Corona-Demo am Karsamstag vor Stuttgarter Gemeinderat
Trotz politischem Druck: Stuttgarter Polizeiführer entschied sich gegen Gewalt gegen friedliche Demonstranten
Die Stuttgarter Corona-Demonstration mit 15.000 Teilnehmern am Karsamstag wurde in einer Sondersitzung des Gemeinderates der Landeshauptstadt aufgearbeitet. Stadt- und Polizeiführung wurden kritisiert, die Versammlung erst genehmigt und anschließend nicht gewaltsam beendet zu haben. Auch ein bestellter Rechtsgutachter wurde kritisiert, weil seine Expertise das Grundgesetz verteidigte.

Corona-Demonstration in Berlin am 13. April 2021 vor dem Deutschen Bundestag.
Foto: John MACDOUGALL / AFP
Nach der weitläufig friedlichen Großdemonstration gegen die Corona-Maßnahmen von rund 15.000 Menschen am 3. April in Stuttgart und dem besonnenen Verhalten der Polizei geriet nicht nur der Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) wegen der Genehmigung der Versammlung in die Kritik, weil er „keinen rechtlich begründbaren Ansatz, ein Versammlungsverbot auszusprechen“ sah, sondern auch die Polizei der baden-württembergischen Landeshauptstadt.
Der Leiter der Stuttgarter Schutzpolizei, Carsten Höfler, gab am 15. April ein Statement auf der öffentlichen Sondersitzung des Stuttgarter Gemeinderats zur Aufarbeitung des Demonstrationsgeschehens am Karsamstag ab. Höfler führte den Anwesenden ein Eskalationsszenario vor, was geschehen wäre, wenn die Polizei hart gegen Verstöße von Maskenpflicht und Abstandsregeln vorgegangen wäre und die Versammlung deswegen aufgelöst hätte.
„Dafür stehe ich als Einsatzleiter nicht zur Verfügung“
Tausende Menschen hätten den Platz umgehend verlassen sollen, wären dem aber nicht sofort nachgekommen. Die Polizei hätte dann die Entfernungspflicht gegenüber den Menschen durchsetzen müssen …
„Wir hatten 30-Jährige, 40-, 50-Jährige, 70-Jährige, mit Hund, ohne Hund, mit Kindern. Wir hatten Tausende Menschen unserer bürgerlichen Mitte, die völlig friedlich dort stehen. Manche nennen das ‚ziviler Ungehorsam‘“, betonte Carsten Höfler, Leiter der Stuttgarter Schutzpolizei.
Diese Menschen hätte man dann notfalls mit unmittelbarem Zwang entfernen sollen, „mit Pfefferspray, mit Schlagstock, mit Wasserwerfern (…) von dem Wasengelände runtertreiben“. Das sei unverhältnismäßig. Das kriege er als Einsatzleiter nicht hin.
Deshalb habe er sich als Zuständiger auch eindeutig dagegen ausgesprochen. Final sagte Höfler mit Blick auf die harschen Maßnahmen, die er und sein Team hätten umsetzen müssen, um die friedliche Demonstration aufzulösen: „Dafür stehe ich als Einsatzleiter nicht zur Verfügung.“
Hier das komplette Statement von Polizeihauptkommissar Höfler und alle weiteren Aussagen auf der Gemeinderatssitzung vom 15. April 2021 in Stuttgart.
Renommierter Gutachter attackiert
Ein von der Stadt Stuttgart beauftragtes Rechtsgutachten von Rechtsanwalt und Staatsrat a. D. Dr. Michael Kniesel, ehemals Polizeipräsident von Bonn und Innenstaatssekretär von Bremen, bestätigte die Entscheidung der Stadt, die Versammlung zu genehmigen und den hohen Wert des Versammlungsrechts. Auch wurde dargelegt, dass sowohl die zuständige Versammlungsbehörde als auch die Polizei in der Pflicht seien, „als Beschützer der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit Freiheitsräume für Veränderungen in Gestalt der Austragung politischer Konflikte offen zu halten“. Dies müsse insbesondere in Zeiten von Corona gelten, wo die Parlamente als politische Entscheidungsträger weitgehend ausfallen, heißt es in dem Kurzgutachten, dem eine ausführliche Auswertung der Geschehnisse noch folgen soll.
Michael Kniesel nahm dazu auch Stellung in der Sondersitzung des Gemeinderats (siehe nachfolgendes Video) und berichtete von der gegen ihn daraufhin abgefeuerten Kritik. Die „Stuttgarter Nachrichten“ schrieben, dass Kniesel von „Die Zeit“ auch als „umstrittenster ‚Bulle‘ Deutschlands“ bezeichnet worden sei, weil er im Prinzip das Versammlungsrecht in seinem Wert sehr hoch ansetzte. Die Stadt Stuttgart begründete ihre Wahl des Gutachters auf Nachfrage der Zeitung so: „Herr Kniesel genießt in Sachen Versammlungsrecht einen hervorragenden Ruf, sein Kommentar ist Standard auf diesem Gebiet.“ Das Gutachten wurde von der Stadt auch in Auftrag gegeben, um bei künftigen Entscheidungen zu Demonstrationen eine fachliche Abwägung zurate ziehen zu können.
In der Gemeinderatssitzung sah sich Dr. Kniesel zunächst vor seinen fachlichen Ausführungen gezwungen, die auch medialen Angriffe auf seine Person anzusprechen: „Wenn man in der Sache nichts findet, muss man auf die Person draufhauen“, beklagt Kniesel. Dann werde die Expertise und die Neutralität infrage gestellt.
„Viele erwecken den Eindruck, dass wir im Ausnahmezustand leben würden. Das Grundgesetz kennt keinen Ausnahmezustand. Und wir kennen auch nicht, wie Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung, ein Notverordnungsrecht der Exekutive“, so der Rechtsgutachter Dr. Michael Kniesel.
Man erlebe vielmehr, dass sich die Parlamente mehr oder weniger selbst entmächtigt hätten.
Hinsichtlich des Versammlungsrechts sagte der Experte, dass im Artikel 8 Absatz 1 des Grundgesetzes stehe, „dass Versammlungen bei uns ohne Erlaubnis stattfinden können“, so Kniesel.
„Nach dem Verordnungsregime des Infektionsschutzrechts wird das umgedreht in ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Schlichtweg verfassungswidrig.“
Abschließend erklärte Michael Kniesel noch: „Sie sehen, auch was politisch umstritten sein mag … auf einen gewissen rechtlichen Standard muss man sich schon festlegen und nicht rechtliche Entscheidungen mit politischen Entscheidungen verwechseln.“
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