
Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts: „Auch Schutz vor Corona rechtfertigt nicht jeden Eingriff in Grundrechte“
Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier warnt vor einer unverhältnismäßigen Beschränkung von Grundrechten und Freiheiten der Bürger in der Corona-Krise. Der Gesetzgeber müsse die Maßstäbe seines Handelns klarstellen – etwa durch ein Maßnahmengesetz.

Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts (Archivbild).
Foto: Ronald Wittek/dpa
Der langjährige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hat in der Debatte um die Corona-Maßnahmen in Bund und Länder gemahnt, die Verhältnismäßigkeit zu bewahren.
Die verfassungsrechtlichen Aspekte müssten in jedem Fall künftig viel stärker als bisher berücksichtigt werden, betonte Papier in einem Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ).
Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit
Papier hatte bereits im Vorjahr in seinem Buch „Die Warnung. Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird“ davor gewarnt, vermeintliche oder tatsächliche Notwendigkeiten zur Wahrung der Sicherheit zu verfolgen, ohne Abwägungen mit Blick auf die Grundrechte zu treffen. Die Corona-Krise illustriert dieses Spannungsverhältnis noch einmal auf sichtbare Weise.
„Der Staat darf nicht in der allgemeinen legitimen Absicht, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, jedweden Grundrechtseingriff von beliebiger Schwere vornehmen“, warnt der frühere Höchstrichter.
Auch das verfassungsrechtlich legitime Anliegen des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung könne keinen Blankoscheck zur beliebigen Einschränkung von Freiheiten bedeuten. Neben medizinisch-virologischen und statistischen müssten auch verfassungsrechtliche Argumente in der Abwägung berücksichtigt werden.
Papier: „Fehler, dass nur extreme Standpunkte zu Wort kamen“
Zwar sind viele Pandemie-Maßnahmen nicht zu beanstanden, so Papier. Allerdings lassen es andere in erheblicher Weise an der Verhältnismäßigkeit vermissen. Deshalb wundert es ihn nicht, dass Verwaltungsgerichte Regelungen wie dem Beherbergungsverbot, der Sperrstunde oder absoluten Versammlungsverboten den Garaus gemacht hatten.
Zudem habe es geschadet, dass lange Zeit in der öffentlichen Diskussion nur extreme Standpunkte zu Wort gekommen wären. Zwischentöne jenseits einer unkritischen Bejahung aller Pandemiemaßnahmen auf der einen und einer völligen Gefahrenleugnung auf der anderen Seite wären kaum zum Tragen gekommen.
Diese Note hätten erst die Gerichtsentscheidungen zur Geltung gebracht und so eine Rückkehr zur gedanklichen Mitte erzwungen.
Abwägung zwischen Sicherheit und Schutz der Grundrechte muss Parlament vornehmen
Papier gibt auch den Kritikern Recht, die eine zu einseitige Rolle der Exekutive zu Lasten der Parlamente anprangern. „Unserer rechtsstaatlichen Demokratie entspricht es, dass alle wesentlichen Entscheidungen zur Ausübung sowie zur Einschränkung der Grundrechte vom Parlament getroffen werden“, so der Staatsrechtler.
Abwägen und entscheiden müsse die Politik, in einem demokratischen Rechtsstaat also das Parlament. Dieser Prozess könne weder Wissenschaftlern noch Gremien wie der Bund-Länder-Konferenz überlassen werden, die in der Verfassung gar nicht vorgesehen seien.
Lagen wie Corona-Pandemie ermöglichen auch konkurrierende Gesetzgebung des Bundes
Papier plädiert für ein „Maßnahmengesetz für den epidemischen Notstand nationalen Ausmaßes“ mit Öffnungsklauseln zugunsten der Bundesländer. Auf diese Weise wird regionalen Besonderheiten Rechnung getragen.
„Laut Grundgesetz besitzt der Bund für Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten das Recht zur sogenannten konkurrierenden Gesetzgebung“, so Papier. Aber auch ein solches Gesetz müsse inhaltlich verhältnismäßig bleiben.
Maßnahmen wie eine Ausgangssperre im strengen Sinne hält Papier auch dann, wenn das Parlament dies beschließt, für „schlechthin unverhältnismäßig“. Abwägungsfragen bedürfen in jedem Fall einer belegbaren Tatsachengrundlage. Zudem muss der Gesetzgeber „auf jeden Fall die Maßstäbe seines Handelns offenlegen“.
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