Vor 70 Jahren: Keimzelle des Grundgesetzes auf Herrenchiemsee

100 Jahre Freistaat Bayern, 200 Jahre bayerische Verfassung - denkt da noch jemand an die Keimzelle des Grundgesetzes? Die ersten, aber maßgeblichen Beratungen fanden vor 70 Jahren fernab zerstörter Städte statt. Ein Geburtsfehler wirkt aber bis…
Epoch Times9. August 2018
Im blütenweißen Hemd und dunkelblauen Jackett steht Gerhard Waschin in einem Raum mit Blick auf den Chiemgau. «Was hat die Sache beschleunigt? Das Wetter und die Mücken!» Die Sache – das ist der Verfassungskonvent Herrenchiemsee, der vor 70 Jahren im Sommer 1948 auf der kleinen Insel im «bayerischen Meer» abgehalten wurde. Relativ unbemerkt von der Öffentlichkeit und misstrauisch beobachtet von der großen Politik trafen sich dort vom 10. bis 23. August Vertreter der westdeutschen Länder, um Grundlagen für eine Verfassung zu erarbeiten, die dem besiegten Land, das einmal das Deutsche Reich war, einen juristischen Neustart ermöglichen sollte. Und wie war es im August? Heiß, und die Mücken surrten, berichtet Waschin. Kein Ort, um lange zu verweilen, trotz der idyllischen Lage fern von Kriegstrümmern, und so wollten viele schnell fertig werden. Waschin führt fast ein Menschenleben später ebenfalls an einem Sommertag eine Gruppe Geschichtslehrer durch die Ausstellung im Augustiner-Chorherrenstift, wo 1948 getagt wurde. Der Raum, einst das Speisezimmer von König Ludwig II., ist original erhalten, und anhand der Sitzordnung, die ausliegt, sieht man, wer sich damals um die Verfassung für die noch gar nicht existierende Bundesrepublik stritt. «Was hat man genommen?», fragt Waschin in den holzvertäfelten Raum hinein. «Man hat alte Nazis genommen.» In der Tat saßen damals Männer, die das NS-Regime unterstützt hatten, wie der Staatsrechtler Theodor Maunz, neben KZ-Überlebenden wie Hermann Brill. Der Jurist, ehemaliger SPD-Reichstagsabgeordneter und entschiedener Gegner Hitlers, führte während des Konvents ein Tagebuch, in dem er seine Mitstreiter oder vielleicht doch eher Widersacher und die Auseinandersetzungen mit ihnen beschrieb. Carlo Schmid, damals Stellvertretender Staatspräsident und Justizminister von Württemberg-Hohenzollern, erscheint darin «wie Moby Dick, der gern Kapitän Ahab morden möchte», weil Gastgeber Adolf Pfeiffer, Leiter der bayerischen Staatskanzlei, der Versammlung das Etikett «Verfassungskonvent» aufdrückte. Der Auftrag für diese Zusammenarbeit sei nämlich gar nicht so klar gewesen, sagt Walther Michl, Verfassungsrechtsexperte und Akademischer Rat an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. In der britischen Besatzungszone etwa habe man kein politisches Mandat für die Versammlung gesehen, in der amerikanischen und der französischen dagegen hätten Vertreter wie Schmid auf politische Entscheidungen gedrungen. Michl wertet die Ergebnisse des Konvents, die in wichtigen Teilen vom Parlamentarischen Rat in das Grundgesetz aufgenommen wurden, als «sehr bedeutende Grundlage». Der Rat, mit Konrad Adenauer als Präsident, begann seine Tagung nur neun Tage nach Herrenchiemsee. Wesentliche Bereiche, die das Grundgesetz kennzeichneten, seien «in Herrenchiemsee aufs Gleis gesetzt» worden, erläutert Michl. Neu für eine deutsche Verfassung und in Herrenchiemsee bereits vorgeschlagen worden sei, dass die Verfassung mit dem Grundrechtsteil beginnt – sehr maßgeblichen Einfluss habe der KZ-Überlebende Brill darauf gehabt -, dass ein Bundesverfassungsgericht eingerichtet wird, das Verstöße gegen die Verfassung ahnden kann, zudem die Möglichkeit eines konstruktiven Misstrauensvotums, die reduzierte Stellung des Bundespräsidenten (Michl: «kein Ersatzkaiser mehr, eher eine Ersatzqueen»), und die Ewigkeitsklausel, die manche Bestimmungen des Grundgesetzes für unaufhebbar erklärt. Dahinter stehe die Annahme, dass es auch verfassungswidriges Verfassungsrecht geben könne, so Michl – die furchtbaren Erfahrungen aus der NS-Zeit standen hinter vielen Vorschlägen, die der Konvent festhielt. Umstritten war auch, welches Ausmaß der Föderalismus haben sollte. Der Bayer Pfeiffer hat auf eine starke Länderposition geachtet, sagt Michl. Ein Punkt, der auch ins Grundgesetz einging, hat sich nach Michls Ansicht nicht bewährt: die Tatsache, dass sich der Bundestag nicht selbst auflösen kann. Der Kanzler muss erst die Vertrauensfrage stellen und diese negativ beantwortet werden, damit Neuwahlen möglich sind. «Es hat sich eine unehrliche Variante eingeschlichen», sagt Michl – wie bei Helmut Kohl 1982, als er Neuwahlen nach der Ablösung von Helmut Schmidt als Bestätigung seiner Politik erreichen wollte. Gästeführer Gerhard Waschin führt seine Gruppe weiter, erzählt von geizigen Konventteilnehmern. Die mussten nämlich für eventuell mitgereiste Gattinnen selbst zahlen. «Da haben die ganz schön geknausert am Trinkgeld.» Seit Anfang des Jahres führt Waschin unter dem Motto «Verfassungsinsel Herrenchiemsee» vor allem Erwachsene durch die Ausstellung. Polizeischüler, Juristen, Lehrer. «Das wird gut angenommen.» Vielleicht trägt das Jubiläum dazu bei, denn die Ausstellung selbst existiert schon 20 Jahre und «ist eigentlich wenig beachtet worden». «Kaum einer weiß noch, dass dort innerhalb von 14 Tagen das Grundgesetz entstanden ist», sagte auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 2017 über Herrenchiemsee.Die Erinnerung soll man Michls Ansicht nach aber aufrechterhalten. «Es wäre gut, daran zu erinnern, dass die Dinge, die das Grundgesetz besonders machen, in Herrenchiemsee erarbeitet wurden» – dazu zählt der Jurist das starke Bundesverfassungsgericht. «Das könnte man stärker in die Erinnerungskultur aufnehmen.» Hermann Brill konnte ein recht zufriedenes Fazit ziehen: «Trotz der menschlich unzureichenden Basis der Beratungen über die Grundrechte freue ich mich, in all diesen Punkten der Sache eine bestimmte Richtung gegeben zu haben».

(dpa)


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