„Noch nie da gewesenes Maß an Misstrauen gegen den Staat“: Politologen analysieren Corona-Proteste
Nach dem Ende der ersten Empörungswelle in Politik und Medien über die Besetzung der Treppe zum Reichstag am Rande der Kundgebungen gegen die Corona-Politik der Bundesregierung am Samstag (29.8.) in Berlin widmen sich erste namhafte Politologen der Frage, wer sich an den Protesten beteiligt.
Dabei gelangen diese zu der Einschätzung, dass die Mehrheit der Teilnehmer apolitisch sei und die Reichsflaggen-Träger nicht repräsentativ seien. Vielmehr sei es eine neue Qualität des Misstrauens gegen den Staat, der die heterogenen Demonstranten vereine.
Der Chemnitzer Extremismusforscher Eckhard Jesse betont gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ), die „Nicht-Extremisten“ seien unter den knapp 40.000 Teilnehmern der Protestkundgebungen „eindeutig in der Mehrheit“ gewesen. Die meisten Demonstranten seien keine Extremisten gewesen, sondern „eine bunte Gruppe von Menschen mit wachsendem Misstrauen“. Der Bogen reichte dabei von Impfgegnern über Putin-Anhänger bis hin zu Esoterikern, Friedensbewegten, Umweltschützern oder Personen mit der Neigung, an Verschwörungen zu glauben, die hinter politischen Entscheidungen wirkten.
Dass auch links- oder rechtsextreme Akteure wie NPD, III. Weg oder KenFM an den Kundgebungen teilnahmen, hätten viele Teilnehmer entweder gar nicht erst registriert – oder es sei ihnen einerlei gewesen, weil ihnen das Anliegen, gegen Corona-bedingte Einschränkungen zu protestieren, wichtiger gewesen wäre als die Frage, mit wem sie dies täten.
Auch weil die Bewegung vor allem apolitisch sei, sei es bei nur sehr wenigen und oberflächlichen Signalen der Distanzierung gegenüber Rechtsextremisten oder Reichsbürgern geblieben. Für „Querdenken“-Initiator Michael Ballweg habe es ausgereicht, am Sonntag zu erklären, dass die Reichstagstreppen-Besetzer nichts mit seiner Bewegung zu tun hätten und man friedlich, demokratisch und gewaltfrei sei.
Proteste drücken Misstrauen aus – politische Agenda fehlt
Die bislang wenig erfolgreichen Versuche extremistischer Gruppen, von der Proteststimmung zu profitieren, hält Jesse offenbar auch nicht für das eigentliche Problem im Zusammenhang mit den Kundgebungen. Dieses sei vielmehr das Sentiment hinter den Protesten, das bislang in dieser Form nicht zu verzeichnen gewesen wäre:
Man glaubt unserem Staat und seinen Vertretern nicht mehr. Diese Form des Grundmisstrauens hat es in dieser Form so früher nicht gegeben.“
Die Corona-Demonstration in Berlin sei ein „bedrückendes Zeichen“ dafür, „wie sehr der Glaube an unsere Demokratie bei vielen Menschen nachgelassen“ habe.
In den klassischen Links-Rechts-Kategorien sei die nunmehrige Protestbewegung nicht einzuordnen, betont Jesse.
Die meisten Teilnehmer hätten keine politische Agenda. Dass Wissenschaftler bisweilen ihre Positionen änderten, sei ihnen suspekt und bestärke sie im Gefühl, eine korrupte politische Klasse würde sie gezielt hinters Licht führen. Dies mache sie auch empfänglich für Verschwörungstheorien, die sich über das Internet verbreiteten.
Influencer statt Parteien
Auch Jesses Passauer Kollege Florian Hartleb bestätigt, dass die Corona-Proteste eine „neue Form des Aktivismus“ seien. Anders als Globalisierungskritiker, Impfgegner oder Pegida konzentrierten diese sich auch nicht auf ein bestimmtes, abgrenzbares Milieu, so Hartleb:
„Zusammen mit der zunehmenden Apolitizität und den neuen Vernetzungsstrategien über Messengerdienste wie Telegram ist das eine Bewegung, der man mit den herkömmlichen konstitutionellen Kategorien nicht mehr beikommt.“
Statt Parteien würden Influencer die Bewegung über soziale Netze steuern. Auch seien die Proteste internationalisiert, was sich am Auftritt des Kennedy-Neffen Robert Kennedy jr. gezeigt habe, den „Querdenken 711“ organisiert habe.
Ablehnung des Herrschaftsdiskurses
Hartleb sieht in den Kundgebungen keine rechtsextrem dominierten Zusammenkünfte, sondern heterogene Versammlungen unter freiem Himmel mit Eventcharakter.
Diese zögen antiautoritäre Neo-Hippies ebenso an wie Personen mit antielitären Einstellungsmustern. Beide sähen in den Corona-Maßnahmen ebenso wie in Demonstrationsverboten Ausdrucksformen eines autoritären Staates. Es seien „nicht nur die Dummen, die bei den Protesten mitlaufen, und es ist sicher auch keine proletarische Bewegung“, so Hartleb.
Dass sie alle keine Bedenken gegenüber Rechtsextremisten hätten, die sich den Protesten anschlössen, illustriere, wie tief das Misstrauen gegen die etablierten Maßstäbe des politischen Lebens in Deutschland sei. Ein zweiter Lockdown, so Hartleb, wäre „noch mehr Wasser auf die Mühlen der Verschwörungstheoretiker“.
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