Grundgesetzänderung: Klimaneutralität als Staatsziel? Das sagen Verfassungsrechtler

Die Fraktionen von Union, SPD und Grünen haben verabredet, den Passus „Klimaneutralität bis 2045“ im Grundgesetz zu verankern. Droht der Wirtschaft damit Stillstand aufgrund von Klagewellen? Experten des Staats- und Verfassungsrechts sind geteilter Meinung.
Der Bundesrat hat grünes Licht für zahlreiche Gesetze gegeben. Zwei Vorhaben stoppte er jedoch vorerst.
Der Bundesrat ist die letzte große Hürde für das von Union und SPD angestoßene Schuldenpaket. (Archivbild) Foto:Foto: Carsten Koall/dpa
Von 21. März 2025

Was wird die Aufnahme des Passus „Klimaneutralität bis 2045“ im Grundgesetz (GG) bedeuten? Etwa ein neues Staatsziel, dass als Filter bei jedem politischen Handeln vorgeschaltet werden müsste? Und von daher bei jedem Vorhaben einklagbar wäre? Droht damit demnächst absoluter Stillstand in Deutschland, weil ja kaum ein Tun ohne den zusätzlichen Ausstoß von CO₂ möglich sein wird?

Wörtlich heißt es in der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses (PDF) zur Änderung des nach der Corona-Zeit weggefallenen Artikels 143h GG:

Der Bund kann ein Sondervermögen mit eigener Kreditermächtigung für zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur und für zusätzliche Investitionen zur Erreichung der Klimaneutralität bis 2045 mit einem Volumen von bis zu 500 Milliarden Euro errichten.“

Da jeweils 100 Milliarden Euro eigens für die Ausstattung der Bundesländer und für den Klima- und Transformationsfonds (KTF) blockiert sein sollen, blieben 300 Milliarden übrig, welche für Infrastrukturprojekte, wahlweise auch für Investitionen zur Erreichung der „Klimaneutralität“ ausgegeben werden dürfen – das alles aber ausdrücklich begrenzt auf einen Zeitrahmen von zwölf Jahren.

Der Bundestag verabschiedete den Gesetzentwurf am 18. März 2025. Am Freitag, 21. März, soll der Bundesrat den Weg für die GG-Änderungen endgültig frei machen.

Vosgerau: „Formulierung setzt ein entsprechendes Staatsziel als bestehend voraus“

Der Berliner Staatsrechtler Dr. Ulrich Vosgerau erklärte auf schriftliche Anfrage der Epoch Times, dass CDU und CSU mit ihrem Vorstoß „wie schon bei der Grenzöffnung von 2015/16“ eine „Katastrophe angerichtet“ hätten.

„In der Sache mag die Formulierung per se kein Staatsziel begründen“, räumte Vosgerau ein. „Aber es setzt ein entsprechendes Staatsziel als bereits bestehend voraus.“

Er selbst befürchte, dass der Halbsatz „und für zusätzliche Investitionen zur Erreichung der Klimaneutralität bis 2045“ nicht mehr länger eine „genuin politische Frage“ bleiben könnte. Mit diesen Worten hatte das CDU-Bundesvorstandsmitglied Philipp Amthor in der „Welt“ für die GG-Änderung geworben. Amthor vertrat die Meinung, dass es sich nur um eine „Kompetenznorm“ handele, die „lediglich eine Handlungsmöglichkeit des Staates“ begründe, nicht aber eine „objektiv-rechtliche Handlungspflicht des Staates“.

Es gehe beim Änderungsentwurf für Artikel 143h GG um „eine Zweckbestimmung für begrenzte Verschuldung“ und nicht um ein „selbstzweckhaftes Rechtsprinzip, das andere Rechtspositionen verdrängen könnte“, so der gelernte Jurist Amthor.

Kritik an Grzeszick und Di Fabio

„In der Folge pflichteten nicht nur notorisch CDU-nahe Verfassungsrechtler wie Bernd Grzeszick (Heidelberg) oder Udo Di Fabio (Bonn) […] der ‚formellen Harmlosigkeitstheorie‘ bei“, kritisierte Vosgerau Amthors Interpretation.

Di Fabio habe „schon im Hinblick auf das verfassungsändernde Gesetzgebungsverfahren im alten Bundestag eine bedenklich unkritische Position zu den Plänen der Vor-Koalition eingenommen und allen Ernstes ein ‚Wahlrecht‘ der Bundestagspräsidentin zwischen altem und neuem Bundestag proklamiert, das sogar das BVerfG jetzt explizit zurückgewiesen hat“, gab Vosgerau zu bedenken.

Auch der „eher kritische Volker Boehme-Neßler (Oldenburg)“ habe die geplante Veränderung in der „Bild“ zunächst als „‚harmlos‘ und die Debatte als ‚Sturm im Wasserglas‘ bezeichnet. „Davon hat er sich dann zwei Tage später auf ‚CICERO ONLINE‘ [Bezahlschranke] – zu Recht – gründlich abgesetzt“.

BVerfG könnte Grundrechte infrage stellen

Wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Formulierung im Streitfall verstehen werde, lasse sich seiner Ansicht nach „bereits aus dem berüchtigten Klimaschutzbeschluss des BVerfG im Jahr 2021 ableiten“, prognostizierte Vosgerau. Damals habe das BVerfG „sämtliche Grundrechte unter den Vorbehalt der Erfüllung ehrgeizigster Klimaschutzziele gestellt, die das BVerfG in das Staatsziel ‚Umweltschutz‘“ hineingelesen habe.

Dabei sei das Staatsziel „Umweltschutz“ an sich „gar nicht geeignet […], Grundrechte einzuschränken“, meint Vosgerau. Das Wort „Klimaschutz“ komme im Grundgesetz nämlich gar nicht vor. Zudem seien „weder das Pariser Übereinkommen noch politische Selbstverpflichtungen und Absichtserklärungen der Bundesrepublik wie der EU im Anschluss daran irgendwie rechtlich bindend“.

„Da die Verfassung zusätzlich zu dem an Art. 20a GG festgemachten Klimaschutzvorbehalt aus dem Klimaschutzbeschluss nun offenbar bindend voraussetzt, dass Deutschland bis 2045 ‚klimaneutral‘ sein müsse (was immer das konkret bedeuten soll), wird offenbar beschleunigte Deindustrialisierung von Verfassungswegen vorgeschrieben“, fasste Vosgerau seinen Standpunkt zusammen.

Damit könnten Umweltverbände „unter Ausnutzung ihres ‚Verbandsklagerechts‘“ jetzt „gegen neue Verkehrswege, die im Rahmen der eigentlich gewollten ‚Investitionen in die Infrastruktur‘ gebaut werden sollen, klagen. „Außer allenfalls, es geht um Radwege“, schob der Staatsrechtslehrer nach.

Murswiek warnt vor Aufnahme ins GG

Vosgerau stützte sich gegenüber der Epoch Times auf einen offenen Brief seines bereits emeritierten Freiburger Kollegen Prof. Dietrich Murswiek, „dessen Saarbrücker Habilitationsschrift seinerzeit das wissenschaftliche Umweltrecht überhaupt erst mit begründet“ habe. In seiner Stellungnahme habe auch Murswiek „zu Recht vor den Konsequenzen der Verfassungsänderung gewarnt“.

In der Tat hatte Murswiek die Bundestagsabgeordneten eindringlich darum gebeten, den Grundgesetzänderungen nicht zuzustimmen, wenn die Formulierung „bis 2045“ nicht gestrichen werde.

In Murswieks Schreiben, das das Nachrichtenportal „NiUS“ veröffentlicht hatte, heißt es, es sei „nicht ersichtlich, wie man Investitionen, die der Vermeidung von CO₂-Emissionen dienen, von Investitionen, die der ‚Erreichung der Klimaneutralität bis 2045‘ dienen, unterscheiden soll“.

Ähnlich wie Vosgerau sieht auch Murswiek die Gefahr, dass das BVerfG im Klagefall „noch viel weitergehende CO₂-Vermeidungspflichten für Privathaushalte (Heizungen), Verkehr (Verbrennerverbot) und Industrie“ vorschreiben könnte, falls Karlsruhe den Artikel 143h GG als „Konkretisierung des Umweltschutzstaatsziels gemäß Art. 20a GG“ verstehen würde. Das könne die deutsche Industrie ruinieren.

Zudem sei unklar, ob nicht am Ende das gesamte Geld aus dem Investitionstopf ausschließlich „für Maßnahmen des sogenannten Klimaschutzes verbraucht werden“ könnten oder gar müssten. Denn dann bliebe „für die notwendigen Infrastrukturmaßnahmen […] kaum etwas übrig“.

Schnellenbach und Lindner befürchten Investitionsstopp bei Klagen

Der Verfassungsrechtler Prof. Dr. Josef Franz Lindner argumentierte auf Anfrage der „Bild“ ähnlich: „Politische Detailziele in das Grundgesetz zu schreiben, ist dysfunktional. Es verpflichtet die staatlichen Organe, Ziele mit allen Mitteln erreichen zu müssen – unter Disruption von Wirtschaft und Gesellschaft. Das hätte desaströse Folgen“.

Auch der Volkswirtschaftslehrer Prof. Dr. Jan Schnellenbach hat laut „Bild“ offenbar erhebliche Bedenken, dass der „Klimaneutralitätspassus im GG den ersehnten Wirtschaftsaufschwung lähmen könnte: „Umweltgruppen könnten dann gegen so gut wie alle Investitionen klagen. Jede Autobahn-Sanierung stünde auf der Kippe!“

Prof. Papier: Bloß „Zweckbegrenzung“ für Schuldenaufnahme

Keinen Grund zur Aufregung sah dagegen Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier, ein ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht (BVerfG): Der neue Verfassungsartikel bedeute „keine neue und umfassende Verrechtlichung der staatlichen Klimapolitik“, sagte Papier den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Er begrenze „lediglich die Zwecke einer überplanmäßigen Neuverschuldung und setzt insoweit der Budgethoheit des Parlaments im Hinblick auf die Kreditaufnahme Grenzen“.

Mit einer Klagewelle zur jederzeitigen Durchsetzung der „Klimaneutralität“ bei staatlichen Vorhaben sei aus seiner Sicht nicht zu rechnen, brachte Papier zum Ausdruck. Wäre es so, dann würde das „in der Tat eine untragbare Knebelung der Politik und damit die Gefahr eines Abgleitens der parlamentarischen Demokratie in einen Rechtswegestaat“ begründen. „Ein solches erweitertes Verständnis des Kriteriums der Klimaneutralität“ sei aber „ziemlich abwegig“.

Di Fabio: „Bloße Zweckvorgabe, kein Staatsziel“

Ähnlich sieht es der Verfassungsrichter Prof. Udo di Fabio. Aus der „finanzverfassungsrechtliche[n] Vorschrift, die eine Zweckbindung“ formuliere, ergebe sich „kein Staatsziel, wie wir es kennen mit dem Sozialstaatsziel oder dem Schutzauftrag für die natürlichen Lebensgrundlagen in Artikel 20 und 20a des Grundgesetzes“, so di Fabio im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ, Bezahlschranke).

Di Fabio wies darauf hin, dass das Ziel der Klimaneutralität anno 2045 schon durch das Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG) festgelegt sei. Es handele sich um ein „einfachgesetzliches Transformationsprojekt“, das mit einer einfachen Mehrheit des Gesetzgebers jederzeit veränderbar sei.

„Staatsziele des Grundgesetzes als Gesetzgebungsaufträge“ müssten stets „mit einem weiten Gestaltungsspielraum verbunden sein“, erklärte Di Fabio. Es müsse also „nicht notwendig auf eine Rationierung von Emissionsrechten hinauslaufen und schon gar nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt“, argumentierte er in der FAZ.

Unionspolitiker: Kein neues Staatsziel

Für „abwegig“ hält auch Alexander Dobrindt, der CSU-Landesgruppenchef in der Unionsfraktion des Bundestags, die Annahme, dass allein durch das Auftauchen der Formulierung „Klimaneutralität“ im GG ein neues Staatsziel festgeschrieben würde. Vielmehr gehe es darum, mithilfe der Sonderschulden für Infrastruktur insbesondere Straßen, Krankenhäuser oder Universitäten zu sanieren oder zu bauen, so Dobrindt laut „Bild“.

„Auch neue Investitionen, die dem Erreichen eines Klimaziels 2045 dienen können, wie zum Beispiel der Aufbau des Wasserstoffnetzes oder die Elektrifizierung von Bahnstrecken“ sollten ermöglicht werden: „Aber daraus begründet sich kein Staatsziel“.

BVerfG: Staat muss vor Gefahren des Klimawandels schützen

Am 24. März 2021 hatte das BVerfG entschieden, dass bereits aus Artikel 20a GG die staatliche Verpflichtung einhergehe, „Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen“, obwohl die Begriffe „Klimawandel“ oder „Klimaschutz“ nicht ausdrücklich im Artikel 20a auftauchen.

Damit wurden der „Klimaschutz“ und die „Herstellung von Klimaneutralität“ als Staatsziel de jure schon vor vier Jahren durch die Karlsruher Richter bestätigt, obwohl es bis heute de facto keinen abschließenden Beweis dafür gibt, dass das von Mensch und Maschine erzeugte CO₂ eine signifikante Rolle bei globalen Temperaturschwankungen oder Wetterkatastrophen spielt.

Die Epoch Times ließ und lässt zu dem Thema immer wieder kritische Wissenschaftler zu Wort kommen.

Gebot aus Karlsruhe: Sorgfältige Abwägung aller Interessen erforderlich

Unter Bezugnahme auf den Urteilsspruch des BVerfG vom März 2021 sind aber nicht unbedingt automatische Siege vor Gericht aufseiten jener zu erwarten, die sich gegen Verbrennermotoren, Industrie oder Fleischkonsum aussprechen. Das BVerfG stellte in seinem Beschluss nämlich ebenfalls klar, dass der gesamte Art. 20a GG zum Schutz natürlicher Lebensgrundlagen „keinen unbedingten Vorrang gegenüber anderen Belangen“ genieße.

Im „Konfliktfall“ sei der Schutzanspruch „in einen Ausgleich mit anderen Verfassungsrechtsgütern und Verfassungsprinzipien zu bringen“, so die Karlsruher Richter 2021. Dabei aber, so wiederum der BVerfG-Beschluss, nehme „das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel weiter zu“.



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