Tränen über Tibet – Der Dalai Lama und sein buddhistischer Pazifismus

Kommentar
Titelbild
Der Dalai Lama mit Nancy Pelosi in Dharamsala am 20. März. (AP Photo/Gurinder Osan)
Von 23. März 2008

Jeder dritte Deutsche hält bei Umfragen den Dalai Lama für „den weisesten Menschen der Gegenwart“. Warum vertrauen dem fremden „Gottkönig“ mehr Deutsche als dem deutschen Papst in Rom? Und warum genießt der Buddhismus bei Umfragen in Deutschland mehr Sympathie als das Christentum?

In den letzten 10 Tagen eskalierte auf dem Dach der Welt der Konflikt zwischen Tibetern und ihren chinesischen Besatzern. Der Dalai Lama rief – wieder einmal – zu Gewaltlosigkeit auf, auch seine Tibeter. Nach chinesischen Angaben sind durch die gewalttätigen Ausschreitungen 16 Menschen ums Leben gekommen, die exiltibetische Regierung spricht von „beinahe 100 Toten“ und eine tibetische Menschrechtsorganisation von „etwa 1000 Toten“. Sicher scheint, dass über 1.000 Tibeter festgenommen wurden und jetzt mit Haft und Folter rechnen müssen.

Zuerst demonstrierten über 1.000 Mönche in und um Lhasa friedlich. Die Gewalt eskalierte auf beiden Seiten als Tibeter chinesische Geschäfte anzündeten und chinesische Sicherheitskräfte die ersten Mönche erschossen. Es war vor allem die moralische Autorität des Dalai Lama, die noch mehr Wutausbruch und ihre schrecklichen Folgen auf Seiten der Tibeter verhinderte.

Inzwischen spricht Chinas Führung vom „Volkskrieg“, vom „Kampf auf Leben und Tod“ und nennt den Dalai Lama einen „Teufel mit Menschengesicht“ und einen „Wolf im Mönchsgewand“. In diesen Ostertagen rüstet sich China wie zum Großangriff auf Tibet. Die Eskalation des Konflikts ist kein gutes Omen für friedliche Olympische Spiele im kommenden August. Die Schlüsselfigur des Konflikts ist der Dalai Lama.

Was verursacht die beinahe unfassbare Anziehungskraft des Dalai Lama auf Tibeter und Nicht-Tibeter in der ganzen Welt? Was macht diesen inzwischen 72-jährigen bei Umfragen zu „sympathischsten Menschen der Welt“? Was ist sein Geheimnis?

21-Mal haben wir uns seit 1982 getroffen. Nie habe ich einen offeneren, neugierig kindlich gebliebenen, freundlicheren Gesprächspartner kennen gelernt wie „Seine Heiligkeit“.

Flughafen Berlin-Tegel. In 30 Minuten soll seine Maschine nach New Delhi fliegen. Doch seelenruhig setzt sich der Dalai Lama und gibt mir ein Fernsehinterview. Die ihn begleitenden Mönche und sein Dolmetscher schauen nervös auf die Uhr. „Wie viel Zeit haben wir noch?“ will ich wissen. „30 Minuten“, sagt er. Nach genau 30 Minuten steht der Dalai Lama lächelnd auf. Wir umarmen uns zum Abschied. Seine Begleiter sind entsetzt, denn der Kleinbus, der ihn zum wartenden Flugzeug bringen sollte, war bereits weggefahren. „Das macht gar nichts“, sagt der Dalai Lama und stürmt aus dem VIP-Raum, rennt mit wehendem Mönchsgewand über den Flughafen 300 Meter zu seinem Flugzeug, die gesamte Begleitung hinterher. Zwei Minuten später hebt die „Indian Airlines“ ab.

Was denkt der „Gottkönig“ der Tibeter über all die Etiketten wie „Heiligkeit“ und „Majestät“, die ihm weltweit ständig angeklebt werden? „Das ist doch alles Unsinn. Wir beide kennen uns jetzt über 20 Jahre. Deshalb wissen Sie am besten, dass ich ein einfacher Mönch bin.“ Nicht anders erlebe ich ihn immer wieder.

Der Mann war vorgestern in Toronto, gestern in Wiesbaden und fliegt heute nach Washington oder Neu Delhi. Und was macht dieser berühmteste Flüchtling der Welt, wenn er endlich allein in seinem Hotelzimmer ist? „Ich mache als erstes die Rollläden runter, um in Ruhe meditieren zu können.“ Er meditiert jeden Tag vier Stunden und steht dafür jeden Morgen um halb vier auf. Deshalb verabschiedet er sich auch meist am Vorabend nach einem Vortrag schon zwischen 21 und 22 Uhr. Länger bleibt er grundsätzlich nicht, egal ob ein König, Präsident oder Journalisten noch gerne mit ihm gesprochen hätten.

Zur Meditation sitzt er meist im Unterhemd auf seinem Hotelbett. Frühstücken will er in seinem Hotelzimmer allein. In seinem Exil, im nordindischen Dharamsala, trainiert er vor dem Frühstück gerne auf einem Laufband. „Auch beim Sport kann man gut meditieren. Probieren Sie’s doch mal!“

Bei aller Freundlichkeit schreckt der Dalai Lama vor radikalen Thesen nicht zurück. „Ohne Menschen ginge es der Erde besser“, sagte er in meiner letzten Fernsehsendung und fügt lächelnd – er lächelt fast immer – hinzu: „Aber ich bin Optimist. Wir Menschen können uns ändern.“

„Mitgefühl mit allen Lebewesen“, sagt der Dalai Lama sei der Kern des Buddhismus. Er ist wohl deshalb auch im Westen so populär, weil er seit seiner Flucht aus Tibet (1959) konsequent Gewaltlosigkeit lehrt und lebt. Seit Jahrzehnten wird sein Volk von Chinas Besatzungsmacht unterdrückt – aber der gute Mensch aus Lhasa bleibt konsequent bei seinem buddhistischen Pazifismus. Tibet ist das religiöseste Volk der Welt. Aber kein zweites Volk leidet so sehr unter Gewalt – seit bald sechs Jahrzehnten.

Hier liegt der wahre Grund für die Eskalation der Gewalt in den diesen Tagen.

Der Dalai Lama schätzt die Quantenphysik, die er sich oft von Carl Friedrich von Weizsäcker erklären ließ. „Mit mäßigem Erfolg“ meint er. Spannender findet er seit einigen Jahren die Erkenntnisse der Neurobiologen. Er ist sogar als Referent eingeladen zu deren Weltkongressen. Es macht ihm erkennbar Spaß, Quantenphysikern, Neurobiologen oder Philosophen zu erklären, dass ihre neuesten Erkenntnisse sehr gut zu jahrtausendealten Erfahrungen der tibetisch-buddhistischen Glaubenswelt passen. Sein Buch „Die Welt in einem einzigen Atom“ legt Zeugnis ab von seinen wissenschaftlichen Entdeckungsreisen.

„Ich habe persönlich nie eine naturwissenschaftliche Ausbildung genossen“, so leitet er seine ungewöhnliche Auseinandersetzung mit der modernen Wissenschaft ein. Aber, fügt er im Gespräch hinzu: „Wissenschaft und alte Weisheitslehren sind kein Gegensatz.“ Der Dalai Lama hört auf die Sprüche seines uralten Staatsorakels ebenso wie auf die Lehren der modernen Wissenschaft und meint ganz unwissenschaftlich: „Das Training des Geistes ist wie das Erlernen des Radfahrens.

Das kann doch jedes Kind.“ Und dann lacht er schon wieder – laut und lang. Die Lautstärke seines gurgelnden Lachens ist sein Markenzeichen. Auch das ist echt. Wer ihn kennt, weiß, dass er gar nicht anders kann. Trotz aller Anspannung hat er auch in diesen Tagen sein Lachen nicht verloren. Darüber staunen und lachen auch chinesische Journalisten auf seinen Pressekonferenzen.

Was macht den Reiz des Buddhismus im Westen aus? Warum ist der Dalai Lama weltweit ein Superstar? „Wissenschaft ist wichtig – aber Weisheit ist wichtiger“, sagte er einmal vor 2000 Studenten in Tübingen, die ihm zujubelten.

Ethische Reife, geistige Ruhe, intuitives Wissen – diese buddhistischen Werte sind heute im westlichen Rationalismus weitgehend verschüttet. „Aber Mitgefühl und Ethik sind für die Menschenwerdung unverzichtbar. Nur durch Mitgefühl können wir uns vom Leiden befreien“, lehrt der oberste Buddhist.

Der Dalai Lama ist der toleranteste aller heute lebenden Religionsführer. In der Schweiz, wo viele tibetische Flüchtlinge leben, frage ich ihn, ob es ihn störe, dass einige junge Tibeter zum christlichen Glauben übergetreten sind. Seine Antwort ist typisch für seine Toleranz: „Warum soll mich das stören? Wichtig ist doch nicht, welcher Religion ein Mensch angehört. Wichtig ist, dass er glücklich ist. Wenn junge Tibeter in der christlichen Schweiz zum Christentum übertreten und glücklich dabei sind, dann freue ich mich mit ihnen.“ Würde ein römischer Papst je so antworten? Der XIV. Dalai Lama lacht schon wieder.

So ist er:
spitzbübisch weise, bäuerlich erdverbunden, ansteckend glücklich. Von Geheimnis keine Spur. Er blieb der Bauernjunge aus der osttibetischen Provinz Amdo, wo er mit zwei Jahren als Wiedergeburt des XIII. Dalai Lama entdeckt wurde.

Kritiker sagen, er sei naiv. Und was sagt er seinen Kritikern? „Die haben recht.“ Was aber sagt er über seine chinesischen Feinde? „Feinde soll man lieben, wie es Jesus in der Bergpredigt vorgeschlagen hat. Das ist ein kluger Vorschlag. Denn von seinen Feinden kann man am meisten lernen. Ich will auch den Chinesen helfen, eine harmonische Gesellschaft im Sinne von Konfuzius aufzubauen“.

Auf meine Frage, was ihn trotz aller Leiden seines Volkes optimistisch stimme, sagt der lebensfrohe Asket: “ Eines Tages wird Tibet frei sein. Wir wollen der ganzen Welt einen neuen, friedlichen Weg zur Freiheit zeigen.“ Er hofft auf Veränderungen in Chinas junger Generation. „Der Schlüssel zur Lösung der Tibet-Frage liegt bei Chinas Jugend“.

Auch in Hamburg betonte er im Juli des letzten Jahres immer wieder, dass westliche Christen im christlichen Abendland verwurzelt seien und es auch bleiben sollten. Der Mann will niemand bekehren. Er will aber anregen, über mehr Menschlichkeit und Gewaltlosigkeit nachzudenken: „ Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Gewalt. Es liegt doch an uns allen, aus dem 21. Jahrhundert ein Jahrhundert des Friedens und der Gerechtigkeit zu machen.“ Der Weg dahin scheint gar nicht so schwer aus buddhistischer Sicht. Der Dalai Lama skizziert ihn so: „Erst wenn wir Frieden in uns haben, können wir einen Beitrag zum Weltfrieden leisten. Das kann jede und jeder.“

Auch diese These erscheint manchem seiner deutschen Zuhörer naiv. Aber gibt es eine Alternative? Die Bergpredigt Jesu mit ihren Seligpreisungen der „Friedenstifter“ und der Forderung nach „Feindesliebe“ ist nicht weniger naiv. „Die Bergpredigt ist ein Überlebensprogramm der Menschheit wie der achtfache Pfad Buddhas“ hatte mir der Dalai Lama vor 20 Jahren schon gesagt.

Was aber, wenn in Zukunft die Jugend Tibets ihre Heimat mit Gewalt befreien will, weil nach ihrer Ansicht 60 Jahre Gewaltfreiheit nichts außer Leid und Unterdrückung gebracht haben? „Dann“, sagt der Dalai Lama mit großer Bestimmtheit, „dann werde ich von allen meinen politischen Ämtern zurücktreten. Dann lebe ich wieder als einfacher buddhistischer Mönch, was ich ja eh schon immer tue. Aber ich werde mich dann aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Ich verstehe die ungeduldige junge Generation. Aber als Mönch bin ich davon überzeugt, dass Gewalt niemals zu wirklichen Lösungen führt. Der Irak beweist es doch jeden Tag. Vorbildlich für eine erfolgreiche, gewaltfreie Politik war die friedliche Revolution in Europa 1989. Warum soll in China nicht auch möglich sein, was in Deutschland 1989 so erfolgreich funktionierte?“

Warum aber fühlen sich immer mehr Deutsche – auch viele Christen – vom Charisma und der sanften Lehre des Dalai Lama so angezogen?

Jeder dritte Deutsche hält bei Umfragen den Dalai Lama für „den weisesten Menschen der Gegenwart“. Warum vertrauen dem fremden „Gottkönig“ mehr Deutsche als dem deutschen Papst in Rom? Und warum genießt der Buddhismus bei Umfragen in Deutschland mehr Sympathie als das Christentum?

Der Dalai Lama ist ein sanfter Verführer zu mehr menschlichem Glück, d e r Menschenfischer unserer Zeit. Das Thema Liebe ist das Topthema jeder Religion. Der Papst hat dazu eine streng wissenschaftliche Enzyklika geschrieben. Der Dalai Lama sagt zum selben Thema: „Liebe ist, was jeder Mensch von seiner Mutter mitbekommt.“ Für diese Einfachheit lieben und verehren ihn die Deutschen und fast die ganze Welt. Vielleicht lernen ihn auch die Chinesen eines Tages wirklich kennen. Mitte Mai kommt er wieder für fünf Tage nach Deutschland.

Der Dalai Lama und Angela Merkel

Angela Merkel ist die erste deutsche Regierungschefin, die den Mut hatte, den Dalai Lama im Kanzleramt zu empfangen. Ihre männlichen Vorgänger Kohl und Schröder sind mehrfach vor chinesischem Druck in die Knie gegangen und haben ein Treffen mit dem Dalai Lama stets abgelehnt.

Nach dem Treffen im letzten September gab es auch Kritik von der in Berlin mitregierenden SPD. Doch der Dalai Lama bezeichnet seither die Kanzlerin als „meine Freundin, die sehr mutig ist.“

Wie der Dalai Lama lehnt Merkel einen Boykott der olympischen Spiele im August in Peking ab. Der Papst des Ostens schätzt an der Kanzlerin ihr Eintreten für die Menschenrechte. Viele – vor allem junge – Chinesen und Tibeter sind der Kanzlerin dankbar für ihre Haltung gegenüber der chinesischen Regierung.

Der Dalai Lama und Mahatma Gandhi

Der Dalai Lama bezeichnet den indischen Freiheitshelden als „mein großes Vorbild im Kampf für die Gewaltfreiheit“. Gandhi habe gewaltfrei die Unabhängigkeit für damals über eine halbe Milliarde Inder gegenüber den englischen Kolonialherren erzwungen.

„Gandhis Ahimsha (Politik der Gewaltlosigkeit) war stärker als alle Gewalt und sie war erfolgreich“, sagt der tibetische Friedensnobelpreisträger. Gewalt und Krieg seien immer ein Versagen von Politik und ein Zeichen von Angst und Ignoranz. Das habe er „in der Schule von Buddha und in der Schule von Gandhi gelernt“, so der Dalai Lama.

Gandhis Politik habe den Beweis erbracht, dass nur die Gewaltlosigkeit nachhaltig zu Freiheit führe.

Der Dalai Lama und Wen Jiabao

Chinas Ministerpräsident Wen Jiabao hat in dieser Woche gesagt, er wolle den Dalai Lama „zu jeder Zeit treffen“, wenn dieser auf Gewalt und auf die Unabhängigkeit Tibets verzichte. Diese Aussage ist an Dreistigkeit nicht zu überbieten, denn genau das predigt der Dalai Lama seit Jahrzehnten und dafür hat er 1989 den Friedensnobelpreis bekommen. Schon vor 20 Jahren erklärte der Dalai Lama vor dem Europaparlament, dass Tibet innerhalt des chinesischen Staatsverbandes bleiben, aber mehr kulturelle und religiöse Freiheiten bekommen sollte. Nicht politische Unabhängigkeit, sondern wirkliche Autonomie – ähnlich wie Südtirol innerhalb des italienischen Staats – will der Dalai Lama für seine Heimat.

Wenn Wen Jiabao seine Worte auch nur halbwegs ernst meint, dann soll er den Dalai Lama als Ehrengast zu den Olympischen Spielen in Peking einladen.

Quelle:
Franz Alt 2008

www.sonnenseite.com



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