„Sexuell befreit“ – gegen den eigenen Willen: Berlin will Verantwortung für Kentler-Sumpf übernehmen

Ein Gesellschaftsexperiment, genährt von purer Ideologie und gebilligt vom Berliner Senat: Noch heute warten ehemalige Pflegekinder auf Entschädigung, die auf Anraten des 2008 verstorbenen Pädagogik-Professors Helmut Kentler an Pädosexuelle vermittelt wurden.
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Männer sind etwas weniger von Depressionen betroffen als Frauen.Foto: Rattankun Thongbun/iStock
Von 20. Juli 2020

Die Hauptverantwortlichen für das berüchtigte Kentler-Experiment können nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Im Jahr 2008 starb mit Helmut Kentler der Ideologe, der ihm den Namen gab, im Jahr 2015 dessen Günstling Fritz H., der zwischen 1973 und 2003 insgesamt neun Pflegekinder aus dem Kinderheim Britz bei sich aufnahm und seine pädosexuellen Neigungen an ihnen auslebte. Zwei davon, Marco und Sven (Namen geändert), wollen nun Entschädigung vom Land Berlin, das sich über Jahre hinweg auf die Expertise Kentlers verlassen hatte.

Im Juni hatten Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres und Forscher, die im Auftrag der Senatsverwaltung die Vorfälle untersuchten, einen ersten Ergebnisbericht über die Umtriebe Kentlers veröffentlicht und erklärt, dafür die Verantwortung übernehmen zu wollen. Der ursprünglich in Hannover lehrende Kentler übernahm ab Mitte der 1960er zunehmend auch in Berlin Aufträge im Bereich der Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung.

Scheeres will umfassende Aufarbeitung

Der Berliner Senat, unter anderem die Senatsverwaltung für Schulwesen, verpflichtete den ursprünglich in der evangelischen Jugendarbeit tätigen Befürworter einer „emanzipatorischen Sexualpädagogik“ unter anderem auch zur Vermittlung pflegschaftsbedürftiger Kinder und Jugendlicher an Pflegestellen. Über mehr als 30 Jahre hinweg sollte Kentler am Ende diese Aufgabe wahrgenommen haben, seine fachliche Autorität  wurde von Behörden, Justiz und Politik in dieser Zeit in keiner Weise infrage gestellt.

Mittlerweile spricht Sandra Scheeres von „Behördenversagen“, von einem „Netzwerk“, dessen Aufdeckung man sich nun auf die eigene Fahne heftet, stellt eine Entschädigungszahlung in Aussicht und bittet die Betroffenen um Verzeihung. Jetzt will Scheeres sogar über Berlin hinaus den institutionellen sexuellen Missbrauch aufgearbeitet wissen und „die Berliner Strukturen noch einmal genauer unter die Lupe“ nehmen.

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat ihr dazu Unterstützung in Aussicht gestellt. Es sei an der Zeit, eine „bundesweite Aufarbeitung zu Gewaltverhältnissen im Pflegekinderwesen und der Heimerziehung“ auf den Weg zu bringen, „um die vorliegenden Hinweise auf ein weit verzweigtes Netzwerk weiter aufarbeiten zu können“.

„Sektenartig abgeschirmt“

Für Marco und Sven, die sich Anfang des Jahres gegenüber der „Berliner Zeitung“ und jüngst gegenüber der deutschen Ausgabe des staatlichen russischen Auslandssenders „RT“ über ihr Schicksal äußerten, kommt die Einsicht spät. Sie haben das Berlin mit einer Amtsklage unter Zugzwang gesetzt.

Von einem täglichen Leben, das „von Anweisungen geprägt“ gewesen wäre, ist da die Rede, „man führte nur seinen Willen aus, war sektenartig abgeschirmt“, es habe keinen Spielplatz, keinen Urlaub gegeben, stattdessen psychische und körperliche Misshandlung: So schildern die beiden früheren Pflegekinder ihr Leben bei Fritz H., dessen Verbindung zu Kentler seit 1979 aktenkundig ist. Sie seien gar nicht erst gefragt worden, ob sie in H.s Pflege gegeben werden wollten, sie wurden vielmehr vor vollendete Tatsachen gestellt.

Man habe anschließend „jeden Tag um das eigene Leben gekämpft“, wollte eine Rückkehr ins Heim und in eine ungewisse Zukunft verhindern, obwohl H. die Pflegekinder in einer geräumigen, aber chaotischen Wohnung vor der Außenwelt verbarg und bei Bedarf gegeneinander ausspielte.

Berlin setzte großes Vertrauen in Kentler

Kentler entwickelte sich für H. über die Jahre zu einer Art ständiger Vertretung: In Krisensituationen war er mit Gutachten bei der Hand, um das „pädagogische Naturtalent“, zu dem er ihn erklärte, vor misstrauischen Anfragen aus Behörden, Therapieeinrichtungen oder leibliche Eltern abzuschirmen. Vor allem zu den Herkunftsfamilien, so Kentlers Botschaft, sei der Kontakt der Pflegekinder konsequent zu unterbinden, da sie widrigenfalls die „Fortschritte“, die diese unter der Ägide Fritz H.s machten, gefährden würden.

Eine Argumentation, die das Jugendamt Schöneberg regelmäßig überzeugte. Bis Mitte der 1970er fungierte Kentler als Abteilungsleiter am Pädagogischen Zentrum Berlin, von 1979 bis 1982 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung, später war er im Beirat der Humanistischen Union. Außerdem war er Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung. Im Post-68er-Deutschland waren das Referenzen, denen den Respekt zu versagen der Karriere nicht förderlich sein konnte,

Allerdings wäre zumindest die Qualifikation und Eignung H.s aus den Bezug habenden Akten zumindest auf den ersten Blick gar nicht so ohne Weiteres zu erkennen gewesen. Der im Jahr 1941 geborene Kentler-Intimus hatte bereits dreieinhalb Jahre Erfahrung im Strafvollzug – als dessen Insasse. Wegen „Tresoreinbruchs“ und „Knacken eines Automaten“ bei der Bundeswehr wurde er rechtskräftig gerichtlich verurteilt.

Staatsanwalt ermittelte gegen Kentler wegen Kindesmissbrauchs

Weniger erfolgreich war die Staatsanwaltschaft beim Versuch, H. Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs von Kindern nachzuweisen. Die Ermittlungen zu Verfahren 6 Ju JS 1254/79 wurden Anfang 1980 eingestellt – seit 1973 hatte H. zu diesem Zeitpunkt bereits Pflegekinder aufgenommen.

H. war nicht der einzige Pädosexuelle, der auf Bemühen Kentlers Pflegekinder vermittelt bekam. Dem Bericht, den Scheeres vorstellte, zufolge, sollen auch „mitunter mächtige Männer aus Wissenschaft und Forschungseinrichtungen“ mit den entsprechenden Neigungen zu den Bedachten gehört haben.

Dass Kentler die Pädosexualität für eine legitime sexuelle Ausrichtung hielt, war nicht einmal nur ein offenes Geheimnis. Sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern erachtete er als unschädlich, Pädophile seien sogar in besonderer Weise geeignet, Pflegekindern die fehlende Vaterfigur zu ersetzen.

Sein erstes Experiment Ende der 1960er Jahre, zu dem er sich erst nach mehr als zehn Jahren offen bekannte, weil allfällige noch geltende Straftatbestände zu diesem Zeitpunkt schon verjährt waren, brachte mehrere als „sekundärschwachsinnig“ eingestufte Knaben im Alter von 13 bis 15 Jahren in die Obhut ihm bekannter Pädophiler. Dass diese wahrscheinlich sexuelle Handlungen mit diesen ausüben würden, nahm er billigend in Kauf.

Er verteidigte sein Vorgehen noch Jahre später, indem er erklärte, nur die „Vernarrtheit“ der pädosexuellen Pflegeväter hätte dazu geführt, dass diese die Herausforderungen des Lebens mit den verwahrlosten Jugendlichen überhaupt ausgehalten hätten.

„Früher Koitus für gesellschaftlichen Fortschritt“

In seinen Büchern über Eltern und ihren Beitrag zur Sexualerziehung warnte Kentler diese davor, Kindern vor frühen Koituserfahrungen abzuraten oder diese davor abschirmen zu wollen. Diese seien sinnvoll, um zum „gesellschaftlichen Fortschritt“ beizutragen – denn koituserfahrene Jugendliche „fordern eine eigenständige Welt der Teenager und lehnen die Normen der Erwachsenen häufiger ab“.

Vor allem bei Mädchen sei dies erforderlich, da in vielen Fällen „die repressive Erziehung bei ihnen sogar so erfolgreich“ gewesen wäre, dass sie „sexuellen Triebdruck gar nicht mehr empfinden“.

Heute distanziert sich die Senatsverwaltung auf das Schärfste von Kentler und davon, dass Berliner Jugendämter dem Treiben freien Lauf gelassen haben. Aus Sicht der Aufarbeitung handle es sich um „Kindeswohlgefährdung in öffentlicher Verantwortung“, sagte die Mitautorin des Abschlussberichts Julia Schröder.

Kentler wird in dem Bericht als einer der Hauptakteure eines Netzwerks beschrieben, das laut Bericht quer durch die wissenschaftlichen pädagogischen Einrichtungen insbesondere der 1960er und 1970er und die Senatsverwaltung bis hinein in Bezirksjugendämter ging.

Kentler war auch als gerichtlicher Sachverständiger in Missbrauchsfällen tätig. Er äußerte sich 1997 über etwa 30 Fälle, in denen er in dieser Funktion tätig geworden war, als „sehr stolz darauf“, dass „bisher alle Fälle, in denen ich tätig geworden bin, mit Einstellungen der Verfahren oder sogar Freisprüchen beendet worden sind“.

„Pädophiler Antifaschismus“

Noch nach seinem Tod im Jahr 2008 würdigte die „Humanistische Union“ Kentler als „Leuchtturm unseres Beirats“, der „wie kein zweiter […] die humanistische Aufgabe einer aufklärerischen Sexualerziehung“ verkörpert habe und „ein Vorbild für öffentliche Wissenschaft“ gewesen wäre. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits über fast zehn Jahre Vorwürfe von ehemaligen Schülern der Odenwaldschule bekannt geworden, die im Geiste einer „Reformpädagogik“, wie sie auch Kentler verfocht, einen „emanzipatorischen“ Zugang zur Entfaltung der Sexualität bei Kindern und Jugendlichen propagierte – was im Regelfall in Gewalt und Missbrauch endete.

Dass die deutsche Linke die „sexuelle Befreiung“ inklusive der Propaganda für Pädosexualität feierte und im bürgerlichen Lager Schweigen vorherrschte, erklärte Adam Soboczynski 2013 in der „Zeit“ mit der Verknüpfung von „sexueller Befreiung“ und Vergangenheitsbewältigung, wie sie im Zuge der 68er Revolte half, marxistische Vorstellungen zu verkaufen und Kritik daran moralisch zu delegitimieren.

Frei nach dem früheren KPD-Propagandisten Wilhelm Reich wurde die „Unterdrückung der Sexualität“ als angebliches Wesensmerkmal des „Faschismus“ gebrandmarkt und insbesondere das Dritte Reich als vermeintlicher Hort der Sexualrepression dargestellt.

Diese Verknüpfung, die in allzu vielen Fällen geglaubt wurde, weil man daran glauben wollte, ermöglichte es, Personen, die offen vor sexueller Libertinage und deren sozialschädlichem Potenzial warnten, in die Nähe des Nationalsozialismus oder Faschismus zu rücken – während das Propagieren sexueller Freizügigkeit zum „antifaschistischen“ Akt erhoben wurde.

Dagmar Herzog entlarvte „sexualrepressiven Nationalsozialismus“ als Mythos

Dass dieser Narrativ weithin kontrafaktisch war, wies nicht zuletzt die New Yorker Geschichtsprofessorin Dagmar Herzog in ihrem 2005 erschienenen Buch über die „Politisierung der Lust“ nach.

Darin zeigt sie auf, dass nicht nur Sozialisten und Kommunisten, sondern auch und gerade die Nationalsozialisten insbesondere die – seit Ende des 19. Jahrhunderts innerhalb der Milieus zunehmend erodierende – christlich-religiöse Sexualmoral und in deren Sinne erziehende Familien als Hindernis auf dem Weg zur Kontrolle der Erziehung junger Menschen durch die totalitäre Ideologie wahrnahmen und bekämpften.

Im Fall der Nationalsozialisten war lediglich eine janusköpfige Doppelstrategie zu beobachten: Auf der einen Seite wurde im Rahmen von der Partei organisierter Jugendcamps die frühe sexuelle Begegnung zwischen Jungen und Mädchen gefördert und im Krieg die sexuelle Enthemmung durch Zwangsprostitution in eroberten Gebieten unterstützt. Auf der anderen Seite wollte man konservative Gegner dieser Entwicklung durch einen antisemitischen Narrativ ablenken, indem man in der Propaganda Juden für den Niedergang der traditionellen Sexualmoral der Gesellschaft verantwortlich machte.

Die Adenauer-Ära hatte in vielen Teilen der deutschen Gesellschaft unter dem Eindruck der Gräuel von Krieg und Totalitarismus Ansätze einer Rückbesinnung auf religiöse Lebensentwürfe und einer Skepsis gegenüber modernen Fortschrittsmythen erkennen lassen. Die radikale Linke, als deren Bannerträger sich Personen wie Kentler engagierten, erblickte in den Theorien Wilhelm Reichs und im Mythos vom „sexuellen Antifaschismus“ ein schlagkräftiges Instrument, um dieser Entwicklung gegenzusteuern.



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