den Parteisekretär reserviert. Eine Delikatesse.
„Wenn Sie nicht still sind, tragen Sie die Verantwortung, falls ein medizinischer Unfall passiert“, sagt die Frau. „Ihre Gebärmutter gehört dem Staat, ohne Genehmigung schwanger zu werden, verstößt gegen das Gesetz. Tragen Sie Ihren Fall der Regierung vor, wenn Sie möchten. Gehen Sie nach Amerika – dann sehen Sie, was die dazu sagen. Chinas Bevölkerungspolitik hat die volle Unterstützung der Vereinten Nationen. Verstehen Sie das, Sie ungebildetes Bauernweib?“
Leider bedeutet die Ungebildetheit der jungen Mädchen auch eine absolute Unaufgeklärtheit der Sexualität gegenüber. Obwohl der Staat kostenlos Kondome verteilt, den Frauen Spiralen einsetzt, bleiben die Mädchen und junge Frauen unwissend, was mit ihrem Körper eigentlich geschieht. Die Männer benutzen die Körper der Frauen als Gefäße für ihre Samen. In der Hoffnung, einen männlichen Erben zu produzieren.
„Ich bin so dumm“, sagt Yping lachend. „Ich tauge zu nichts anderem als dem Kinderkriegen. Als ich zum ersten Mal ein Kondom sah, wusste ich nicht, was das war. Ich dachte, es ist ein Stück Fischdarm, und habe es in die Suppe getan und gegessen.“
„Ich würde niemandem erlauben, mir eine Spirale einzusetzen“, sagt Xixi. „Ein Nachbar in unserem Dorf wollte bei seiner Frau die Spirale entfernen. Er hat seine Hand reingesteckt und stundenlang danach getastet und konnte sie nicht finden. Schließlich war er so frustriert, dass er ihre Gebärmutter kaputtgemacht hat.“
„Kaputt gemacht?“, fragt Meili, und sie sieht wieder das tote Gesicht von Glücksjunge vor sich.
„Unten ja, er hat einen Knallfrosch in sie reingesteckt und angezündet“, sagt Xixi, sie schlägt die Beine übereinander und wackelt mit den Zehen.
„Männer sind so versessen darauf, die Ahnenreihe fortzuführen, dass ihr Verstand aussetzt“, sagt Meili und sieht wieder zu Kongzi hinüber. Er schlägt erzürnt mit der Faust auf den Tisch und ruft: „Diese widerlichen Leute von der Behörde, dass sie es wagen, hierherzukommen und uns mit Kondomen zu überschütten.“
Das dritte Kind, das Meili ebenfalls auf der Flucht gebiert, ist wieder ein Mädchen. In seinem Wahn, nur männliche Erben produzieren zu wollen, gibt Kongzi heimlich das Kind weg. Meili verlässt die Familie, aber anstatt den Traum von einer städtischen Frau leben zu können, landet sie in einem Bordell. Als sie zur Familie zurückkehrt, lässt sie sich heimlich eine Spirale einsetzen.
Aber wieder wird sie schwanger, kann sich Kongzis nicht erwehren. Dieses vierte Kind versucht erst gar nicht auf diese Welt zu kommen. Es bleibt lieber fünf Jahre in der Gebärmutter versteckt, bis es als seltsame Totgeburt am Ende des Romans von Meili selber aus der Gebärmutter herausgezerrt wird.
Von Anfang an wird die Blickperspektive des Romans auch immer wieder aus der Sicht des Kindsgeistes wiedergegeben. Wie aus einer anderen Welt beobachtet der Kindsgeist seine Eltern, und weiß, dass er immer wieder durch Inkarnation und die ständigen Schwangerschaften zurückkehren soll. Aber nach der dritten Schwangerschaft weigert er sich, noch einmal auf diese Erde zu kommen. Dieser Prozess dauert fünf Jahre an.
Und innerhalb dieser fünf Jahre erleben Meili und ihr Mann weiterhin die Brutalität des Regimes, die Zerstörung der Umwelt, und die ewige Flucht vor der Macht der Partei.
China und die Genderfrage
Zudem ist es auch ein Abriss über die Geschlechterfrage in modernen Zeiten. Obwohl Kongzi Lehrer ist, und eigentlich aufgeklärt und gebildet sein müsste, treibt ihn der permanente Wahn in eine geistige Enge, da er unbedingt einen männlichen Nachkommen produzieren will. Er haftet an alten Traditionen und überholten Vorstellungen einer Ehe.
Als 17-Jährige heiratet Meili den jungen Kongzi. Am Anfang war sie der Auffassung, die Ehe sei für immer und die Regierung würde die Menschen beschützen und versorgen, so wie die Ehemänner früher ihre Frauen beschützten und versorgten. So hat sie es bei ihren Eltern gelernt, und bei ihren Großeltern erlebt.
Aber kaum war sie verheiratet, zerplatzten ihre naiven Vorstellungen. Sie entdeckte, dass Frauen nicht über ihren Körper bestimmen konnten: Ihre Gebärmutter und die Geschlechtsorgane sind Kampfgebiete, um deren Beherrschung Ehemänner und der Staat miteinander ringen, Gebiete, die Ehemänner für ihre eigene sexuelle Befriedigung und zur Zeugung männlicher Nachkommen benutzen und die der Staat untersucht, überwacht, beschattet und ausschabt, um seine Macht zu festigen und Angst zu verbreiten.
Das wiederholte Eindringen in die intimsten Regionen ihres Körpers hat bewirkt, dass sie jedes Gefühl für sich selbst verloren hat. Gewissheit hat sie nur darüber, dass sie eine legale Ehefrau und eine illegale Mutter ist.
So erlebt sie im 21. Jahrhundert die unentrinnbar traditionellen Geschlechterrollen.
Während Kongzi im Laufe der Zeit immer mehr an Kontur verliert, verschmutzt und sich mit Alkohol mehr oder weniger jeden Abend zudröhnt, bleibt am Ende nichts mehr von seinem Charme und seiner Intelligenz übrig.
Meili hingegen entwickelt sich zu einer fast emanzipatorischen Frau, versucht um jeden Preis einer städtischen Frau gleichzukommen.
Sie will ihr eigenes Unternehmen gründen, Geld verdienen und unabhängig werden. Schnell hat sie begriffen, dass Armut die Wurzel all ihrer Probleme ist. Denn wer Geld hat, muss keine Angst vor einer Schwangerschaft haben, denn man kann einfach die Strafe bezahlen. Hat man aber kein Geld, dann bekommt man die Härte und Brutalität der Kommunistischen Partei überall zu spüren.
Als ihr klar wurde, dass es Kongzis einziges Ziel im Leben war, sie immer wieder zu schwängern, so lange, bis sie einen Sohn zur Welt brachte, hatte sie die Befürchtung, dass ihr der Weg zum Glück für immer versperrt bleiben würde.
Durch die fast ehelichen Vergewaltigungen, die sie tagtäglich erleiden muss, kann Meili sich den Schwangerschaften nicht entziehen. Dennoch gelingt es ihr, trotz der drei Schwangerschaften, sich immer weiter in verschiedenen geschäftlichen Tätigkeiten zu engagieren und versucht sich zu emanzipieren. Aber letztendlich wird sie daran scheitern, dass sie eben nur eine Bäuerin ist, und nie wirklich den Sprung in die Stadt schaffen wird.
Ihre permanente Illegalität ermöglicht ihr nicht wirklich, sich frei und unabhängig zu bewegen. Die fünfjährige Schwangerschaft bleibt ihr großes Hindernis, und der Druck von Kongzi, dieses Kind endlich zu gebären wird ihr am Ende die Möglichkeit rauben sich von ihm zu befreien.
Ausblick auf China
Liest man zwischen den Zeilen, so wird einem klar, dass Ma Jian nicht sehr große Hoffnungen für sein Land hegt. Hierfür macht er aber auch andere Nationen mitverantwortlich. Denn kaum eine Nation profitiert nicht vom chinesischen Wachstum und seiner Wirtschaft.
Kaum eine Staatsregierung gibt nicht gerne dem chinesischen Oberhaupt lächelnd die Hand. Das Thema „Menschenrechte“ bleibt bei den meisten Gesprächen unerwähnt.
Es gibt schon sonderbare Abkommen, wenn immer mehr elektronischer Abfall aus Europa nach China verschifft werden darf. Arme chinesische Familien, die an den Flussufern hausen, bauen dann diese elektronischen Geräte auseinander und verkaufen die Einzelteile wieder weiter.
Bekannt ist, dass es über 700 verschiedene Chemikalien in den elektronischen Geräten gibt, von denen 300 schädlich für den menschlichen Körper sind. Auch Meili muss als hochschwangere Frau diverse Computer aus Deutschland auseinandernehmen.
Immer wieder wird ihr von den anderen Frauen angeraten, doch eine Atemmaske zu tragen. Die Dämpfe könnten ihr ungeborenes Kind schädigen. Wirtschaftlicher Profit um jeden Preis drängt schnell die Frage nach einer menschenunwürdigen Arbeit beiseite. Hier schaut die Partei nicht hin.
Nicht von ungefähr lässt der Autor seinen Protagonisten Kongzi sagen:
„Aber drei Dinge möchte ich sagen. Erstens, wenn ihr wirklich eine Revolte anzettelt, werdet ihr keine internationale Deckung dafür bekommen. Die Vereinigten Staaten und die UN unterstützen die chinesische Politik der Bevölkerungskontrolle uneingeschränkt. Zweitens, wenn ihr die Ein- Kind- Politik abschaffen wollt, müsstet ihr zuerst die Kommunistische Partei abschaffen, und das geht nicht ohne einen Militärputsch. In ganz China brechen jedes Jahr Zehntausende von Protesten aus, und jeder einzelne wird am Ende vom Militär niedergeschlagen. Deshalb ist dies mein dritter Punkt: lasst euch Zeit und baut ein Kontaktnetz auf. Und wenn ein nationaler Aufstand, ähnlich wie der von 1989, entsteht, dann könnt ihr das allgemeine Chaos nutzen und euren Angriff starten.“
Wohin dieser Aufstand aber damals geführt hat, ist geschichtlich bekannt.
Der Autor kann und will wohl seine Protagonisten nicht in dieser Welt leben lassen.
Während Mutters Körper ins Flussbett sinkt, befreit sich der Kindsgeist und beginnt seine lange Reise rückwärts, durch drei Inkarnationen hindurch, stromaufwärts über viele Flüsse und Wasserstraßen, zu seinem endgültigen Ruheplatz.
Kongzi drückt sein Kind fest an die Brust, er klettert die Böschung hinauf und schreitet hinein in die graue Masse von Abfall, der sich bis zum Horizont zu erstrecken scheint. Er steigt über zerbrochene Platinen, die aus dem Boden ragen wie ausgegrabene Ziegel, über herausgerissene Graphikkarten, über Kupferdrähte und silberfarbene Gehäuse von Mobiltelefonen. Er zertritt Intel- Mikrochips und kugelförmige Audioverbindungen, wankt auf vor Erschöpfung zitternden Beinen den Hügel hinauf, stapft über zerlegte Hauptplatinen und hebt das reglose Kind zum ersten Morgenlicht empor.
LESEN SIE AUCH: MA JIANG PEKING KOMA REZENSION
Ma Jian
DIE DUNKLE STRASSE
Roman
Aus dem Englischen von Susanne Höbel
Rowohlt
Gebundene Ausgabe: 496 Seiten
Verlag: Rowohlt (31. Juli 2015)
ISBN-10: 3498032399
€ 21,99
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion