Olympischer Zynismus: Interne Unterlagen des IOC aufgedeckt
Die Olympische Bewegung hat anscheinend mit „Vorfällen“ oder „Krisen“ gerechnet, aber nicht mit größeren Protestaktionen auf den Straßen von London und Paris. So stand es zumindest in der Kopie des Schreibens, das „Reporter ohne Grenzen“ (RSF) zugespielt wurde. Es handelt sich dabei um eine vertrauliche Aktennotiz des Internationalen Olympischen Komitees über den Olympischen Fackellauf vom 26. März, das zwei Tage nach dem Protest der „Reporter ohne Grenzen“ bei der Fackelentzündungszeremonie in Olympia an das nationale Olympische Komitee gesendet wurde.
In dieser 26 Seiten starken Aktennotiz mit dem Vermerk „vertraulich“ erklärt das IOC, dass es gemeinsam mit dem Pekinger Organisationskomitee für die Olympischen Spiele (BOCOG) „Reaktionsprotokolle“ zur Vorbereitung für irgendwelche Krisen erarbeitet hatte. Nationale Olympische Komitees werden gebeten, diesen Richtlinien zu folgen, wenn sie der Presse und Interessensverbänden antworten.
Giselle Davies, die Leiterin der Presseabteilung des IOC, definiert eine Krise folgendermaßen: „Eine Krise ist ein Ereignis oder eine Folge von Ereignissen, die möglicherweise zu einer Störung oder zur Absage eines Haltepunkts des Fackellaufs führt, oder ernsthaft das Image des IOC und der Olympischen Bewegung beeinträchtigt.“ Als Beispiel wird ein terroristischer Angriff während des Fackellaufs aufgeführt.
Bescheidenheit und Ehrlichkeit zeigen
Das IOC rät allen Mitgliedern, nationalen Olympischen Komitees, Sportverbänden und Olympischen Partnern, „Bescheidenheit“ und „Ehrlichkeit“ an den Tag zu legen, um zu vermeiden, dass man durch journalistische Fragen in die Defensive gerät. „Das IOC sollte den Journalisten/die Interessengruppe immer daran erinnern, dass der Einfluss des IOCs in der Sportarena liegt.“
Den Olympische Fackellauf, den die Chinesen auch „Reise der Harmonie“ nennen, hält der IOC für äußerst ambitioniert. In der Aktennotiz wird betont, dass das Pekinger Organisationskomitee BOCOG für jede Etappe des Fackellaufs in Koordination mit den lokalen Behörden das Sagen hat.
Menschenrechte im Fokus der Pekinger Spiele
Obwohl die chinesische Regierung dies leugnet, liegen die Angelegenheiten der Menschenrechte und Tibet im Kern der Pekinger Olympischen Spiele. Denn laut der Aktennotiz sind vorhersehbare Probleme für den Fackellauf „Sicherheit der Träger und Zuschauer, Terrorismus, Demonstrationen, Mount Everest, Tibet, Taiwan und Platz des Himmlischen Friedens“. Doch das IOC gibt Instruktionen, die im Wesentlichen auf der chinesischen Propaganda basieren, welche jeglichen Versuch abweist, die Spiele zu politisieren. Selbst in der heutigen Erklärung wird das Wort „Tibet“ einfach gestrichen.
Keine Grenzen bei den Olympischen Werten?
Der Aufstieg auf den Mount Everest mit der Fackel wird vom IOC als eine Gelegenheit beschrieben, um dem Olympischen Motto: schneller-höher-stärker eine neue Bedeutung zu geben. Es heißt noch, „die Fackel auf den Gipfel des Everest zu tragen, symbolisiert, dass es im Bereich der Olympischen Werte keine Grenzen gibt“. Generell verweigert das IOC „bei Aktionen einzugreifen, die von den lokalen Behörden als notwendig erachtet werden, um Recht und Ordnung aufrecht zu erhalten.“
Über die umstrittene Besteigung des Everest sagte das IOC, dass es die Rechte der Demonstranten respektiere. Doch es fügte hinzu, dass „BOCOG und lokale Behörden entlang des Fackellaufs nicht zögern werden, um einzugreifen, wenn notwendig, um die Sicherheit der Fackelträger und des Kletterteams zu gewährleisten.“ Generell verweigert das IOC „bei Aktionen einzugreifen, die von den lokalen Behörden als notwendig erachtet werden, um Recht und Ordnung aufrecht zu erhalten.“
Weil die Pekinger Organisatoren beschlossen, eine Zeremonie zur Ehre der Olympischen Flamme auf dem Platz des Himmlischen Friedens abzuhalten, benennt das IOC diesen Platz als „einen der berühmtesten öffentlichen Plätze auf der Welt“.
Unpassende Bewertung?
Ständig wiederholend, dass die Botschaft des Olympischen Fackellaufs eine der Harmonie und Menschlichkeit ist, wird in der Aktennotiz noch hinzugefügt: „Das IOC ist eine Sportorganisation. Es ist unpassend für uns, die Benutzung von Orten zu diktieren, welche für eine große Anzahl von Menschen eventuell eine historische und politische Bedeutung haben können.“
IOC und BOCOG führen Beispiele für die Art der „Krise“ an, die während des Fackellaufs auftauchen könnte. Bei Demonstrationen soll den Medien mitgeteilt werden, dass es normal ist, dass einige Gruppen den Fackellauf nutzen wollen, um „ihr Anliegen in den Mittelpunkt der Medieninteressen, die sich auf die Pekinger Olympischen Spiele richten, zu bringen“.
Beileidsbezeugungen inklusive
Wenn die Verwandten von „verschwundenen“ Personen während des Fackellaufs demonstrieren, empfiehlt die Aktennotiz, zu sagen, dass man die Besorgnis der Familien teilt und hofft, dass die chinesischen Behörden Licht in diese Angelegenheit bringen. Und wiederum wird empfohlen, dass die Verantwortung auf die Menschenrechtsorganisationen gelegt werden sollte, die die Spiele nutzen, um ihr Anliegen zu bewerben. Im Falle einer „extremen Krise“ schlagen IOC und BOCOG vor, keinen Kommentar abzugeben oder – der Gipfel des Zynismus – Beileidsbezeugungen für mögliche Opfer abzugeben.
Um den verschiedenen Akteuren der Olympischen Bewegung zu helfen, irgendwelche Vorfälle oder Krisen zu bewältigen, verkündet die Aktennotiz, dass ein Krisenmanagement-Team unter der Führung des IOC-Präsidenten Jacques Rogge geschaffen wurde. Es heißt jedoch zusätzlich, dass das Pekinger Organisationskomitee verantwortlich für notwendige Aktionen auf diesem Gebiet ist.
Schließlich wiederholt die Aktennotiz am Ende die Notwendigkeit, sich nicht in Chinas internationale Angelegenheiten einzumischen. „Das IOC hat nicht das Gefühl, dass es passend ist, dass die Regularien und Gesetze eines Landes in Frage gestellt werden. (S) Dies heißt jedoch nicht, dass das IOC nicht deutlich machen kann, dass es Meinungsfreiheit unterstützt.“
Zeit zum Handeln
Reporter ohne Grenzen sagen: „IOC-Präsident Jacques Rogge wird die Olympischen Spiele nicht aus der misslichen Lage herauswinden, indem er Athleten davon abhält, ihre Meinung auszudrücken. Er muss im Gegenteil die chinesische Regierung überzeugen, ihre Betrachtungsweise der Olympischen Spiele vollständig zu ändern. Die Zeit ist vorbei, wo man, wie in dieser Aktennotiz, sagen kann, dass Kritik an China einfach ‚Unmut und Schwierigkeiten’ schaffen wird. Es ist Zeit zum Handeln, um zu retten, was vom Olympischen Geist für die Pekinger Spiele noch übrig geblieben ist.“ (Sonja Flesch-Reiss / rsf)
Weitere Informationen:
Reporters Without Borders (http://www.rsf.org/article.php3?id_article=26384)
Reporter ohne Grenzen (http://www.reporter-ohne-grenzen.de/)
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