Soziologe: „Das verbreitete Bild einer gespaltenen Gesellschaft stimmt nicht“

„Was ist los in unserer Gesellschaft?“ – Bundespräsident Steinmeier setzt Gesprächsreihe zum Thema Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft fort. Die Frage nach der Gerechtigkeit müsse mehr ins Zentrum klimapolitischer Debatten rücken.
Demonstranten nehmen an einer Protestveranstaltung unter dem Motto «Demokratie verteidigen» vor dem Reichstagsgebäude teil.
Demonstranten nehmen am 21. Januar 2024 an einer Protestveranstaltung unter dem Motto „Demokratie verteidigen“ in Berlin teil.Foto: Carsten Koall/dpa
Von 2. Februar 2024

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Der Umbau von Gesellschaft und Wirtschaft mit dem Ziel, bis 2045 klimaneutral zu sein, stand im Mittelpunkt einer weiteren Veranstaltung mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. In seinem Amtssitz Schloss Bellevue in Berlin standen die Auswirkungen der Transformation der Gesellschaft im Mittelpunkt. Dazu hatte der SPD-Politiker den Soziologen Prof. Steffen Mau von der Humboldt-Universität Berlin als Gesprächspartner geladen. Im Anschluss bot sich die Möglichkeit zur Diskussion mit den Gästen.

Wie kann es gelingen, den Zusammenhalt zu bewahren?

„Zeiten des Wandels – Wie gelingt gesellschaftlicher Zusammenhalt?“ lautet das Motto der Gesprächsreihe, bei der zum Auftakt im Juni 2023 darüber diskutiert wurde, „wie wir zu einer postfossilen Industrienation werden können, technologisch führend, weltweit vernetzt, besser gewappnet gegen Krisen und Katastrophen“, so Steinmeier in seiner Begrüßungsrede.

Wie Chancen und Risiken wahrgenommen würden, bei wem der Wandel „Vorbehalte und Widerstände“ und wie es in „dieser Zeit der Krisen und Veränderungen gelingen kann, den Zusammenhalt zu bewahren und unsere liberale Demokratie zu verteidigen“, kündigte der Bundespräsident nun als Thema an.

„Was ist los in unserer Gesellschaft?“, fragte Steinmeier mit Blick auf „aufgebrachte Landwirte und Spediteure, die mit Treckern und Lastwagen das Land blockieren“, auf Klimakleber, auf hitzige Debatten, „wenn Reizthemen wie Tempolimit oder Fleischkonsum berührt werden“.

Er sprach von „Bürgerinnen und Bürger, die in Umfragen angeben, bei kommenden Wahlen für Populisten oder Rechtsextremisten stimmen zu wollen“ und erwähnte „aber auch Hunderttausende Menschen aus allen Bevölkerungsschichten, die in ganz Deutschland für Demokratie und Menschenrechte auf die Straße gehen“.

Die Demonstrationen der vergangenen Wochen hätten Zeichen gesetzt, meint Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Die Demonstrationen der vergangenen Wochen hätten Zeichen gesetzt, meint Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Foto: Britta Pedersen/dpa

Mau: Es herrscht zu vielen Themen Konsens

Befasst habe sich damit der Soziologe Prof. Steffen Mau, Steinmeiers Gesprächspartner im Anschluss an die einführenden Worte. In seinem aktuellen Buch „Triggerpunkte“ habe Mau die Konflikte in Deutschland „kartiert und vermessen“. Dabei sei er zu einem „überraschenden Befund“ gekommen. So stimme das „verbreitete Bild einer gespaltenen Gesellschaft, in der sich zwei Gruppen mit entgegengesetzten Weltbildern unversöhnlich oder sogar feindselig gegenüberstehen […] nicht mit der Wirklichkeit überein“. So sei das Gegenteil der Fall: Wenn es um Verteilungsgerechtigkeit gehe, um die Humanität bei der Aufnahme von Flüchtlingen, um das Miteinander der Verschiedenen oder die Sorge um den Klimawandel, dann herrsche in unserer vielfältigen Gesellschaft ziemlich viel Konsens“, laute das Ergebnis von Maus Studie.

Er wolle sie jedoch „auf keinen Fall als Entwarnung verstanden wissen“, fuhr Steinmeier fort. Die Befunde hätten ihn „nachdenklich gemacht und mir vor Augen geführt, wie wichtig es ist, genauer hinzuschauen. Dramatisieren wir nicht jeden Protest, nur weil er gerade besonders viel mediale Aufmerksamkeit bekommt! Hüten wir uns vor Pauschalurteilen, Feindbildern und moralischer Überheblichkeit! Und vor allem: Schließen wir nicht von einzelnen Merkmalen oder Meinungen auf geschlossene politische Weltbilder!“

Die Ergebnisse der Studie belegten „eher das, wovon ich überzeugt bleibe: Uns verbindet in Deutschland mehr als uns trennt – trotz aller nicht zu leugnenden Konflikte, trotz der Lautstärke, mit der sie ausgetragen werden, trotz der Radikalisierung der Sprache.“ Die „allermeisten Menschen“ stünden „fest zur Demokratie des Grundgesetzes. Die allermeisten wollen auch in Zukunft in einer freien und vielfältigen Gesellschaft zusammenleben.“

Bauern und Landwirte demonstrieren am 29. Januar 2024 vor dem Hamburger Hauptbahnhof. Foto: MORRIS MAC MATZEN/AFP via Getty Images

Steinmeier: Das „Leben der Anderen“ bleibt unbekannt

Das bedeute aber nicht, dass es keinen Anlass zur Sorge gebe. „Viele Menschen in unserem Land leben in relativ geschlossenen sozialen Kreisen“, fuhr Steinmeier fort. Die Entfernung der unterschiedlichen Lebenswelten voneinander sei gewachsen, Begegnungen über diese Lebenswelten hinweg seien rar geworden. Das „Leben der Anderen“ bleibe unbekannt – und damit auch die Bedürfnisse und Nöte von Menschen mit anderen Lebensentwürfen und „anderen Grenzen ihrer Möglichkeiten“.

Zu viele Menschen hätten das Vertrauen in die Institutionen und Repräsentanten der liberalen Demokratie verloren. Das liege daran, dass sie sich nicht gesehen, gehört und vertreten fühlten, oder dass vieles, „von der Bahn bis zum Internet“, nicht so funktioniere, wie es sollte. Auch hätten viele den Glauben an den Fortschritt verloren und sorgten sich um ihre Zukunft und die ihrer Kinder.

„Wenn wir die liberale Demokratie stärken und Menschen zurückgewinnen wollen, die sich von ihr abgewandt haben, dann müssen wir auch nach den Ursachen für Enttäuschung, Bitterkeit und Zorn fragen“, so der Bundespräsident.

Die Zeiten seien schwierig, Pandemie, Klimawandel, Wetterkatastrophen und Kriege verunsicherten „wohl jeden von uns“. In dieser Zeit der sich „überlagernden Krisen“ komme nun auch „die Transformation zur nachhaltigen Gesellschaft mehr und mehr in unserem Alltag an“. Die Menschen erlebten „Brüche des Gewohnten“, sie müssten umdenken und anders handeln. „Und es tritt immer deutlicher zutage, dass Chancen und Risiken des Wandels ungleich verteilt sind, dass Zumutungen und Belastungen die Menschen ganz unterschiedlich treffen.“

Klimaaktivisten fordern die Einführung des Klimageldes. Berlin, 30. Januar 2024. Foto: JOHN MACDOUGALL/AFP via Getty Images

Viele sind wegen der erneuten Transformation veränderungsmüde

Die „allermeisten Menschen“ wollten mehr Klimaschutz und eine Politik für gesunde Lebensbedingungen. Wenn es aber um die konkreten Schritte und Veränderungen gehe, dann würden aus Konflikten oft Widerstände. Skeptisch seien dabei oft diejenigen, die in ihrem Leben bereits schwierige Umbrüche bewältigen mussten. Gerade im Osten Deutschlands „wo in einer Generation bereits die dritte große Transformation erlebt wird, sind viele veränderungsmüde, und das ist verständlich“.

Und weiter: „Wenn wir verhindern wollen, dass Teile der Gesellschaft weiter auseinanderdriften, wenn wir Menschen zurückgewinnen wollen, die sich von unserer Demokratie abgewandt haben, dann müssen wir die Frage der Gerechtigkeit noch mehr ins Zentrum klimapolitischer Debatten rücken.“ Politik und Gesellschaft müssten Fragen beantworten. Etwa, wie man zu einem klimaneutralen Land werde, in dem es gute Arbeit und Wohlstand für möglichst viele gebe.

Mau spricht von starken Qualitätsmedien

Im folgenden Gespräch mit Prof. Steffen Mau schilderte Steinmeier seine Eindrücke von einer USA-Reise. Dort gebe der Begriff der Polarisierung der Spaltung „wirklich Anlass. Was hierzulande noch politische Auseinandersetzung sei, sei dort zum „Kulturkampf“ geworden. Mau entgegnete, von den USA unterscheide Deutschland unter anderem eine andere politische Struktur und ein starkes föderales System mit „sehr unterschiedlichen Koalitionsregierungen, die vielleicht auch so eine politische Teilung in Freund und Feind nicht so zulässt, wie das in Mehrheitswahlsystemen der Fall ist“. Nach wie vor habe man zudem einen „starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk und eine starke Qualitätspresse“.

Gesellschaftliche Spaltung sei auch ganz häufig verbunden gewesen mit einer Veränderung der medialen Landschaft. Das erlebe man derzeit auch in Deutschland. Es würden mehr eigenständige Medienkanäle aufgebaut, „die vielleicht gar nicht mehr durch journalistische Qualitätssicherung laufen“ und mit anderen Standards und politischen Orientierungen funktionierten.

Politik fehlt die „allumfassende Gestaltungskompetenz“

Sozialstrukturell sei man stark von der Mittelschicht dominiert, doch das bröckele auch „an den Rändern“. Die deutsche Gesellschaft stehe „extrem unter Stress“, es gebe „ungeregelte Konflikte“ und es gebe für die Politik weniger Möglichkeiten, „diese Konflikte zu befrieden“. Die „Absorbtionsfähigkeit“ der etablierten Parteien sei geringer geworden. Das habe unter anderem mit der Art der Konflikte zu tun. Für die Klima- oder Migrationsfrage haben wir „noch keine wirklichen Formen der Konfliktbefriedung“.

Politik, so Mau weiter, habe nicht die „allumfassende Gestaltungskompetenz“. Dinge, die wir erwarteten, „treten eben nicht so ein“ und dann trete man auf die Bremse. In seiner Studie sei deutlich geworden, dass sich 40 Prozent der Menschen vom sozialen Wandel „überrollt“ fühlten.

„Sie kommen nicht mehr mit“. Das betreffe nicht nur die Digitalisierung oder den Ausstieg aus dem fossilen Zeitalter, sondern auch Fragen der Migration, die größere Diversität, Wertewandel, Reorganisation des Arbeitsplatzes. „Also ganz viele Bereiche, wo Leute permanent mit Veränderungszumutung konfrontiert sind, die sie nicht so ohne weiteres verarbeiten können.



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