Chinas schrecklicher Winter des Jahres 1968 Teil III

Persönliche Erinnerungen an die Kulturrevolution in China, exklusive Memoiren für The Epoch Times. Teil III
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Von 31. Januar 2011

Yukui Liu ist Arzt für Traditionelle Chinesische Medizin und lebt heute in den Vereinigten Staaten. Die folgende Geschichte schildert seine persönlichen Erfahrungen, die seiner Mutter und seines Vaters und die mit dem chinesischen Kommunismus von der Kulturrevolution bis heute. Dieser Bericht wurde erstellt und bearbeitet, um als exklusive Memoiren in The Epoch Times veröffentlicht zu werden. Die Namen wurden geändert, um in China lebende Familienmitglieder zu schützen.

Eine Woche, nachdem mein Vater seinen Heimatort verlassen hatte, weil er fürchten musste, vom Komitee der Kulturrevolution zu Tode geprügelt zu werden, kamen die Leute des Komitees immer noch jeden Tag, um uns zu terrorisieren. Unsere Angst wuchs mit jedem Tag und meine Großmutter wurde krank und musste im Bett bleiben.

Ich, ein elfjähriger Junge, war jetzt der einzige Mann im Haus und trug eine große Verantwortung. Ich sagte mir, dass ich stark sein müsse und sprach meiner Mutter und Großmutter immer wieder Mut zu. Ich erklärte ihnen, dass sie sich keine Sorgen machen sollten; denn mein Vater würde bald mit guten Neuigkeiten zurückkehren. Weil es in unserem Hause sehr kalt war, zog ich mit einem einfachen Schlitten, den ich mir selbst gebaut hatte, in die Berge, um Brennholz zu holen.

So konnten wir uns wenigstens warm halten. Wir hatten auch nicht viel zu essen. Kartoffeln waren unsere Hauptnahrung. Abends saßen wir für gewöhnlich am steinernen Kamin und manchmal röstete meine Großmutter ein paar Kartoffeln, während ich meine Hausaufgaben machte, die mein Vater mir aufgegeben hatte. Der Duft und Geschmack der Kartoffeln war ein Vergnügen.

Eines Tages, wie immer nach dem Abendessen, öffnete meine Mutter die Tür, um nach dem Hund zu sehen und zu prüfen, ob er auch genug zu fressen hatte. Aber Won war nicht da. Dann fiel mir ein, dass ich Won den ganzen Nachmittag lang nicht gesehen hatte.

Während wir den Hund noch suchten, sahen wir plötzlich, dass mein Vater nach Hause kam. Der Hund war an seiner Seite. Irgendwie hatte Won gespürt, dass mein Vater auf seinem Weg nach Hause war. Darum war er den ganzen Weg bis zum Bahnhof gelaufen um ihn zu begrüßen. Mein Vater war zu Tränen gerührt. Er hatte an Gewicht verloren, sah aber ruhig und zuversichtlich aus.

Meine Mutter dagegen war sehr verängstigt und zog meinen Vater schnell in den Vorratsraum. Sie bat ihn ganz still zu sein und sich zu verstecken, weil der Milizsoldat jeden Augenblick hier sein konnte. Ich folgte meinen Eltern in den Vorratsraum und mein Vater erklärte uns, dass wir uns keine Sorgen mehr zu machen brauchten. Er war in Peking gewesen und hatte mit einem Beamten des Zentralkomitees des Staatsrats gesprochen. „Meine Bescheinigungen sind immer noch gültig und liefern den Beweis, dass ich unschuldig bin und kein Verbrechen begangen habe. Übrigens ist die Kulturrevolution eine Bewegung seelischer Erhebung. Gewalt und Folter sind nicht erlaubt. Sie können mir nichts tun.“

Plötzlich hörten wir unseren Hund bellen und wussten, dass der Milizsoldat gekommen und schon vor unserem Haus war. Mein Vater öffnete die Tür des Vorratsraums und meine Mutter fing an zu zittern und konnte nicht aufhören. Mein Vater sagte ganz ruhig: „Mach dir keine Sorgen. Ich werde mit ihm reden. Ich bin bereit mit ihnen zu sprechen.“

Mein Vater ging zur Tür und ließ den Milizsoldaten herein. Der Mann schaute zuerst verwirrt drein. Dann begrüßte er meinen Vater herzlich. „Wie ist es ihnen ergangen? Hat Ihre Tante sich erholt? Sie haben uns sehr gefehlt und ich bin jeden Tag hierher gekommen, um sie zu suchen. Gehen sie mit mir zum Treffen heute Abend?“

Mein Vater sah ihn freundlich und vertrauensvoll an und sagte: „Ich habe meine Tante nicht besucht. Ich bin nach Peking gefahren und habe einen Beamten des Zentralkomitees des Staatsrats in Zhongnanhai getroffen, um meinen Fall mit ihm zu besprechen. Mir wurde bestätigt, dass ich ein ehrenhaftes Mitglied der Nation bin und keine Verbrechen begangen habe. Weiteres werde ich allen mitteilen. Bitte, gehen sie mit mir zu dem Treffen.“

Der Milizsoldat war einen Moment lang ganz still. Dann sagte er: „Sie sind sehr mutig. Sie sind sogar zur höchsten Regierungsstelle gegangen. Ich bin stolz auf sie. Fürchten sie nicht, dass das Komitee sie nun als einen ‚modernen‘ Konterrevolutionär statt eines ‚historischen‘ brandmarken könnte?

Das Dorftreffen

In gehobener Stimmung ging mein Vater zu dem Dorftreffen. Nachdem die Dorfbewohner erfahren hatten, dass mein Vater in Peking gewesen war, kamen an dem Abend fast alle von ihnen zu dem Treffen. Alle Führer des Komitees der Kulturrevolution nahmen teil, auch meine Onkel, der sehr verängstigt war. Meine Mutter und ich gingen ebenfalls hin. Wir wussten nicht, was uns erwartete aber ich war voller Hoffnung und stolz auf den Mut meines Vaters.

Während des Treffens hielt mein Vater eine Rede: „Liebe Mitbürger! Ich begrüße Euch. Während der zehn Tage meiner langen Reise nach Peking habe ich euch alle sehr vermisst. Ich habe einen Beamten des Zentralkomitees des Staatsrats in Zhongnanhai getroffen. Ich hatte das Gefühl, dass meine Beschwerde nicht nur für mich von Bedeutung war sondern für euch alle. Ich wollte die Wahrheit herausfinden und sie allen weitergeben. Ich stellte Fragen zu meinem Fall und zu dieser Bewegung der großen Kulturrevolution. Jetzt verstehe ich alles viel besser. Ihr könnt Kritik an mir üben wie vorher, aber bitte gebt mir die Gelegenheit euch das mitzuteilen, was ich herausgefunden habe.“

Die Leute schienen vom Mut meines Vaters beeindruckt und über seine Beschwerde in Peking überrascht zu sein. Es sah so aus, als ob auch die Führer interessiert seien, zuzuhören und darum blieben sie still.

Mein Vater fuhr fort: „Man sagte mir, dass die Bescheinigungen, die die Regierung mir vorher ausgestellt hatte, immer noch gültig sind und zeigen, dass ich ein Mensch bin, der gut vorangekommen ist und der der Nation Gutes gebracht hat. Man sagte mir auch, dass diese Große Kulturrevolution dafür da sei, um die Seele eines jeden einzelnen zu berühren, damit wir uns als Individuen verbessern. Ihr dürft mich kritisieren, wenn ich Unrecht habe, aber ich habe einen Wert, weil ich zum Wohle der Nation beigetragen habe und bin kein Feind. Der Vorsitzende Mao hat selbst gesagt, dass die Kulturrevolution nicht die Bedeutung hat, zu foltern oder Menschen zu misshandeln. Von jetzt an könnt ihr mich und meine Familie kritisieren, aber ihr könnt mich nicht verleumden. Und ihr könnt mich und meine Familie auch nicht körperlich oder psychisch misshandeln. Jeder, der dieses tut, wird in Zukunft dafür haftbar gemacht.“

Ein paar Leute schauten sich an, während mein Vater fortfuhr: „Liebe Mitbewohner! Während der vergangenen fünf Jahre, seitdem meine Familie in dieses Dorf gekommen ist, waren wir gute Nachbarn. Glaubt ihr wirklich, dass ich ein schlechter Mensch oder euer Feind bin? Wisst ihr noch, dass ich, wenn eure Kinder mitten in der Nacht krank wurden, mit euch zum Arzt gegangen bin? Auf dem langen Weg im Gebirge haben wir uns abgewechselt, um euer Kind auf dem Rücken zu tragen.“

„Erinnert ihr euch daran, dass ihr zu meinem Haus gekommen seid und mich gebeten habt, Briefe für euch zu schreiben oder sie vorzulesen, weil ihr nicht lesen und schreiben könnt?“

„Wisst ihr noch, dass ihr mich um Rat gefragt habt, wenn es Probleme in eurer Ehe gab und dass ich dann geholfen habe, eure Ehe zu retten?“

„Erinnert ihr euch daran, dass ich ein Projekt gestartet habe, damit unser Dorf elektrischen Strom bekommt? Wir haben gehofft, dass wir am Neujahrsabend in diesem Jahr elektrisches Licht hätten. Unglücklicherweise scheint dieses nun unmöglich zu sein, weil ich als euer Feind behandelt wurde und weil ihr alle das Projekt gestoppt habt. Ich glaube nicht, dass irgendjemand von uns wünschte, dass dieses passiert.“

„Und wisst ihr noch, dass ihr alle vor dem Neuen Jahr zu meinem Haus gekommen seid und mich und meinen Sohn gebeten habt, ‚Dulian‘ Gedichte für Euch zu schreiben, damit ihr und eure Familien während des nächsten Jahres vom Glück gesegnet wären. In diesem Jahr haben wir damit noch nicht angefangen und ich bin nicht sicher, ob uns noch genügend Zeit bleibt.“

Die Leute senkten den Kopf und fingen an zu murmeln: „Es ist wahr“. Einige von ihnen sahen traurig aus und äußerten ihr Bedauern.

Dann stand der Vorsitzende des Komitees auf und rief mit lauter Stimme: „Ruhe! Das gilt für jeden! Wir müssen vorsichtig sein! Unser Klassenfeind benutzt exakt solche süß verpackten Argumente, um unsere Wachsamkeit in unserem Klassenkampf einzulullen!“

Alle Blicke richteten sich auf ihn. Auch mein Vater schaute ihn an und fuhr mit seiner Rede fort, während er den Blick auf ihn gerichtet hielt: „Jemand, der egoistisch ist und politische Ambitionen hat, will sein politisches Ziel erreichen und nimmt den Vorteil einer politischen Bewegung wahr, um unschuldige Menschen zu verleumden. Eine solche Person hat kein Herz und kein Gewissen. Während er unschuldige Menschen leiden lässt, befriedigt er seine eigenen Interessen. Wie hässlich ist die Seele einer solchen Person!“

„Denkt daran – ich spreche eine freundliche Warnung wie diese hier aus: Gutes wird mit Gutem vergolten und Böses mit Bösem. Das ist ein himmlisches Gesetz, das Gerechtigkeit für jedermann bedeutet. Sollten sie eine solche Person sein, dann sollten sie auf Ihr Gewissen hören und sofort damit aufhören, Böses zu tun. Sonst wird es für sie z u spät sein.“

Die Worte meines Vaters trafen den Vorsitzenden wie eine Bombe. Er war gedemütigt und sein Gesicht war wutverzerrt. Die Aufmerksamkeit aller war nun auf ihn gerichtet. Sie alle wussten, dass er der Anstifter der Beschuldigungen gegen meinen Vater war. Im Dorf gab es keine ‚Klassenfeinde‘ aber er brauchte einen solchen für seine politische Karriere.

Mein Vater hatte seine Überzeugung dargelegt und die Leute waren tief bewegt. In einem Moment der Stille sagte ein anderer Führer: „Wir sollten unser Treffen hier beenden und es wieder eröffnen, wenn unser Komitee sich beraten und diskutiert hat.“

Nach dem Treffen schienen die Leute etwas freundlicher zu uns zu sein und einige zeigten durch ein Nicken oder Lächeln ihre Unterstützung an.

Arbeitslager

Wenn jemand erst einmal als ‚Konterrevolutionär‘ gebrandmarkt war, war es nicht leicht für ihn, diese Bezeichnung wieder loszuwerden. Nach dem Petitionsgesuch in Peking und der furchtlosen und von Vernunft getragenen Rede meines Vaters auf dem Treffen, organisierte das Komitee der Kulturrevolution solche Treffen nicht mehr. Sie wussten, dass es ohne überzeugende Beweise für sie nicht mehr leicht sein würde, Sprecher zu finden, die meinen Vater verleumdeten. Was diesen Punkt angeht, waren tatsächlich die meisten Sprecher auf den Treffen vom Komitee der Kulturevolution angeheuert worden. Jede Rede, die Kritik zum Ausdruck brachte, wurde mit zehn Arbeitspunkten belohnt. Das entsprach einem Arbeitstag auf den Feldern des Dorfes. Wenn jemand diese Aufgabe nicht erfüllte, so wurden diese zehn Punkte entsprechend von seinem Arbeitsstundenkonto abgezogen.

Das Komitee der Kulturevolution des Dorfes beschloss, meinen Vater in ein Arbeitslager zu stecken. Es wurde auch Umerziehungslager genannt. Zu der Zeit konnten von den Komitees der Kulturevolution überall Arbeitslager eingerichtet werden, gleichgültig wie groß die Orte waren.

Das Dorf gehörte zu den kleinsten Orten im Land, aber sein Komitee der Kulturevolution hatte die Berechtigung, ein Arbeitslager einzurichten. Dieses konnte in einer Vorratshalle, in einem leeren Klassenzimmer oder ähnlichem eingerichtet werden. Es waren keine gesetzlichen Ausführungsbestimmungen oder Gerichtsprozesse involviert. Alles, was ein Führer der KPCh, ein Mitglied der Roten Garde oder ein Milizsoldat zu tun brauchte, bestand darin, zu dem Betreffenden zu gehen und ihm mündlich mitzuteilen, dass er ins Arbeitslager müsse. Dort verlor er dann seine Freiheit.

Während der langen Winterpause hatte die Grundschule des Dorfes viele leere Klassenräume. Einer der Klassenräume wurde zum Arbeitslager des Dorfes. Sie brachten meinen Vater dorthin und sperrten ihn im Klassenzimmer ein. Der Raum war kaum beheizt und sehr kalt. Es gab kein Essen. Jeden Tag mussten meine Mutter und ich meinen Vater mit Essen versorgen. Dafür mussten wir jedes Mal zwei Meilen hin und zurück durch den Schnee gehen. Im angrenzenden Klassenraum war ein Wachmann.

Mein Vater musste den Campus von Schnee befreien, die Toiletten säubern, die Klassenräume putzen usw. Wenn es keine Arbeit gab, musste er schriftlich Selbstkritik üben und Fehler, Verbrechen und schlechte Gedanken gegen die KPCh eingestehen. Auf Grund dieser schriftlichen Äußerungen erfand das Komitee der Kulturevolution dann Geschichten und Anschuldigungen und verlangten von ihm, dass er diese akzeptiere. Wenn er sich weigerte, musste er eine weitere Selbstkritik zu Papier bringen. Dieses wiederholte sich ständig und löste bei ihm einen enormen psychischen Stress aus.

Mehrere Wochen vergingen. Jeden Tag gingen meine Mutter und ich die vier Meilen zu Fuß, um meinem Vater das Essen zu bringen. Wir durften meinen Vater nicht sehen, sondern mussten das Essen bei dem Wachmann abgeben. Oft wehte ein heftiger Schneesturm und eine eisige Kälte durchdrang unsere mit Baumwolle gefütterten Jacken. Meine Mutter war psychisch und körperlich erschöpft. Sie sah abgezehrt aus und weinte viel.

Ich dachte mir auf dem langen Weg zum ‚Arbeitslager‘ im Schulgebäude oft etwas aus, um sie zu trösten und aufzumuntern. Das Neujahrsfest, das wichtigste Fest in China, stand vor der Tür.

„Mama“, sagte ich. „du weißt ja, dass Vati in diesem Jahr wahrscheinlich nicht zu Hause sein wird, um das Neujahrsfest mit uns zu feiern. Unsere Dulian Gedichte sind noch nicht geschrieben. Aber Vati hat die erste Zeile schon verfasst und er will, dass ich die zweite Zeile als Hausaufgabe schreibe. Das habe ich schon gemacht. Willst Du sie hören?“

Das Gesicht meiner Mutter hellte sich etwas auf. „Ja, natürlich“, gab sie zur Antwort.

Ich sagte: „Vatis erste Zeile geht so: „Das Wetter ist kalt, die Erde ist gefroren und die Herzen der Menschen sind kalt.“

„Meine zweite Zeile lautet: Meine Seele ist froh, mein Gewissen ist rein und mein Herz ist weit und freundlich.“

„Die Überschrift lautet: Das Böse kann nicht über das Gute siegen“

Ich schaute meine Mutter an und war so glücklich, endlich wieder ihr schönes Lächeln zu sehen. „Du solltest es Deinem Vater vortragen. Es würde ihn sehr glücklich machen,“ sagte sie.

Wir kamen am Arbeitslager an und gingen wie immer zum Raum des Wachmanns aber er war nicht da. Zu unserer Überraschung war die Tür zum Raum des ‚Arbeitslagers‘ nicht abgeschlossen. Vorsichtig öffneten wir die Tür und sahen, dass mein Vater uns hereinwinkte. „Kommt herein, macht Euch keine Sorgen. Der Wachmann ist absichtlich fortgegangen, so dass wir uns sehen können, “ erklärte er.

Wir gingen hinein und meine Mutter fragte nervös: „Was ist passiert? Wohin ist der Wachmann gegangen? Geht es Dir gut?“

Mein Vater öffnete das Lunchpaket und fing an zu essen. Er erklärte uns, dass der Wachmann und er Freunde geworden seien. Weil es wenig Arbeit gab, war mein Vater den größten Teil der Zeit in dem Raum eingesperrt und musste dort selbstkritische Artikel verfassen. Mein Vater spürte, dass er durch diese Isolation, ohne menschlichen Kontakt, ohne Nachrichten und ohne Hoffnung geistig erkrankte. Er wusste, dass er, wenn das so weiterging, sterben würde. Doch so wollte er nicht sterben.

Er begann damit, Gedichte aufzuschreiben, die er kannte und Lieder zu singen, an die er sich erinnerte. Er fühlte, dass ihm das Energie gab und seine Depression milderte. Der Wachmann hörte meinen Vater oft singen oder Gedichte rezitieren und fing an, mit ihm zu sprechen. So wurden sie nach und nach zu Freunden. Der Wachmann war ein Grundschullehrer und das Komitee der Kulturevolution hatte auch ihn im Visier. Auch ihn versuchten sie als Konterrevolutionär anzuprangern, aber es gab nicht viel, das sie ihm anhängen konnten, und so gaben sie schließlich auf.

Aber sie ließen ihn nicht vollständig frei, weil sie ihn als unbezahlte Arbeitskraft einsetzen wollten. So kamen sie auf die Idee, ihn als Wachmann für meinen Vater einzusetzen.

Als der Wachmann meinen Vater näher kennen lernte, war er vom Mut meines Vaters tief gerührt. Besonders gefiel es ihm, dass mein Vater bei der Regierung in Peking Beschwerde eingereicht hatte.

Obwohl er es nicht wagte, ihn frei zu lassen, fühlte er doch, dass er ihm wenigstens erlauben müsse, sich mit uns zu treffen, wenn wir ihm das Essen brachten. Er vertraute auch darauf, dass mein Vater keinen Fluchtversuch unternehmen und ihn so in Schwierigkeiten bringen würde.

Das Komitee der Kulturevolution des Dorfes hielt meinen Vater bis zum Frühlingsanfang gefangen. Dann ließen sie ihn frei, beschuldigten ihn aber weiterhin, ein Konterrevolutionär zu sein. Sein offizieller Status lautete jetzt: „Insasse des Umerziehungslagers außerhalb des Lagers.“ Das bedeutete, dass er zwar nach Hause gehen durfte, aber unter ihrer Kontrolle und Überwachung im Dorf arbeiten musste. Und hin und wieder musste er ‚Berichte über seine Gedanken‘ schreiben. In diesen Berichten musste er darlegen, wie ‚gut‘ die Umerziehung für ihn gewesen sei und wie sie sein Denken verbessert habe. Wenn die Berichte nicht zu ihrer Zufriedenheit ausfielen, konnten sie ihn wieder verhaften und ins Arbeitslager zurückschicken.

Man verlangte auch von ihm, dass er zu jeder Zeit seinen Ausweis in der oberen Tasche seiner Jacke bei sich hatte, in dem die Bezeichnung Konterrevolutionär vermerkt war. Er musste auf den Feldern der Gemeinde arbeiten, hatte aber kein Einkommen und erhielt auch keine Arbeitspunkte. Wir bekamen nur ein Minimum an Nahrung, kaum genug um zu überleben.

Das Stockholm Syndrom

Mit Maos Tod im Jahre 1976 endete schließlich unter der Führung Deng Xiaopengs der Terror der Kulturevolution. Das ganze Land war wirtschaftlich am Ende. Um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, wurden Intellektuelle wieder zu nützlichen Personen und einige Menschen, die unter Verfolgung gelitten hatten, wurden rehabilitiert. Zu ihnen gehörte auch mein Vater. Er war kein Konterrevolutionär mehr und im Jahre 1983 erhielt er wieder einen Lehrstuhl an seiner Universität. Aber bis dahin hatte er zwanzig Jahre lang als Bauer und Arbeitssklave auf dem Lande verbracht. Im Dezember 1982, kurz bevor unsere Familie wieder in die Stadt zog, starb meine Großmutter in dem Dorf.

Obwohl meine Eltern so grausam verfolgt worden waren, lobten sie paradoxerweise immer noch die Partei, weil diese die Kulturevolution beendet hatte.

Die Kommunistische Partei hat ihr eigenes Muster der Verfolgung. Nachdem diese beendet ist, findet die KPCh immer einen Weg, die Leute dazu zu bringen, die Partei zu loben anstatt sie zu kritisieren. Die Regierung erzählt den Leuten, dass sie stolz auf die Partei sein müssen. Auch wenn die Partei einen Fehler gemacht hat, so hat sie doch den Fehler korrigiert. Sie bezeichnen sich selbst als großartige, ehrenwerte und korrekte Partei. Und die Menschen, Opfer von Verfolgung, sind dann der Partei gegenüber noch dankbar, weil sie der Verfolgung ein Ende gesetzt hat. Diese psychische Krankheit nennt man Stockholm Syndrom, bei dem die Opfer den Verfolgern zur Seite stehen und sie noch verteidigen. Nachdem das chinesische Volk in so vielen politischen Bewegungen traumatisiert wurde, werden die meisten von ihnen immer dieses Stockholm Syndrom aufweisen.

Falun Gong

Als meine Eltern in die Stadt zurückkehrten, dachten sie, dass sie endlich frei wären und ein besseres Leben hätten. Mein Vater lehrte noch zehn Jahre. Dann wurden sie älter und litten unter verschiedenen Krankheiten. Im Jahre 1995 hörten sie von der gesunden Lebensweise der Falun Gong-Praktizierenden.

Falun Gong, auch bekannt unter dem Namen Falun Dafa, ist eine traditionelle chinesische spirituelle Disziplin, zu der fünf Meditationsübungen und das Studium einer Morallehre gehören, die auf den Prinzipien von Wahrhaftigkeit, Mitgefühl und Toleranz beruhen. Sie wurden zu Praktizierenden und in der Tat verbesserte sich ihr Gesundheitszustand erheblich.

Aber im Juli 1999 begann durch Jiang Zemin, den Führer der Partei, die Verfolgung von Falun Gong. Die Gruppe der Praktizierenden an der Universität wurde entlassen und ihre Falun Gong Bücher und Kassetten verbrannt. Einige der Praktizierenden aus der Gruppe meiner Eltern wurden bei der Verfolgung getötet und man hörte die Telefone ab. Keiner ihrer Freunde oder Mitarbeiter wagte es, mit ihnen zu sprechen, weil Falun Gong zu einem „sensiblen Thema“ geworden war.

Für meine Eltern sah es so aus, als ob die Kulturevolution zurückgekehrt sei und sich nur eine andere Gesellschaftsgruppe als Ziel ausgesucht hätte. Aber zu dieser Gruppe gehörten wieder meine Eltern. Wenn sie sprachen, senkten sie wieder die Stimme so wie sie es während der Kulturevolution getan hatten. Sie praktizierten nicht mehr in der Öffentlichkeit und bekamen so wieder mehr gesundheitliche Probleme.

Durch die Verfolgung von Falun Gong erkannten meine Eltern endlich den üblen Charakter der KPCh. Sie stellten fest, dass die Partei nie damit aufhören würde, Menschen zu vernichten, selbst wenn sie nach den Prinzipien von Wahrhaftigkeit, Mitgefühl und Toleranz lebten.

Die Suche nach Geschlossenheit

Im Jahre 2008, 40 Jahre nach Beginn der Verfolgung unserer Familie während der Kulturevolution, kehrte mein 84-jähriger Vater mit meiner Mutter auf einen Besuch in das Dorf zurück. Das Dorf hatte sich nicht sehr verändert. Unser Haus war noch da, es sah nur älter aus. Aber als sie nach vertrauten Gesichtern Ausschau hielten, fanden sie nur wenige. Man erzählte ihnen, dass alle Leute, die an der Verfolgung unserer Familie beteiligt gewesen waren, schon lange tot seien. Vor allem die Führer des Komitees der Kulturrevolution, die alle in den zwanziger oder dreißiger Jahren gestanden hatten, waren jung gestorben. Viele von ihnen starben an Krebs, andere kamen bei einem Unfall zu Tode oder im Kampf durch die Hand ihrer eigenen Verwandten. Mein Vater dachte mit Trauer an sie; denn er fühlte, dass auch sie ein Opfer der Kulturevolution waren. Sie waren einer Gehirnwäsche ausgeliefert gewesen und waren enttäuscht worden.

In den vergangenen Jahrzehnten hatten die Leute durch den Wirtschaftsboom die Illusion, dass die KPCh sich verändert hätte oder sich verändern würde. Doch diese Veränderungen sind nur oberflächlich. Im Grunde hat sich nichts geändert. Die wahre Natur der KPCh zeigte sich im Jahre 1989 beim Studentenmassaker, bei der Behandlung von Minderheiten und in der 11-jährigen Verfolgung von Falun Gong. Die Art der Gewalt, die am chinesischen Volk verübt wurde, zieht sich durch die gesamten 60 Jahre kommunistischer Herrschaft.

Der Wirtschaftsboom war nur möglich durch Ausbeutung der Menschen, Zwangsarbeit und Zerstörung der Umwelt. Mehr als eine Milliarde Chinesen leben in bitterer Armut. Es gibt keine Gedanken- und Redefreiheit. Gehirnwäsche, Folter und Zwangsarbeit werden noch weithin vom Staat ‚verordnet‘. Meine Eltern, wie so viele chinesische Menschen ihres Alters, haben vier große politische Bewegungen und Verfolgungen durchlitten, die alle auf dem sogenannten Klassenkampf basieren.

Alle diese Bewegungen hatten den gleichen Zweck: ein Umfeld zu schaffen, das die Öffentlichkeit in Angst und Verwirrung versetzt, sodass die KPCh das Land leicht kontrollieren kann. Schlechte Leute werden selektiert, um die Macht der Partei zu stärken und politische Gegner unterdrückt.

Fast jedes Land hat sich inzwischen vom Kommunismus, der vorher das Land terrorisierte, befreit. Eine Bewegung namens ‚tuidang‘, die dazu auffordert, aus der Partei auszutreten, stellt eine stille Revolution dar, die während der letzten sechs Jahre bereits mehr als 80 Millionen Chinesen geistige

Freiheit gegeben hat. Ich bin aus der KPCh ausgetreten. Wenn noch viel mehr meiner Landsleute in nicht allzu ferner Zukunft dieses auch tun, so bin ich davon überzeugt, dass China frei sein wird.

Lesen Sie hier: Teil I

Lesen Sie hier: Teil II

Und: Der erste der Neun Kommentare über die Kommunistische Partei

Foto: Jean Vincent/AFP/Getty Images


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