Ein Problem für die Grünen: „Querdenken“-Studie hat unerwartete Ergebnisse

Ein Forscherteam der Universität Basel hat eine Studie unter Anhängern der „Querdenken“-Bewegung durchgeführt. Diese widerspricht der verbreiteten Einschätzung, die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen seien vorwiegend „rechtsextrem“ beeinflusst.
Von 7. Dezember 2020

Für den ZDF-Astrophysiker Harald Lesch ist die Sache klar: Die Teilnehmer der „Querdenken“-Proteste sind „Corona-Egoisten“, bei denen „der Ethik-Unterricht in der Schule versagt hat“. Der Jenaer Forscher Matthias Quent sieht vor allem „rechtsextreme Tendenzen“, die in der Protestbewegung gegen die Corona-Maßnahmen Fuß fassen.

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sorgt sich vor allem um Antisemitismus und NS-Relativierung unter den „Querdenkern“. Eine Studie aus der Schweiz zeigt nun: Eine einfache Einordnung des Phänomens ist nicht möglich, die Bewegung ist höchst heterogen und sprengt etablierte Rahmen.

„Querdenken“ als „Querfront 2.0“?

Dass auf der gleichen Demonstration Gandhi-Bilder und hier und da eine schwarz-weiß-rote Reichsflagge aufscheint oder Anhänger von Donald Trump neben solchen von Rudolf Steiner marschieren, irritiert manchen Beobachter.

Einige ziehen Parallelen zu Protesten gegen die Ukraine-Politik der Bundesregierung Mitte der 2010er Jahre, als sich zu Demonstrationen des „Friedenswinters“ und ähnlicher Gruppen eine sogenannte „Querfront“ aus extremer Linker und extremer Rechter zur Unterstützung der russischen Position gebildet haben soll.

Eine eigene Leserumfrage des mit dem Rückenwind dieser Bewegung gestarteten staatlichen russischen Auslandssenders „RT Deutsch“ bestätigte tatsächlich, dass der Sender vor allem Anhänger der Linkspartei, solche der AfD und Nichtwähler ansprach. Kaum Resonanz findet er hingegen bei solchen der Unionsparteien, der SPD, der FDP und der Grünen.

Neue regionale Schwerpunkte

Die gegenwärtige „Querdenken“-Bewegung gegen die Corona-Maßnahmen ist demgegenüber noch deutlich breiter aufgestellt.

Dies äußert sich nicht nur in der erheblich höheren Teilnehmerzahl an Kundgebungen wie jener am 29. August in Berlin, sondern auch daran, dass mittlerweile auch ein erheblicher Teil des Zielpublikums der Grünen mit den Demonstranten sympathisiert. Zudem ist neben Berlin und Sachsen, wo die neue „Friedensbewegung“ ihre regionalen Schwerpunkte hatte, auch Baden-Württemberg als weitere Hochburg dazugekommen.

Der Soziologe Oliver Nachtwey von der Universität Basel und seine Kollegen Robert Schäfer und Dr. Nadine Frei haben ein breit angelegtes Forschungsprojekt zum Thema „Politische Soziologie der Corona-Proteste“ ins Leben gerufen. Damit wollen sie eigenen Angaben zufolge „die Motivation, Werte und Überzeugungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Kundgebungen, Aktionen und Demonstrationen, die sich gegen die coronabedingten Maßnahmen, wie zum Beispiel Maskenpflicht, richten, herauszuarbeiten“.

34 Prozent Studierte, mehr Selbstständige, politisch eher links

In diesem Zusammenhang wurde unter anderem direkter Kontakt mit Teilnehmern und Unterstützern der Proteste aufgenommen, unter anderem über Telegram, wo die Bewegung über die teilnehmerstärksten Chatgruppen verfügt. Insgesamt 1.150 Fragebögen seien, so berichtet die „Welt“, an Gruppenmitglieder und Unterstützer geschickt worden. Diese wurden um Interviews mit Demonstrationsteilnehmern und „ethnografische Beobachtungen“ ergänzt.

Die Ergebnisse der Auswertung zeigten, dass es ein älteres und stark akademisch geprägtes Publikum sei, das sich an den „Querdenken“-Protesten beteilige oder sich zu deren Zielen bekenne. Von den Befragten hätten 31 Prozent Abitur, 34 Prozent einen Studienabschluss, auch der Anteil Selbstständiger sei deutlich höher als in der Gesamtbevölkerung.

Politisch sind die Präferenzen der „Querdenker“, bei deren Demonstrationen nach Einschätzung von NRW-Innenminister Herbert Reul mindestens ein Drittel „rechtsextrem“ sein soll, in ähnlicher Weise links angesiedelt: Von allen Befragten hatten 21 Prozent bei der Bundestagswahl 2017 die Grünen gewählt und 17 Prozent die Linkspartei.

Das ist deutlich mehr, als beide Parteien zusammen in der Gesamtbevölkerung an Rückhalt aufweisen. Die AfD kommt nur auf 14 Prozent.

Viele Grüne fühlen sich von ihrer Partei nicht mehr repräsentiert

Was für eine stark postmoderne Prägung der Gedankenwelt hinter den Corona-Protesten spricht, ist die an die Anfangsphase der Grünen erinnernde Kritik an Industrialisierung und technologischem Fortschritt.

Dies würde auch Nachtweys Beobachtung erklären, dass in der „Querdenker“-Bewegung die Skepsis gegenüber Impfstoffen eine bedeutende Rolle spiele, hingegen Studien über den Klimawandel nicht für manipuliert oder Agenda-gesteuert gehalten würden.

Ein Hang zur „Naturromantik“ sei es auch, so Nachtwey, der zur Folge habe, dass „Querdenker“ auch mit Blick auf Corona den „Selbstheilungskräften“ ein höheres Vertrauen schenken als der Schulmedizin. Der Soziologe hält es für möglich, dass die Bewegung eine Erosion des grünen Milieus nach sich ziehen könnte – so wie Hartz IV der SPD und die Flüchtlingskrise der CDU geschadet habe.

Teile des grünen Milieus fühlten sich von dieser Partei nicht mehr repräsentiert. Vor allem sei dies „der anthroposophisch-esoterische Teil des grünen Milieus, Menschen also, die der modernen Industriegesellschaft und der Wissenschafts­gläubigkeit kritisch gegenüberstehen“.

Wanderungsbewegung hin zur AfD als Reaktion auf Medienecho

Allerdings scheint die Reaktion von Politik und Medien auf die Corona-Proteste eine signifikante Wanderungsbewegung auszulösen. Der Studie zufolge wollen bei den Bundestagswahlen im kommenden Jahr bereits 30 Prozent der befragten „Querdenker“ die AfD wählen. Nachtwey dazu:

Es ist eine Bewegung, die mehr von links kommt, aber stärker nach rechts geht, sie ist jedoch enorm widersprüchlich.“

Die Entfremdung von den Institutionen des politischen Systems, den etablierten Medien und den alten Volksparteien sei das einigende Band zwischen den „Querdenkern“ – was als Muster auch schon Bewegungen der 2010er gekennzeichnet hatte vom „Friedenswinter“ bis zu Pegida.

Obwohl immer mehr Anhänger der gegen die Corona-Maßnahmen gerichteten Bewegung die AfD wählen wollen, können nur wenige von ihnen mit deren Positionen zum Islam und in der Flüchtlingspolitik etwas anfangen, meint Nachtwey gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ):

Eine Mehrheit der Befragten bestreitet, dass auf Minderheiten zu viel Rücksicht genommen wird in Deutschland. Fremden- und Islamfeindlichkeit sind schwach ausgeprägt.“

Kinder der 1980er als Träger der Proteste?

Andererseits sei auch die Nähe zur traditionellen Religion und den Kirchen gering. Das Durchschnittsalter von 47 Jahren deutet darauf hin, dass ein Großteil der Anhänger von „Querdenken“ in den 1980er Jahren aufgewachsen ist und im westdeutschen Zeitgeist jener Ära sozialisiert wurde.

Diese Zeit galt als Blütezeit der Postmoderne. Diese zeichnete sich dadurch aus, dass sie den „großen Erzählungen“ der Moderne eine Neigung zum Totalitarismus bescheinigte. Sie stellte einer verbindlichen Wahrheit, die jedermann kraft religiöser Offenbarung oder mittels des menschlichen Verstandes erkennen könne, die Möglichkeit einer Vielfalt gleichberechtigt nebeneinander bestehender Perspektiven gegenüber.

Während die Postmoderne in einer gemäßigten Form vor allem mit den Mitteln der Ironie und Persiflage auf Wahrheitsansprüche reagierte – wie es unter anderem in der Kunst der 1980er zu erkennen war -, führt ihr Relativismus in seiner äußersten Form zu einer Abschaffung etablierter Maßstäbe von Vernunft und Moral.

Antisemitische Stereotype

Nachtwey meint aus den Ergebnissen seiner Untersuchung antisemitische Stereotype in der Bewegung herauslesen zu können. Er geht diesbezüglich jedoch nicht ins Detail, sodass offen bleibt, ob diese Einschätzung auf konkrete Inhalte bezogen ist oder eher mit der pauschalen Einschätzung begründet wird, dass Verschwörungstheorien immer einen antisemitischen Kern hätten – wie es etwa Anetta Kahane von der Amadeu-Antonio-Stiftung behauptet.

Allerdings seien andere „klassisch rechtsautoritäre oder rechtpopulistische Einstellungen“ unter den Querdenken-Befragten deutlich seltener zu erkennen gewesen, erklärt Nachtwey weiter. So sagten 64 Prozent, sie würden ihre Kinder autoritätskritisch erziehen, auch würde der Nationalsozialismus „seltener verharmlost als in der Gesamtbevölkerung“.



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