Härteres Pandemie-Regime? Kretschmann rudert zurück
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist nach heftiger Kritik an seinem Vorstoß für ein härteres Regime bei Pandemien zurückgerudert.
CDU, SPD, FDP und AfD im Bundestag hatten den Vorschlag des Grünen, Freiheitsrechte der Bürger im Kampf gegen Pandemien noch drastischer einzuschränken, als rechtswidrig und inakzeptabel bezeichnet. Kretschmann teilte mit, er bedauere, dass seine Äußerungen in einem Interview zu Missverständnissen geführt hätten. „Im Rechtsstaat gilt immer der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – und zwar immer und ohne Einschränkung.“ Dieses zentrale Prinzip der Verfassung würde er nie in Frage stellen. „Umso mehr ärgert es mich, dass durch meine Äußerungen offenbar dieser Eindruck entstanden ist.“
Kretschmann hatte in einem Interview mit „Stuttgarter Zeitung“ und „Stuttgarter Nachrichten“ vorgeschlagen, harte Eingriffe in die Bürgerfreiheiten zu ermöglichen, um Pandemien schneller in den Griff zu bekommen. „Meine These lautet: Wenn wir frühzeitige Maßnahmen gegen die Pandemie ergreifen können, die sehr hart und womöglich zu diesem Zeitpunkt nicht verhältnismäßig gegenüber den Bürgern sind, dann könnten wir eine Pandemie schnell in die Knie zwingen“, erklärte der Ministerpräsident. Möglicherweise müsse man dafür das Grundgesetz ändern.
Das Interview löste parteiübergreifend einen Proteststurm aus. „Eingriffe in Grundrechte müssen verhältnismäßig sein“, schrieb FDP-Chef Christian Lindner auf Twitter. „Wenn Herr Kretschmann diesen Grundsatz in Frage stellt, macht er sich mit autoritärer Politik verwechselbar.“ CDU-Präsidiumsmitglied Norbert Röttgen schrieb auf Twitter, er halte die Aussage des Ministerpräsidenten für „großen Quatsch“. „Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gehört zum unveränderlichen Kern des Rechtsstaats.“
Kretschmann stellte später klar: „Der Anlass meiner Ausführungen war die Forderung nach einer Enquete-Kommission im Bundestag, die sich damit beschäftigen soll, wie wir mögliche Pandemien in Zukunft schneller eindämmen können.“ Es gehe ihm darum, die Folgeschäden möglichst gering zu halten und lang andauernde, tiefgreifende Einschnitte in Grundrechte zu vermeiden. „Es geht mir also nicht um weniger Freiheit für die Bürger, sondern um mehr Freiheit.“ Er habe bereits mehrfach eine Enquete-Kommission gefordert.
Sozialdemokraten und Liberale hatten nach dem Interview die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock aufgefordert, sich von Kretschmann zu distanzieren. SPD-Bundestagsfraktionsvize Dirk Wiese sagte: „Dass ein Grüner von einem permanenten Notstand der Exekutive zu träumen scheint, kritisiere ich scharf.“ Baerbock müsse das klarstellen. Die FDP stieß in dasselbe Horn. „Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock muss diesen Versuchungen des Autoritären in der eigenen Partei entschieden und öffentlich entgegentreten“, sagte FDP-Fraktionsvize Michael Theurer. Die Grünen seien eben keine „Bürgerrechtspartei“, das zeigten Kretschmanns Äußerungen.
FDP-Landtagsfraktionschef Hans-Ulrich Rülke sagte: „Kretschmann entwickelt sich immer mehr zum Autokraten.“ Der Generalsekretär der Südwest-SPD, Sascha Binder, twitterte: „Da spricht wohl ein entrückter Sonnenkönig, der die Bodenhaftung verloren hat.“
Auch aus der Südwest-CDU, die mit den Grünen regiert, kam Kritik. „Die Aussagen von Winfried Kretschmann sind ein Skandal“, erklärte Simon Gollasch für die Junge Union im Land. „Unverhältnismäßige Maßnahmen zu fordern, ist evident verfassungswidrig.“ Der Landeschef des CDU-Sozialflügels, Christian Bäumler, sagte der dpa: „Durch solche Aussagen wird das Vertrauen in die Pandemiepolitik kaputt gemacht.“
Die AfD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Alice Weidel, forderte Kretschmann zum sofortigen Rücktritt auf. „Ein Ministerpräsident in hoher Verantwortung, der unsere Demokratie abschaffen will, ist für dieses Amt völlig ungeeignet.“ (dpa)
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