Das I Ging: Chinas uraltes Orakel könnte auch heute noch von Bedeutung sein
In den 1920er-Jahren kam es in China zu Debatten zwischen der Wissenschaft und der Schule der Metaphysik. Wobei hier mit „Metaphysik“ der traditionelle chinesische Mystizismus gemeint ist. Ein Beispiel für diese Schule ist natürlich das I Ging (auch: Yijing, 易經). Zu den führenden Anhängern des I Ging gehörte Shen Yuting (沈有鼎, 1908–1989), der zugleich Bahnbrechendes im Feld der mathematischen Logik leistete.
Die damalige Debatte gilt als Fortsetzung der „Bewegung des Vierten Mai“, die aus Studentenprotesten erwuchs, die am 4. Mai 1919 in Peking stattfanden. Die Bewegung trat für intellektuelle Revolution und soziopolitische Reformen ein und drängte auf Unabhängigkeit und einen Neustart für Chinas Gesellschaft und Kultur in einer Phase, in der das Land vom Westen kontrolliert wurde.
Angesichts der Gefahr, als Nation ausgelöscht zu werden, sahen viele Intellektuelle wie Hu Shih (胡適) als einzigen Ausweg eine vollständige Anpassung an den Westen. Andere hielten dagegen, Chinas Identität ließe sich nicht dadurch bewahren, dass man die traditionelle Kultur aufgebe. Man müsse sie vielmehr stärken.
„Die Wissenden reden nicht viel, die Redenden wissen nicht viel“, besagt ein chinesisches Sprichwort. Das Ironische an dieser Debatte, bei der es angeblich um „westliche Wissenschaft gegen chinesische Metaphysik“ ging: Keiner derjenigen, die am heftigsten involviert waren, kannte sich mit Wissenschaft – oder Metaphysik – aus. Es gibt allerdings jemanden, der sowohl in der Wissenschaft bewandert war wie auch im chinesischen Mystizismus.
Shen ist nahezu vergessen. Mathematische Logik ist ein hochgradig technisches Thema, das bis heute viele Studierende vor enorme Probleme stellt. Ohne mathematische Logik jedoch hätte es keinen modernen Computer gegeben.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts suchten Mathematiker wie David Hilbert nach den Grundlagen der Mathematik. Das führte dazu, dass man sich wieder auf logische Paradoxe besann wie das Paradoxon des Epimenides („Epimenides der Kreter sagt: Alle Kreter sind Lügner.“) Die Suche nach einer logischen Grundlage der Mathematik ist ein glückliches Scheitern. Das Projekt war kein Erfolg, aber der britische Mathematiker Alan Turing entwickelte das selbstreferenzielle Wesen des logischen Paradoxons weiter zu einer „Turing-Maschine“, vom Konzept her ein Prototyp des neuzeitlichen Computers.
Shens zentraler Beitrag zur mathematischen Logik ist seine bahnbrechende Arbeit „Paradox of the Class of All Grounded Classes“, die 1953 im Journal of Symbolic Logic erschien. Mit den Einzelheiten dieser Arbeit müssen wir uns hier und jetzt nicht befassen, für uns interessant ist nur, dass Shen auch eifrig das I Ging studierte, und zwar nicht aus akademischem Interesse. Er nutzte es vielmehr als Orakel. Als er während des Zweiten Weltkriegs einmal in eine gefährliche Situation geriet, rettete ihm das I Ging sogar das Leben.
Der bekannte Historiker Qian Mu (錢穆) erzählt, dass viele berühmte chinesische Gelehrte und Professoren Ende der 1930er-Jahre, darunter auch er, in die Provinz Yunnan flohen, um den Bombenangriffen der japanischen Invasoren zu entkommen. Auf der Flucht teilte sich Qian mit Shen und anderen Gelehrten ein Haus, als ihnen das Gerücht zu Ohren kam, japanische Flugzeuge würden den Ort angreifen. Alle hätten Angst gehabt, erinnert sich Qian. Dann erklärte Shen, er werde das I Ging konsultieren und herausfinden, ob ihr Leben in Gefahr sei.
Das Ironische an der Situation: Unter den Gelehrten im Haus war Shen der einzige Wissenschaftler, bei den anderen handelte es sich um Historiker und Dichter. Die Dichter kannten sich bestens mit alten Klassikern und dem I Ging aus, aber Shen vertraute als einziger auf seine weissagerischen Kräfte. So groß war Shens Ruhm in diesem Feld, dass der Dichter und Gelehrte Wen I-do (聞一多) in einem Gedicht Shens Genauigkeit der Vorhersage pries. Seine bahnbrechende Arbeit in der mathematischen Logik dagegen wussten nur die wenigsten zu schätzen, denn selbst unter chinesischen Logikern war das mathematische Wissen begrenzt.
Als Shen das Orakel befragte, erhielt er als Antwort ein Omen. Die Hausbewohner waren alarmiert und beschlossen, sich tagsüber draußen aufzuhalten und nur nachts ins Haus zu kommen (die japanischen Flugzeuge waren vor allem tagsüber aktiv). Später erfuhren sie, dass das nahe gelegene Krankenhaus bombardiert worden war. Man sollte meinen, Shens Mitbewohner wären ihm sehr dankbar dafür gewesen, dass er ihnen das Leben gerettet hatte. Tatsächlich jedoch mochte niemand Shen, denn er war ein Exzentriker, arrogant, hatte schlechte Tischmanieren, ließ es an Körperhygiene mangeln, zählte ständig vor anderen Menschen die Münzen in seiner Börse und so weiter. Rückblickend steht zu vermuten, dass Shen Autist war. Einige Studien haben gezeigt, dass Autismus mit großen mathematischen Fähigkeiten einhergehen kann. Kurzum: Shen war ein falsch verstandenes Genie.
Wäre Shen kein mathematischer Logiker, würden wir den Umstand, dass er das I Ging befragte, vermutlich als „Aberglauben“ oder sogar „Unfug“ abtun. Einen großen Anhänger hatte das binäre System des I Ging im Philosophen Gottfried Leibniz (1646-1716). Während der „Bewegung des Vierten Mai“ ließ man das I Ging und andere alte Klassiker als nutzlos links liegen. Vergessen war, dass viele westliche Intellektuelle wie Voltaire und eben Leibniz die alte chinesische Kultur sehr geschätzt hatten.
Es wäre falsch anzunehmen, dass es einen Konflikt zwischen Wissenschaft und Mystizismus gibt. Nehmen wir als Beispiel den Physiker Brian Josephson aus Cambridge, der 1973 den Nobelpreis erhielt: Dinge, die das wissenschaftliche Establishment im Westen als „Pseudowissenschaft“ abkanzelt – transzendentale Meditation etwa, das Wasser-Gedächtnis und Parapsychologie –, seien es wert, wissenschaftlich untersucht zu werden, befand Josephson und forscht bis heute an derartigen Themen.
Viele chinesische Gelehrte studieren das I Ging wegen seiner Lebensweisheiten. Das ist die Mainstream-Herangehensweise, weil die Konfuzianer nicht begeistert von der Vorstellung sind, „übernatürliche Phänomene“ zu studieren. Oder wie es der Meister formulierte: „Warum sollte man über den Tod sprechen, wo doch die Fragen des Lebens noch gar nicht beantwortet sind?“ Shen hielt das nicht ab. Sein intuitives Verständnis des I Ging überstieg das Wissen der meisten Klassizisten deutlich.
Was können wir aus Shens Geschichte lernen? Es reicht nicht aus, alte Texte zu bewahren. Wir müssen uns mit dem grundlegenden Wesen alter Orakel befassen und begreifen, warum sie für die moderne Zeit weiterhin von Bedeutung sind.
Über den Autor:
Der Journalist Eddie Leung aus Hongkong arbeitet seit über drei Jahrzehnten für diverse Nachrichtenmedien. Seine Hauptinteressen reichen von Hongkong, internationaler Politik und Filmen bis zu Kung Fu. Er zählt zu den Pionieren von Hongkongs Internetradio.
Was ist das I Ging?:
Das I Ging ist auch als altes chinesisches Stengel- oder Münzorakel bekannt. Das dazugehörige „Buch der Wandlungen“ besteht aus den sogenannten 64 Hexagrammen und einer umfangreichen Sammlung von Texten. Früher diente es zunächst vor allem als Ratgeber für Bauern, die es in Belangen der Landwirtschaft und Fischerei befragten. Im Laufe der Jahre wurde es aber auch zunehmend als Orakel für andere Lebensfragen, als moralische Instanz und hilfreicher Ratgeber verwendet. Auch heute noch kann die Anwendung des I Ging über die Gesetzmäßigkeiten der Natur aufklären und bei wichtigen Lebensfragen helfen. Es macht Wege sichtbar, wie man im Einklang mit der Natur leben und mit dem Strom des Lebens fließen kann.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 52, vom 9. Juli 2022.
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