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Bundesverfassungsgericht

Zweimal für selbe Tat angeklagt – Grundsatzentscheidung

Nicht zweimal wegen der gleichen Sache vor Gericht; das war lange eherner Rechtsgrundsatz, auch wenn es um schwere Verbrechen ging. Bis es zu einer Gesetzesänderung kam. Sie ist hochumstritten.

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Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Foto: Uli Deck/dpa

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Lesedauer: 5 Min.

Kaum etwas verstört den Menschen in seinem Rechtsempfinden so sehr, wie die Tatsache, dass ein Unschuldiger für ein schweres Verbrechen im Gefängnis saß. Noch furchtbarer aber dürfte es sein, wenn ein höchstwahrscheinlich Schuldiger nicht im Gefängnis sitzt und aus Mangel an Beweisen freigesprochen wird.
Lange war es praktisch unmöglich, so jemanden nach Auftauchen neuer Fakten nochmals vor Gericht zu stellen. Das hat sich nach einer Gesetzesreform geändert. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe muss vor dem Hintergrund eines spektakulären Mordfalles aus Niedersachsen darüber entscheiden, ob es dabei bleibt.

Was für ein Fall ist das?

Vor über 40 Jahren wird die 17 Jahre alte Schülerin Frederike aus Hambühren bei Celle vergewaltigt und erstochen. Ein Verdächtiger wird festgenommen. Der Mann kommt vor Gericht, wird zu lebenslanger Haft verurteilt, legt dagegen erfolgreich Revision ein und wird 1983 schließlich aus Mangel an Beweisen rechtskräftig freigesprochen.
Dann gibt es eine Wende: Neuere Untersuchungen von DNA-Spuren legen rund 30 Jahre später nahe, dass er doch der Täter ist. Auf Basis der Gesetzesreform aus dem Jahr 2021 wird er dann erneut verhaftet und soll zum zweiten Mal vor Gericht. Dagegen legt der Mann Verfassungsbeschwerde ein. Das höchste deutsche Gericht verfügt nach einem Eilantrag seine Freilassung aus der Untersuchungshaft.

Was ist das für eine Gesetzesreform?

Eine umstrittene Änderung in der Strafprozessordnung steht auf dem Prüfstand – die Erweiterung des Paragrafen 362 um Ziffer 5. Diese trat Ende 2021 in Kraft. Demnach soll eine Wiederaufnahme eines Falles „zuungunsten“ eines Angeklagten auch dann möglich sein, wenn es neue Tatsachen oder Beweise dafür gibt, dass ein einst freigesprochener Angeklagter doch schuldig ist.
Kann also jedes rechtskräftig abgeschlossene Strafverfahren bei neuen Beweisen wieder aufgerollt werden?
Nein. Das soll nur möglich sein in Fällen, in denen es um schwerste Verbrechen wie Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen geht. Wenn gegen einen einst freigesprochenen Angeklagten dann eindeutige neue Tatsachen oder klare Beweise auftauchen, dass er es doch gewesen ist, soll er erneut vor Gericht gestellt werden können. Bis zu der Änderung der Strafprozessordnung war das nur bei schweren Verfahrensfehlern möglich oder dann, wenn der Freigesprochene im Nachhinein ein Geständnis ablegte.

Was ist jetzt das Problem bei der Neuregelung?

Das höchste deutsche Gericht hat geprüft, ob sie verfassungskonform ist. Denn eigentlich ist die sogenannte strafrechtliche Doppelverfolgung – zweimal wegen desselben Verbrechens vor Gericht – laut Grundgesetz verboten. Es gehe um den Grundsatz im Grundgesetz, dass niemand wegen derselben Straftat mehrmals bestraft werden darf, hatte die Vorsitzende Richterin des Zweiten Senats, Doris König, bei der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe im Mai erklärt.

Gibt es eine europäische Norm?

Eine einheitliche verbindliche Vorgabe gibt es nicht. Der Grundsatz, dass jemand wegen derselben Strafsache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft werden kann, ist in verschiedenen europäischen Konventionen wie der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergeschrieben. Oft lassen die Formulierungen aber Interpretationsspielraum oder enthalten Ausnahmemöglichkeiten.
So lautet zum Beispiel Artikel 4 im 7. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention, dass niemand wegen einer Tat, wegen der er nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Verfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden dürfe. Weiter heißt es aber, der Absatz schließe die Wiederaufnahme des Verfahrens nach Gesetz und Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, „falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist“.

Wie wird es in anderen Ländern gehandhabt?

Die Sachverständige Prof. Tatjana Hörnle vom Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg hat bei der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass es in vielen Ländern Regeln zur Wiederaufnahme von Strafverfahren zuungunsten Angeklagter gebe – teils mit präziserem Wortlaut. In England und Wales ermöglicht der Criminal Justice Act von 2003 das ihren Angaben nach beispielsweise auch bei Vergewaltigung und Kidnapping. Just am Tag der Verhandlung wurde beispielsweise in England ein Mann wegen Mordes verurteilt – rund 30 Jahre nach einem Freispruch. (dpa)

Kommentare

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Michael Kubertvor einem Jahr

Leider müssen wir in der heutigen Zeit auch davon ausgehen, dass der Staat solche Regeln missbrauchen kann, um missliebige Personen zu zerstören. Nur weil der Staat behauptet, jemand sein ein strafwürdiger Täter, ist das ja nicht zwangsläufig auch so. Und wenn ich mich recht erinnere, stammt die Regel genau aus einer Zeit, in der es sehr verbreitet war, politische Gegner mit irgendwelche Fake-Anklagen für immer zu beschäftigen und los zu werden. Zudem erhöht es den Druck, ordentlich zu ermitteln und nicht vorschnell einfach zu probieren, ob's nicht schon für eine Verurteilung reicht (weil man das ja ggf. immer wieder probieren kann und es nicht die letzte Chance ist). Ich empfehle mal einen Blick per Youtube in die USA, wie viele verurteilte Täter sich später als unschuldig raus stellten (auch bei Todesstrafen). Und unsere Justiz wird immer politischer.

Germaniavor einem Jahr

Deutschland mutiert zu einem Land, das Täter schützt und die eigenen Bürger schutzlos in jedes offene Messer laufen läßt, seit 2015 im wahrsten Sinne des Wortes. Über die innere Sicherheit in Deutschland sagt Michael Wolffsohn im focus: " Nicht nur Juden zahlen nun den Preis für eine linke naive Ideologie." Recht hat er!

Eckartvor einem Jahr

Allgemein sagt man ja, dass nur sgn. Vorurteile sich äußerst schwer revidieren lassen - Urteile schon, und das ist auch gut so, denn man denke nur an die viele Verurteilten, bei denen später entlastende Fakten zur Aufhebung führten.

Wenn also diese Richtung zur Revision eines Urteils funktioniert, sollte auch eine neue Urteilsfindung zulässig sein, wenn neue Beweise auftauchen.