Baberowski: „Linke lassen andere den Preis für ihre Ideen bezahlen“
Während Gegner wie seine frühere Schülerin, die Ethnologin Irma Kreiten, ihm regelmäßig „neo-imperiale Geschichtsklitterung“, „Putinismus“ und weitere garstige Dinge vorwerfen, gilt der Berliner Historiker Jörg Baberowski vor allem im klassisch-liberalen und konservativen Spektrum als einer der bedeutendsten Denker der Gegenwart.
Jüngst sprach er in einem ausführlichen Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) über seinen politischen Weg und darüber, wie er als früherer Anhänger marxistischer Theorien zum heutigen Wortführer eines skeptisch-konservativen Liberalismus wurde.
Die Entwicklung in Russland helfe zu verstehen, warum gleichsam die ganze Welt außerhalb Westeuropas konservativ geworden sei und mittlerweile auch Westeuropa selbst diesem Trend immer weniger standhalten könne.
Der postsowjetische Konservatismus der Gegenwart sei eine Konsequenz aus den Erfahrungen der Verunsicherung und der Unordnung, die auf den Zerstörungen durch das Sowjetsystem und die daran anschließenden, chaotischen 1990er gründe.
„In den neunziger Jahren war ich oft in Russland und habe gesehen, was Chaos im Leben bewirken kann“, erklärt Baberowski. „Freiheit und Ordnung sind keine Gegensätze. Ordnung ist der Grund, auf dem die Freiheit gedeiht. Konservative wissen das. In Russland weiß es jeder.“
Staat muss Bürgern ihre Lebensführung ermöglichen, nicht verordnen
Es sei nicht die Aufgabe des Staates, für das Glück oder die Perfektion der Bürger zu sorgen, sondern einen Raum zu schaffen, in dem die Verschiedenen sich in der Kultur der höflichen Nichtbeachtung einrichten könnten. Von Möglichkeiten könne aber nur Gebrauch machen, wer geschützt sei, also in Anspruch nehmen könne, was er will. Die liberale Ordnung lebe von ihrer Erzwingbarkeit. Man könne dementsprechend überhaupt nicht liberal sein, ohne auch einzugestehen, dass Freiheit auf Voraussetzungen beruht.
Es sollte den Staat nichts angehen, was seine Bürger denken oder wie sie ihr Leben einrichten. Aber er muss die Bedingungen so einrichten, dass die Bürger allen Widrigkeiten zum Trotz ihr Leben leben können.“
Die Irrungen der radikalen Aufklärung, der sich westliche Intellektuelle auch heute noch verschrieben hätten, beruhten auf der Vorstellung einer Emanzipation des Geistes von den Institutionen. Der Mensch sei demnach der Schöpfer seiner Welt und könne diese nach Belieben beherrschen. Der voraussetzungslose Mensch könne tun und lassen, was er wolle, weil er vernunftbegabt sei und sich keiner letzten, unbegründeten Ordnung mehr unterwerfen müsse.
Menschen lassen sich nicht beliebig zurichten
Diese Annahme sei jedoch falsch, weil sie die Gebundenheit der menschlichen Existenz leugne. Konservative seien sich mit den Romantikern in der Entdeckung einig, dass der Mensch ein Ausdruckswesen sei, durch das etwas hindurchspreche: Religion, Sprache, Kultur.
Der Mensch steht in Überlieferungszusammenhängen, er hat einen Ort und eine Geschichte. Der Mensch ist also nicht nur ein Meister, sondern auch ein Ausdruck seiner Umstände, und diese kann er nicht beliebig zurichten.
Von Hegel stammt der bestechende Gedanke, dass der Einzelne dem Staat in der Familie, im Stand, in der Korporation und in der Religion gegenübertritt. Es gibt gar keinen Menschen an sich. Ein Mensch, der nur Individuum wäre, könnte sich gegen die Macht gar nicht behaupten. Er würde zum Opfer despotischer Gewalt.“
Da die Linke dennoch an ihrem Bild der beliebigen Formbarkeit und Erziehbarkeit des Menschen festhalte, bleibe ihr Menschenbild unrealistischer als das Konservative. Die Konsequenz daraus sei jedoch, dass progressive Gesellschaftsexperimente überall scheitern, wo sie in Angriff genommen werden:
Alle großen Weltverbesserungsprojekte haben nichts als Elend und Gewalt produziert. Sie sind gescheitert, weil sie auf menschliche Möglichkeiten keine Rücksicht genommen haben.“
Der Mensch sei aus krummem Holz geschnitzt, er könne sich jederzeit gegen die selbstgegebenen Regeln der Vernunft entscheiden. Diese Erkenntnis habe ihn, so Baberowski, dazu veranlasst, sich gegen alle sozialtechnologischen Vorstellungen zu wenden und den Anspruch zu erheben, mit den Mitteln der Politik eine perfekte Gesellschaft zu schaffen.
Mehrheit zieht Ordnung der Grenzenlosigkeit vor
Dass mittlerweile auch Westeuropa konservativen Anfechtungen ausgesetzt ist, führt Baberowski darauf zurück, dass nach den goldenen Nachkriegsjahren jetzt die Erfahrung der Verunsicherung zurückkomme. Die täglich erlebte Realität behaupte sich – zumindest abseits der privilegierten Lebenswelten – immer mehr gegen die Deutungsmacht der Ideologen:
Die linken Eliten, die im Westen Europas darüber entscheiden, was gesagt werden darf, versuchen den Bürgern einzureden, sie müssten die Verunsicherung, die durch die Globalisierung, durch Masseneinwanderung und Kriminalität entsteht, als Preis für eine offene Gesellschaft begreifen.
Solange sie aber selbst keinen Preis entrichten müssen, werden sie nicht verstehen, warum manche der Ordnung den Vorzug gegenüber der Grenzenlosigkeit geben.“
Baberowski erklärt jedoch auch, warum in Gesellschaften wie den westeuropäischen, zumindest solange sie keinen großen Anfechtungen ausgesetzt sind, eine so starke kulturelle Hegemonie der Linken möglich ist. Konservative seien machtpolitisch den Linken in mehrerlei Hinsicht unterlegen.
Das liege zum einen daran, dass sich Konservative, die sich im Selbstverständlichen wissen, Tag für Tag wie von selbst verrichten, was getan werden muss, gar nicht permanent der Gebundenheit des eigenen Handelns bewusst wären.
Solche Reflexion über den eigenen kulturellen Ort entstehe erst, wenn man von anderen herausgefordert oder abgelehnt wird.
Zum anderen seien Konservative im politischen Kampf unterlegen, weil es ihnen zuwider sei, sich in Herden zu organisieren, Ideen wie Ikonen zu verehren und endgültige Wahrheiten herauszuschreien:
„Stil und Skepsis sind nicht massentauglich und im Kampf um Macht und Einfluss ohne Gewicht. Hingegen können Konservative mit Kritik besser umgehen als jene, die glauben, im Besitz der letzten Wahrheit zu sein, weil sie wissen, dass die Welt nicht eindeutig, sondern vielstimmig ist.“
„Nicht alle wollen, was der Intellektuelle will“
Baberowski lehnt die Vorstellung eines Fortschritts nicht als solche ab, betont jedoch die Notwendigkeit, einen solchen innerhalb der Überlieferungszusammenhänge zu vollziehen statt gegen diese zu erzwingen:
„Schmerzfreie Veränderungen gibt es nur, wenn sie sich im Gewand der Sprachen, Sitten und Gewohnheiten derer vollziehen, die sie ertragen müssen. Und wenn die Bürger von der Notwendigkeit, dass sich ihr Leben ändert, selbst überzeugt sind. Konservative würden sagen: Veränderungen müssen tatsächlich als Verbesserung des Lebens wahrgenommen werden.“
Ihm, Baberowski, würde es schon reichen, wenn sich „herumspräche, dass Bedürfnisse, Lebensorte und Erfahrungen von Menschen verschieden sind und nicht alle wollen, was der Intellektuelle will.
Man kann Menschen nicht ihre materielle und geistige Heimat nehmen und sich dann über die Wut der Heimatlosen beklagen.“
Unterdessen ist sich der Historiker auch der Unwägbarkeiten des Menschenbildes der Liberalen bewusst. Deren Vorstellung, dass der Mensch frei und Herr seiner Entscheidungen und dass der Freiheitsraum ein Ort der Möglichkeiten sei, in dem er sich frei entfalten darf, sei richtig.
Liberale würden jedoch übersehen, dass diese Position leicht zu vertreten sei, wenn man die Konsequenzen von politischen Entscheidungen nicht selbst tragen muss, weil man sich ihnen jederzeit entziehen kann.
Wer arm und ohne Einfluss sei, habe diese Möglichkeiten nicht:
„Liberale haben keinen Begriff von Anerkennung, Würde, Gerechtigkeit, die vielen Menschen wichtiger sind als der Raum, zu dem der Staat sich keinen Zugang verschaffen kann, oder das Recht, ihre Meinung zu sagen. Es gibt nicht nur negative Freiheit, die den Raum definiert, in dem man sich ohne Behinderung durch andere entfalten darf, es gibt auch eine Freiheit, die aus dem Streben nach Anerkennung kommt. Sie ist auch mit autoritärer Ordnung vereinbar, weil die meisten Menschen gar nicht sich entfalten, sondern anerkannt und respektiert werden wollen. Für ein solches Streben nach Anerkennung aber haben Liberale kein Verständnis.“
Dezentralisierung nimmt Tugendwächtern ihre Macht
Als bezeichnendes Beispiel dafür nennt Baberowski das linksliberale Berliner Milieu, das die Buntheit predige, aber selbst rechtzeitig vor der Einschulung ihrer Kinder den Stadtteil wechsle:
„Sie richten sich in der ethnisch homogenen Zone ein und empfehlen anderen, die Lasten der Wirklichkeit zu tragen. Sie sprechen von liberaler Freiheit und wundern sich darüber, dass diejenigen, die Fehlentscheidungen bewältigen müssen, weil sie keine Wahl haben, lieber in einer Ordnung der Anerkennung als an einem Ort der Beliebigkeit leben wollen.“
Als eine der bedeutendsten Gefahren für die Freiheit nennt der Berliner Historiker die fatalistische Haltung, die sich auf den Begriff der „Alternativlosigkeit“ stützt.
So sei die Globalisierung zwar wohl unvermeidlich und biete auch Chancen, aber die Menschen müssten darauf achten, die Entscheidungshoheit über ihr Leben zu bewahren. Wenn Wahlentscheidungen keine Rolle mehr spielten, wenn das Leben von unsichtbaren Strukturen beherrscht werde, die Menschen als Bedrückung empfinden, müssten sie sich wehren – widrigenfalls es mit der Freiheit vorbei sei.
„Wir müssen die wichtigen Entscheidungen, die das Leben betreffen, an den Ort zurückbringen, wo Bürger zu Hause sind. Die Dezentralisierung des Politischen ist auch ein Weg, den Tugendwächtern ihre Macht über die Auslegung des Lebens zu nehmen.“
Nationalstaat ein Garant für Entfaltungsfreiheit
Die Bewahrung und Rückgewinnung der Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit sei auch eine Voraussetzung für den Weiterbestand von Demokratie. Wer das Gefühl habe, in seiner Umgebung nichts mehr bewirken zu können, in ihr nicht mehr heimisch zu sein und daran auch nichts ändern zu können, brauche eine solche nämlich nicht mehr. Der Nationalstaat sei dabei das Instrument, mit dem sich das Politische seinen Handlungsspielraum zurückerobere.
Für Baberowski steht fest:
„Es gibt keine Freiheit ohne einen Ort, von dem aus man in die Freiheit kommen kann.“
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