Autofrei: Wie sich Verkehrsprojekte auf das Wohnen auswirken
Die Arbeiten am neuen Gesicht des Graefekiezes in Berlin-Kreuzberg haben schon begonnen: Baustellen-Absperrungen markieren Dutzende Parkplätze, die hier wegfallen sollen. Hunderte weitere werden in den kommenden Monaten folgen. Einige davon werden in Grün- oder Ladeflächen umgewandelt. Auf anderen sollen die Anwohner selbst entscheiden und gestalten, was dort entstehen soll. „Wie wird eine Straße mit weniger Parkplätzen zu einem lebenswerten Stadtraum?“, fragen die Projektverantwortlichen auf ihrer Internetseite. Mit dem Vorhaben im Graefekiez wollen sie eine Antwort darauf finden.
Wissenschaftlich begleitete Verkehrsprojekte wie diese, bei denen Autos zumindest vorübergehend weichen müssen, damit Radfahrer, spielende Kinder und Fußgänger mehr Platz haben, gibt es auch in anderen Großstädten. Im Münchner Stadtteil Untergiesing machten jüngst verkehrsberuhigende Maßnahmen in der Kolumbusstraße Schlagzeilen. In Köln kippte das Verwaltungsgericht vor einigen Tagen einen entsprechenden Verkehrsversuch auf der Deutzer Freiheit.
In der aufgeheizten Debatte gibt es aber Gegenargumente, bei denen Verkehrsforscher aufhorchen. Ein solches lautet: Dort, wo Parkplätze und Autos weichen müssen, würden Kieze und Quartiere teurer. Die Maßnahmen beförderten Verdrängung und Gentrifizierung. Träfe das zu, würden die Kieze ohne Autos zwar lebenswerter – aber nur für diejenigen, die sich die Gegend auch leisten können. Ist das so?
Führt die Verkehrswende zur Gentrifizierung?
„Der Zusammenhang ist grundsätzlich erstmal denkbar“, sagt Matthias Wanner, Verkehrsforscher beim Wuppertal Institut, einer gemeinnützigen Forschungseinrichtung. Doch wissenschaftliche Untersuchungen dazu gebe es bislang kaum. „Man muss an der Stelle differenzieren, was passiert: Wird Parkraum verknappt oder verteuert? Wird der Durchgangsverkehr erschwert? Unterschiedliche Maßnahmen haben unterschiedliche Effekte.“
Es gibt einige Fakten, die gegen die These sprechen, dass weniger Autos höhere Mieten und Verdrängung befördern. Einer davon: Je weniger Geld die Menschen haben, umso weniger Autos haben sie.
Im Jahr 2018 hatte mehr als die Hälfte der Menschen mit sehr niedrigem ökonomischen Status gar kein Auto, wie aus Daten des Umweltbundesamts hervorgeht. Bei Menschen mit sehr hohen Einkommen waren dagegen lediglich acht Prozent ganz ohne Pkw unterwegs. „Man könnte also auch argumentieren, dass ich ein Quartier gerade für einkommensstarke Gruppen unattraktiv mache, wenn ich es von vornherein in seiner Autonutzbarkeit einschränke“, sagt Wanner.
London: Verkehrsberuhigte Zonen gerecht verteilt
Doch so einfach ist es nicht. Umfragen vor dem Versuchsprojekt im Graefekiez hätten gezeigt, dass die Zustimmung zu den Einschränkungen für das Auto mit wachsendem Bildungs- und Einkommensniveau gestiegen ist, sagt Verkehrsforscher Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. „Je niedriger das Einkommen und das Bildungsniveau waren, desto kritischer sah man das Vorhaben und das korreliert auch nicht mit dem Autobesitz“, betont er.
Knie sieht daher einen Zusammenhang zwischen Gentrifizierung und verkehrsberuhigenden Maßnahmen – aber genau umgekehrt: „Da wo Gebiete schon vorher gentrifiziert wurden, da wo inzwischen vor allem die höheren Bildungsschichten sitzen, da finden auch Verkehrsberuhigungen statt.“
Auch in diesem Punkt ist die Forschungslage allerdings dünn. Der gemeinnützige Verkehrsclub Deutschland verweist auf eine Studie unter anderem der Universität Westminster im „Journal of Transport Geography“ aus dem Jahr 2021. Darin haben die Autorinnen die Verteilung von verkehrsberuhigten Arealen im Londoner Stadtgebiet untersucht. Sie kommen zu dem Schluss, dass sich zumindest auf Ebene der Londoner Distrikte Verkehrsberuhigungen relativ gleichmäßig verteilen auf weniger und stärker benachteiligte Gebiete. Doch solche Analysen lassen wenig Rückschlüsse auf andere Städte oder Länder zu.
Akzeptanz der Anwohner ist gefragt
Einen Zusammenhang zwischen verkehrsberuhigenden Maßnahmen und der sozialen Durchmischung von Quartieren schließen allerdings auch Anne Klein-Hitpaß und Ricarda Pätzold, Verkehrs- und Sozialforscherinnen beim Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin, nicht aus. „Die Annahme ist plausibel, dass genau das passiert“, sagt Pätzold.
Gleichwohl wollen sie diesen Umstand als Argument gegen verkehrliche Maßnahmen nicht gelten lassen. „Das Argument taucht immer auf, wenn eine Ausrede gesucht wird, wenn etwas nicht gewollt ist“, betont Klein-Hitpaß. Doch deshalb könne nicht darauf verzichtet werden, Gebiete für Menschen attraktiver und lebenswerter zu gestalten.
Eine eindeutige Antwort auf die Frage gibt es aus Sicht der Wissenschaft damit nicht. Vielmehr bleiben mögliche Auswirkungen verkehrspolitischer Maßnahmen auf die Zusammensetzung der Quartiere aus Sicht der Fachleute etwas, das die Kommunalpolitik im Auge behalten muss, um bei Bedarf sozial gegenzusteuern. Denn eine funktionierende Verkehrswende braucht die Akzeptanz der Anwohner. (dpa/dl)
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