Jan Fleischhauer: Politischer Einfluss von YouTube-Influencern wird überschätzt
Nach den schweren Verlusten von CDU und SPD bei der EU-Wahl und dem bis dato höchsten bundesweiten Ergebnis der Grünen scheint die gesamte Republik die Ökologie für sich entdeckt zu haben. Sogar in der AfD, die bislang der These von einer „menschengemachten Erderhitzung“ skeptisch gegenüberstand, fordern die Ersten eine 180-Grad-Wende in der Klimapolitik.
Die CDU hatte nicht zuletzt das Video von „Rezo“, eines Vloggers auf YouTube, in den dieser meinte, die „Zerstörung der CDU“ zu vollziehen, und einen Aufruf von insgesamt 70 sogenannten „Influencern“, Union und SPD nicht zu wählen, als mitentscheidend für das schlechte Ergebnis der Union und die Erfolge der Grünen bei Jungwählern betrachtet. Sogar eine Analyse des Wahlergebnisses vonseiten des CDU-Bundesvorstandes hat die Videos als wesentlichen Grund für die Wahlniederlage bewertet, die Bundesvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer forderte gar „Regeln“ gegen eine solche Form der „Meinungsmache“ im Umfeld von Wahlen.
Wie politisch relevant sind Spiele-Tester?
Noch-„Spiegel“-Kolumnist Jan Fleischhauer, der vor seinem Wechsel zum „Focus“ steht, hat nun in einer Kolumne davor gewarnt, die Bedeutung der sogenannten Influencer auf YouTube zu überschätzen.
„Zu den Vorzügen des Internets gehört die Fähigkeit, auch dem Mediokren den Glanz des ganz und gar Heutigen zu verleihen“, schreibt Fleischhauer. „Groß ist mittlerweile die Zahl von Medienmenschen, die es zu ansehnlichen Positionen gebracht haben, weil sie angeblich etwas vom Netz verstehen. Ausdrucksvermögen, Sprachgefühl, Textverständnis? Eher nebensächlich. Hauptsache, sie machen irgendetwas Digitales.“
Zwar haben zahlreiche Influencer bei YouTube eine hohe Zahl an Abonnenten und zum Teil Klickzahlen in sechs- oder gar siebenstelliger Höhe. Allerdings verdienen sie ihr Geld im Regelfall damit, Schminktipps zu geben, Computerspiele zu testen oder Urlaubshotels zu bewerten. Ähnlich wie sich der Einfluss von Popstars und Prominenten, die sich zu politischen Themen äußern, in Grenzen hält und zum Teil sogar als störend wahrgenommen wird, bedeutet auch die Tatsache, dass viele junge Menschen ihr Vertrauen in die Fitness-Workout-Tipps ihres Lieblings-Influencers setzen, gleichzeitig auch, dass sie politische Handreichungen seinerseits begrüßen würden.
„Blaugefärbter Augstein“
Auch steht in Frage, wie viele derjenigen, die das Video über die „Zerstörung der CDU“ angeklickt haben, tatsächlich über die gesamten 55 Minuten hinweg dabeigeblieben sind. Angesichts der Reizüberflutung, der junge Internetnutzer ausgesetzt sind, und eines umfangreichen Angebots an YouTube-Videos, deren Vorschau in der Seitenleiste lockt, ist das höchst ungewiss.
Fleischhauer gibt in seinem Kommentar insbesondere seinem Unverständnis über den wenig souveränen Umgang der CDU mit dem Video und dem Vlogger Ausdruck. Fleischhauer dazu:
„Das Deprimierende am Umgang der CDU mit Leuten wie Rezo ist nicht Ignoranz, sondern im Gegenteil der panische Annäherungsversuch. Man sollte meinen, dass es die Partei Helmut Kohls gewohnt ist, von links attackiert zu werden. Rezo ist genau besehen eine Art Jakob Augstein auf Ecstasy, also Augstein plus blauer Haare und minus der Belesenheit. Er bedient sich aus exakt dem Fundus antikapitalistischer Fummel, mit denen sich jeder Anhänger der Linken drapiert.“
Die CDU halte den „blaugefärbten Augstein“ allerdings offenbar für den „Claus Kleber der Video-Welt“.
Illner und Maischberger deutlich wirkmächtiger
Der „Spiegel“-Kolumnist stellt fest, dass zwar das Ergebnis der Grünen unter den Jungwählern bei der EU-Wahl tatsächlich signifikant höher war als jenes der Koalitionsparteien – allerdings sei der Anteil dieser Wählergruppe an der Gesamtwählerschaft gering. Nur knapp fünf Millionen aller Wahlberechtigten sind unter 25 Jahre alt. Das Vierfache davon machen allerdings Wahlberechtigte der Altersgruppe über 60 aus, und unter diesen Wahlberechtigten sind die meisten Frauen.
„Hier entscheidet sich das Schicksal der Volksparteien, nicht bei Menschen, die sich noch überlegen, ob sie Jura oder doch lieber irgendwas mit Kommunikation studieren sollen“, schreibt Fleischhauer. Darüber hinaus hätten Union und SPD ihr Jungwählerproblem nicht erst seit gestern.
Für den grünen Erfolg am Wahlsonntag seien deshalb auch in erster Linie Wähler über 60 verantwortlich. Und diese hätten Robert Habeck und seine Mitstreiter nicht zuletzt auf Grund ihrer starken Präsenz in den Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ins Herz geschlossen. Das sei auch der Grund, warum auch grüne Politiker nur selten auf YouTube zu sehen sind:
„Gegen die acht Millionen Zuschauer, die Woche für Woche bei Anne Will, Maischberger und Illner zuschalten, verblassen fast alle YouTube-Filmchen. Deshalb sitzen die Grünen ja auch dort und nicht bei Julien Bam, Unge und DagiBee.“
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