
Tübingen will „schwedisches Modell“ in der Corona-Politik – Sonderregeln für alle über 60-Jährigen
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer rechnet nicht damit, dass der derzeitige Corona-Lockdown mit am 30. November enden wird. Er will nun ergänzend dazu in seiner Stadt Maßnahmen nach dem Vorbild Schwedens ergreifen, die gezielt Risikogruppen schützen sollen.

Boris Palmer, Grünen-Politiker und Oberbürgermeister von Tübingen.
Foto: Christoph Schmidt/dpa
Der Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer (Bündnis 90/Die Grünen), hat sich mit einem eigenen Appell an die 90.000 Bürger seiner Stadt gewandt, den das „Schwäbische Tagblatt“ am gestrigen Montag, 2. November, im Wortlaut dokumentierte.
Darin gibt er seiner Befürchtung Ausdruck, dass die derzeitigen Corona-Maßnahmen von Bund und Ländern „weit über den November hinaus verlängert und sogar verschärft werden müssen“. Gleichzeitig erklärt er, seine Stadt arbeite bereits seit einiger Zeit an einem eigenen Konzept, um gezielt die Hauptrisikogruppen zu schützen.
Tübingen setzt auf drei eigene Maßnahmen in der Corona-Politik
Vor allem drei Maßnahmen sind es, die Tübingen schwerpunktmäßig verankert habe, um gezielt das Infektionsrisiko bei älteren Menschen zu minimieren. Seit Anfang September werde das Personal in Alten- und Pflegeheimen regelmäßig auf Corona getestet. Perspektivisch soll dieses Konzept auch auf Besucher ausgeweitet werden.
Bereits seit April haben alle Menschen über 60 Jahre in der Stadt die Möglichkeit, ein Anrufsammeltaxi ohne Aufpreis für Besitzer von Dauerkarten für das städtische Busnetz in Anspruch zu nehmen – andere bezahlen ein Entgelt von Euro 2,50. Im Gegenzug werden Senioren dazu aufgefordert, nicht mehr den regulären städtischen Bus zu benutzen, sondern auf das Taxi oder allenfalls das Fahrrad umzusteigen.
Palmer wirbt um Nutzung der Corona-App
Ebenfalls schon seit dem ersten Lockdown gilt eine Vereinbarung der Stadt mit dem Handels- und Gewerbeverein, die Zeit von 9.30 bis 11 Uhr als ausschließliche Einkaufszeit für Personen über 65 Jahre oder Vorerkrankte zu reservieren. Dazu hat Palmer angekündigt, für alle Bewohner der Stadt über 65 Jahre kostenlos die leistungsfähigeren FFP2-Masken zur Verfügung zu stellen, deren Marktpreis deutlich über jenem für herkömmliche Alltagsmasken liegt.
Palmer benennt in seinem Aufruf auch Taiwan und Südkorea als Vorbilder bezüglich der Kontaktverfolgung. Diese hätten mithilfe optimierter Technik das Virus schnell und effektiv unter Kontrolle gebracht. Der Oberbürgermeister sieht in der Corona-App der Bundesregierung ein ähnlich taugliches Instrument und bedauert deren bisher geringe Nutzung. Aus diesem Grund fordert er die Bevölkerung dazu auf, sich die App zuzulegen:
„Wenn Sie etwas für die Wiederöffnung von Gastronomie und Kultur wie auch für den Schutz der Älteren tun wollen, dann aktivieren Sie bitte spätestens jetzt die Corona-Warn-App.“
Kritische Reaktionen bei Senioren: „Will mich nicht wegsperren lassen“
Tübingen ist als Universitätsstadt und Sitz einer Reihe bedeutender Kliniken und Forschungseinrichtungen eine Kommune, auf die in der Corona-Krise viele Augen gerichtet sind. Kritiker der Lockdown-Maßnahmen verweisen regelmäßig auf das „schwedische Modell“ als Vorbild für ein maximales Schutzniveau bei minimalen Beschränkungen. Zeigt das Tübinger Modell Boris Palmers Erfolge, könnte dies auch den Druck auf Bund und Länder erhöhen, einen anderen Ansatz in der Corona-Politik zu wählen.
Allerdings stößt Palmers Appell nicht überall auf Zustimmung. Vor allem Senioren, die eigentlich die primären Nutznießer dieses Ansatzes sein sollen, melden sich in sozialen Medien kritisch zu Wort. Im Kommentarbereich zu einem YouTube-Video, das sich mit der Thematik befasst, äußern viele ihren Unmut.
„Wollt ihr die älteren Menschen also weiter einsperren? Ich möchte das bitte selbst entscheiden“, äußert sich eine Nutzerin.
Eine andere erklärt: „Jeder sollte selbst entscheiden, ob er/sie geschützt, also eingesperrt werden möchte. Was nützt es der Risikogruppe, wenn die Menschen kein Corona bekommen, aber Depressionen bekommen, weil sie einsam sind?“
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