Hans-Werner Sinn: Auch ehemals solide Länder können ihre Bonität verlieren

Verantwortungsethik statt Gesinnungsethik, „Scherbenhaufen Energiepolitik“ und die Deindustrialisierung Deutschlands – „es sei denn, die anderen machen das mit“. Auf einer gut besuchten Weihnachtsvorlesung stellt Prof. Hans-Werner Sinn der deutschen (Energie)-Politik kein gutes Zeugnis aus.
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Der frühere Präsident des ifo Instituts, Hans-Werner Sinn.Foto: Michael Kappeler/dpa
Von 13. Dezember 2022

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„Ist Deutschland wieder der kranke Mann Europas?“, fragte sich Prof. Hans-Werner Sinn in der diesjährigen Weihnachtsvorlesung. Die Große Aula der Ludwig-Maximilians-Universität in München war voll, die Live-Übertragung durch das ifo Institut geriet an ihre Grenzen. Viele potenzielle Zuhörer konnten nicht darauf zugreifen.

Der Emeritus der Ludwig-Maximilians-Universität referierte unter dem Titel „Schwarze Schwäne – Krieg, Inflation und ein energiepolitischer Scherbenhaufen“ über die Lage Deutschlands, Inflation, EZB-Politik und Stagflation, Atom-, Kohle und Gasausstieg, die Energiepolitik bis hin zum „Klimaclub“. Eine direkte Antwort blieb offen; mit vielen wirtschaftlichen Zahlen, Statistiken und Zusammenhängen wurde gezeigt, dass diese Gefahr durchaus besteht. „Schwarze Schwäne“ sind Ereignisse, die bis vor Kurzem für undenkbar gehalten wurden.

„Auch ehemals solide Länder können ihre Bonität verlieren“

Ausführlich referierte der Ökonom über die Energiewende. Ein rationaler Diskurs sei notwendig, eine nüchterne Betrachtung ohne Träume.

Verantwortungsethik statt Gesinnungsethik ist erforderlich bei diesem Thema.“

„Wir müssen eine kluge, abwägende, funktionsfähige Politik entwickeln, ohne dabei alles kaputtzumachen und irgendwelchen Träumen hinterherzujagen. Wir müssen wieder zum rationalen Diskurs bei dieser schwierigen Thematik, dieser emotional belastenden Thematik zurückkehren“, sagte Sinn.

Weihnachtsvorlesung von Prof. Hans-Werner Sinn in der Münchner Universität. 12.12.2022. Foto: Screenshot der Epoch Times aus dem Livestream des ifo Instituts

200 Milliarden Euro Sonderschulden zur Subventionierung der Gaskäufe wurden aufgenommen (rund 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts), die als „Sondervermögen“ deklariert sind. Rechtlich sei es grenzwertig, „ökonomisch eindeutig inflationär“, eine „große Trickserei“, Schulden als „Vermögen“ deklariert. Im Jahr 2023 betrüge das tatsächliche Defizit (laut Stabilitätsrat) 3,75 Prozent, das sei zehnmal so viel wie die Schuldengrenze des Grundgesetzes (0,35 Prozent) erlaubt.

Das Problem hat man jetzt elegant gelöst, denn es ist ja ein Notstand, und in einem Notstand darf man das so beschließen.“

Zum anderen gebe es bereits einige „Sondervermögen“ / Kreditermächtigungen seit 2008, auf die Hans-Werner Sinn hinweist.

  • Finanzmarktstabilisierungsfonds, seit 2008, 480 Mrd. Euro
  • Investitions- und Tilgungsfonds, seit 2009, 20 Mrd. Euro
  • Wirtschaftsstabilisierungsfonds, seit 2020, 600 Mrd. Euro
  • Sondervermögen Bundeswehr, seit 2022, 100 Mrd. Euro
  • „Gaspreisbremse“, seit 2022, 119 Mrd. Euro
  • Corona-Fonds der EU mit 750 Mrd. Euro, der deutsche Finanzierungsanteil (23,6 Prozent) beträgt 177 Mrd. Euro

Die insgesamt 1.696 Mrd. Euro wurden noch nicht ausgeschöpft, könnten es aber, ohne dass dies mit dem Grundgesetz kollidiere. Hinzu kämen die Forderungen aus den Target-Krediten der Bundesbank, die zuletzt eine Höhe von 1,23 Billionen Euro hatten. Der Wirtschaftswissenschaftler spricht von einem Defekt der Demokratie, wenn man immer wieder dazu neige, sich über Staatsverschuldung zu finanzieren. Er warnt am Beispiel der raschen Wechsel der Premierminister in Großbritannien:

Auch ehemals solide Länder können ihre Bonität verlieren. Es gibt auch hier schwarze Schwäne, wo man sie nicht vermutet.“

„Scherbenhaufen Energiewende“

Konventionelle Energiequellen, Wind, Solar – es werde häufig gesagt, „der grüne Strom würde uns von den konventionellen Energieträgern befreien und wenn wir früher die volle Entwicklung grüner Energie gehabt hätte, hätte Putin uns nichts antun können.“ Das höre sich absolut plausibel an, doziert Hans-Werner Sinn, doch diese Rechnung gehe nicht auf.

Die 200 Milliarden Euro seien eine Art „Placebo-Pille“, damit „wir das bloß nicht merken, in der Hoffnung, dass danach der liebe Gott den Krieg zu Ende macht, es beendet und dann alles wieder gut ist.“

Ausführlich und mit viel Zahlenmaterial analysierte Sinn die Daten von Wind- und Solarstrom, Kohle, Atom, Erdgas und Öl. Auch wenn mehr Wind- und Solarstrom produziert würde, helfe das in einer Dunkelflaute gar nichts. Benötigt würde eine „komplementäre Struktur“ der Energieversorgung, die die Schwankungen von Wind und Sonne ausgleicht.

Sinn bilanziert: „Das ist ein sehr, sehr peinliches Thema für die grüne Bewegung. Denn mit diesem schmutzigen fossilen Element dieses grünen Stroms als Konsument sollte man sich gedanklich nicht beschäftigen und schon gar nicht in Wahlkampfreden. Es ist aber so, und an diesem Faktum kann man auch mit Wunschdenken und geistigen Kapriolen nicht vorbeikommen.“

Kein anderes Land der Welt steige aus dem Atomstrom aus, nur Deutschland. „Alle, die mal aussteigen wollten, sind vom Ausstieg wieder ausgestiegen.“

Hans-Werner Sinn. Foto: Screenshot der Epoch Times aus dem Livestream des ifo Instituts

Verbote, Verbote, Verbote

Anschließend rechnete der Ökonom die Möglichkeiten der Speicherung vor, über Pumpspeicherwerke, Batterien wie in Autos, Großtechnische Batterien (Bsp. Lausitz), in Häusern. Sein Fazit gleicht dem der Deutsche Akademie für Technikwissenschaften Acatec und der Leopoldina, der obersten Einrichtung der Akademie der Wissenschaften, die er zitiert: „Es ist aber völlig unrealistisch und selbst bei stark sinkenden Kosten für Batteriespeicher nicht bezahlbar, so große Mengen CO₂ Speicher zu installieren, dass auch längere Phasen einer hohen Stromproduktion aus Sonne und Wind gespeichert werden können.“

Die Politik stelle sich diesem Thema nicht wirklich. „Stattdessen Verbote, Verbote, Verbote, Abschaltung der AKWs 2023, Verbrenner bis 2035, Kohleausstieg bis 2030 und und und. In der Phase von 2030 bis 2038 Erdgas Ausstieg. Bis 2050 ist alles bereits beschlossen. Da muss ich als Bundestagsabgeordneter nicht viel wissen. Da reicht ein gutes Gefühl und eine schöne Gesinnungsethik.“

So könne dies nicht funktionieren, ein bloßes Wolkenkuckucksheim reiche nicht. Es sei unverantwortlich, erklärt Hans-Werner Sinn am Beispiel des Münchner Krankenhauses, welches in Großhadern neu gebaut wird. Man könne kein festes Ausstiegsdatum für das alte Krankenhaus festlegen, sofern das neue Krankenhaus nicht da sei. So etwas sei keine solide Politik.

Eine solche Politik ist bequem, aber unverantwortlich, unverantwortlich gegenüber der Wirtschaft, unserem Land, unseren Kindern, unserer Zukunft. So geht es eben nicht.“

Er sei nicht gegen die Ziele der Energiewende, das sei alles richtig, „aber man kann sich doch nicht wegdrücken und moralische Urteile in der Politik heranziehen, statt in Verantwortung ethische Analysen vorzuhalten. Das ganze Zielsystem in der Klimapolitik ist utopisch.“ Es sei auch nicht nur annähernd möglich, dieses Programm zu realisieren.

Deindustrialisierung Deutschlands – „es sei denn, die anderen machen das mit“

Es sei ein „Programm zur Deindustrialisierung Deutschlands“, warnt Sinn, „es sei denn, die Wettbewerber machen das mit. Wenn sie es nicht mitmachen, ist es das. Warum soll ich denn die teure Produktion, die dann hier erzwungen wird, in Deutschland lassen? Die Firmen werden scharenweise dieses Land verlassen und in andere Länder gehen, die eben weniger grün getaktet sind, auch vielleicht verantwortungslos agieren und dort ihr Geschäft machen.“

Ein anderer Aspekt seien die Klimakonferenzen, wie sie in Ägypten stattfand. Sie seien „Schadensersatzprozesse“ geworden, in denen die Länder der Dritten Welt einen Ausgleich fordern.

Deindustrialisierung greift er am Beispiel der deutschen Autoindustrie auf. Die verarbeitende Industrie Deutschlands sei „herzkrank“, da die deutsche Automobilindustrie das Herz der deutschen Wirtschaft ist. Den Beginn der Erkrankung sieht er in der EU CO₂-Verordnung vom Mai 2018. Durch das Verbot von Verbrennern durch die EU habe es keinen Umweltnutzen gegeben, „wohl aber massive Schäden für die deutsche Industrie“.

Der Wunschzettel

Auf dem Wunschzettel des Referenten stehen drei Dinge.

  • Eine grundlegende Reform des Eurosystems, um dem Vorrang der Preisstabilität mehr Kraft zu gewähren. Dazu gehört eine EU-Konkursordnung für Staaten und Stimmrechte nach Landesgröße, bevor die Balkan-Erweiterung umgesetzt wird.
  • Die Neuordnung der Energiepolitik. Dazu zählt die sofortige Aufhebung der vorauseilenden Brennstoffverbote; es sollte erst grüne Technik aufgebaut werden, bevor über die Abschaltung nachgedacht wird. Dazu gehört der Wiedereinstieg in die Atomwirtschaft, Fracking, neue Erdgas-Pipelines und neue Erdgasspeicher. Dazu gehört das Ende des Unilateralismus bei international gehandelten Brennstoffen.
  • Der aktive Aufbau eines Klimaklubs mit einem weltweiten Emissionshandel, inklusive Chinas und Indien.

Werner Sinn sagt: „Wir helfen ja nicht den armen Afrikanern, deren Erde verglüht durch den Klimawandel, indem wir da auf die Verbrennung verzichten. Sondern wir subventionieren die Chinesen, indem sie eben das Erdöl noch viel billiger kriegen und einen noch intensiveren CO₂-Aufschwung finanzieren können.“

Die 200 Milliarden Euro, die nun für die „Beschwichtigung einer ansonsten aufsässigen Bevölkerung ausgegeben werden, damit sie nicht merken, was jetzt auf dem Energiemarkt los ist in Deutschland“ stünden viel zu geringe Mittel zur Bekämpfung der Ursachen der Energieknappheit gegenüber.

Deutschland war einmal „das Land der Ingenieure und der Physiker“, bilanziert er zum Abschluss, als die Themen Erdwärme und Kernfusion nachgefragt werden. Vieles in der Physik der Kernspaltung und Kernfusion habe großenteils mit den Forschungen in Deutschland zu tun. Hans-Werner Sinn, Emeritus der Ludwig-Maximilians-Universität, antwortet: „Wir haben noch genug gute Physiker, um darauf zu satteln und auch an vorderster Front mitzumischen.“

Das ifo Institut wird den Videostream der Weihnachtsvorlesung 2022 in einigen Tagen ins Internet stellen.

 



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