Warum die „Zeitenwende“ bei VW die Alarmglocken schrillen lässt

Der bloß laut geäußerte Gedanke der Konzernspitze bei VW an mögliche Werksschließungen in Deutschland versetzt das Land in Aufruhr. Die Bedeutung des Konzerns ist nicht nur eine symbolische. Eine Krise bei Volkswagen könnte das internationale Vertrauen in den Standort Deutschland erschüttern.
Wegen des Mangels an Mikrochips kann der VW-Standort Wolfsburg nicht am bisherigen Schichtmodell festhalten.
VW in der Krise.Foto: Julian Stratenschulte/dpa
Von 4. September 2024

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Noch ist nichts passiert, und es gibt bis jetzt nicht einmal konkrete Ankündigungen. Doch der Umstand, dass VW im Anschluss an eine Führungskräftetagung allein die Möglichkeit künftiger tiefgreifender Veränderungen ins Auge gefasst hat, reicht aus, um Politik und Öffentlichkeit in einen Schockzustand zu versetzen.

Die Rede ist von einem Sparprogramm, das der Volkswagen-Konzern erwägt. Die seit 1994 geltende Zusage des Verzichts auf betriebsbedingte Kündigungen bis 2029 soll angekündigt werden. Sozialverträgliche Lösungen wie Altersteilzeit und vorzeitiger Ruhestand gegen Abfindung würden nicht mehr ausreichen, um die Einsparziele im Personalbereich zu erreichen. Auch Werksschließungen in Deutschland, wo VW knapp 299.000 Menschen und damit fast jeden hundertsten sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigen beschäftigt, sollen kein Tabu mehr sein.

VW-Käfer als Symbol des deutschen Wirtschaftswunders

Ob es tatsächlich zu solchen Maßnahmen kommen wird, ist unklar. Für Entsetzen nicht nur bei Betriebsräten und Gewerkschaften sorgt der bloße Gedanke, dass man im Management von VW zu solchen Gedankenspielen neigt.

Der Konzern ist über die Generationen hinweg zu einem Symbol der Stärken der alten Bundesrepublik geworden: VW stand für Stabilität und Wohlstand und für die Überzeugung, dass deutsche Wertarbeit der Schlüssel zu dessen Erhalt sein wird.

VW prägte mit seinem Käfer die Wirtschaftswunderjahre. Im Jahr 1950 war der 100.000ste davon vom Band gelaufen. Schon 1953 waren mehr als 500.000 Einheiten dieser Marke produziert. Im Jahr vor dem „Wunder von Bern“ hatte VW in der westdeutschen Autoindustrie einen Anteil von 42,5 Prozent an der Gesamtproduktion.

Bis zum Jahr 1965 stieg die Anzahl der produzierten VW-Käfer auf mehr als eine Million. Binnen zweier Jahre verzehnfachte sie sich. Zu diesem Zeitpunkt fertigte der Konzern seine Modelle nicht mehr nur am Stammsitz in Wolfsburg, sondern auch in Hannover, Kassel, Braunschweig und Emden.

Die „Generation Golf“ als letzte Zeugin von wirtschaftlichem Wohlstand in Deutschland?

VW blieb jedoch nicht nur untrennbar mit dem Wirtschaftswunder verbunden. Der Konzern überstand die Wirtschaftskrisen der 1970er-Jahre unbeschadet und setzte bereits in den 1980er-Jahren wieder Maßstäbe. Die „Generation Golf“ wurde zu einer Bezeichnung für eine gesamte Generation.

Das erstmals 1974 produzierte Grundmodell des Golfs, das bis 1983 hergestellt wurde, verkaufte sich über sechs Millionen Mal. Auf weitere 6,41 Millionen beliefen sich anschließend die Verkaufszahlen des Golf II, der von 1983 bis 1991 über die Fließbänder lief. Vor allem jüngere Menschen, die beruflich Fuß gefasst hatten, und junge Familien fanden Gefallen am Golf. Der Marktanteil in seiner Klasse betrug etwa ein Viertel.

Neben der eigenen Modellpalette erweiterte der Volkswagen-Konzern sein Portfolio auch durch den Erwerb anderer Unternehmen und ihrer Marken – von Audi über ŠKODA bis zu SEAT, Bentley, Lamborghini oder Porsche. Neben der Pkw-Sparte baute VW auch die Produktion von Nutzfahrzeugen deutlich aus.

Rechnet man weltweit alle Standorte, alle Marken und alle Vertriebswege zusammen, kam der Volkswagen-Konzern im Jahr 2023 auf etwa 684.000 Beschäftigte. Zehn Jahre zuvor waren es etwa 563.066 gewesen. Sogar in einem Land mit rudimentär ausgeprägter Aktienkultur wie Deutschland gehört die VW-Aktie zu den wenigen Börsentiteln, deren Besitz auch in breiteren Bevölkerungsschichten verbreitet ist.

Die deutsche Autoindustrie und ihre Wohlstandslöhne werten auch Nachbarregionen auf

Noch bedeutender als die symbolische Verbindung von VW-Kultmarken mit dem Wirtschaftswunder ist in der deutschen Öffentlichkeit jedoch die Verbindung des Konzerns mit Wohlstand. Die deutsche Automobilindustrie im Allgemeinen und VW im Besonderen stehen für Wohlstandslöhne, die über die Beschäftigten hinaus ganze Regionen in Deutschland wirtschaftlich aufwerten.

Allein in Niedersachsen, wo sich jeder fünfte Arbeitsplatz im VW-Konzern befindet, trägt dieser einer Studie der Norddeutschen Landesbank von 2017 zufolge zu mehr als der Hälfte zur Wertschöpfung der 50 größten Arbeitgeber des Bundeslandes bei.

Wolfsburg steht nicht zuletzt deshalb deutschlandweit an der Spitze der Liste der etwa 400 deutschen Städte und Landkreise mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen, wie „Welt“ berichtete. Mit 64.600 Euro jährlichem Durchschnittsbruttolohn lag Wolfsburg im Jahr 2022 um nicht weniger als 62 Prozent über dem bundesweiten Schnitt von 39.800 Euro.

Ähnlich sieht es auch an anderen Standorten aus: Im sächsischen Zwickau verdienten die Beschäftigten im Jahr 2022 rund 34.300 Euro brutto im Jahr. Das ist deutlich mehr als im Umland. Der Wohlstandseffekt ist sogar noch in angrenzenden Regionen zu verzeichnen, wie beispielsweise in Greiz.

Eine Zäsur im Image des Autobauers brachte der Abgasskandal des Jahres 2015. Auch um dem Imageverlust entgegenzuwirken, gelobte der Konzern, zu einem Vorreiter in der Elektromobilität zu werden. Im Jahr 2020 erklärte der Konzern, seine Investitionen in „Zukunftstechnologien“ auf 73 Milliarden Euro auszuweiten.

„Strukturwandel hin zu schlechter bezahlten Jobs“

Die Gewinne erzielt VW jedoch nach wie vor mit traditionellen Antrieben. Gleichzeitig steht der Konzern vor Herausforderungen wie der weiterhin geringen Nachfrage nach E-Autos in den USA und Europa, der chinesischen Billigkonkurrenz und der Unsicherheit über die Zukunft der Branche.

Carsten Brzeski, Chefökonom Deutschland bei ING, wartet gegenüber der „Welt“ mit einer düsteren Prognose auf. Er spricht von einem sich abzeichnenden „Strukturwandel hin zu schlechter bezahlten Jobs“. Die Wettbewerbs- und Gewinnsituation von VW habe sich in den vergangenen Jahren deutlich eingetrübt. Erstmals zeichneten sich krisenhafte Entwicklungen nicht mehr nur im Mittelstand, sondern bei einem großen DAX-Unternehmen ab.

Auch die Aktie ist unter Druck. Zum Handelsschluss am Dienstag, 3. September, notierte sie bei 96,38 Euro – 16 Prozent weniger als noch drei Monate zuvor. Mitte der 2010er-Jahre, vor dem Abgasskandal, war der Titel noch für knapp 250 Euro zu haben.



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