Diplomat über Lage Merkels: Vor einer Woche noch die „Königin Europas“ – aber jetzt haben einige schon „Blut geleckt“
Es ist ein eng getakteter Tag für Angela Merkel. Am Morgen die Regierungserklärung im Bundestag, dann nach Brüssel und vermutlich am Ende eine jener berüchtigten Gipfelnächte im Europäischen Rat. Ist dieser Donnerstag der Tag, der über Merkels Kanzlerschaft entscheidet?
Zwei Wochen hat sich die CDU-Chefin Zeit genommen, um eine europäische Lösung für das innenpolitische Problem zu finden, das die große Koalition in Berlin zu sprengen droht und das auch die Europäische Union erschüttern könnte.
Innenminister Horst Seehofer, der CSU-Chef, droht mit einseitiger Zurückweisung von Migranten an der deutschen Grenze – das ist rechtlich umstritten und europapolitisch gefährlich, eine Abkehr von Lösungen im Konsens und das mögliche Ende des Reisens ohne Grenzkontrollen. Doch was ist die Alternative? Die zwei Wochen sind um. Merkel muss liefern.
Guter Wille ist spürbar bei etlichen europäischen Partnern, denn viele haben großes Interesse daran, den kontrollfreien Schengenraum zu retten und gemeinsames Handeln zu demonstrieren. Auch wäre eine Neuwahl in Deutschland für viele in Europa wohl ein unkalkulierbares Risiko. Am Sonntag reisten 16 Staats- und Regierungschefs bereits zu einem Mini-Gipfel nach Brüssel, den EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker auf Merkels Wunsch organisiert hatte.
Vier Stunden redeten sie und fanden am Ende sogar eine Art Minimalkonsens. „Wir sind uns alle einig, dass wir die illegale Migration reduzieren wollen, dass wir unsere Grenzen schützen wollen und dass wir alle für alle Themen verantwortlich sind“, fasste Merkel das Treffen danach zusammen. Nur, was nützt ihr das im konkreten Streit mit Seehofer?
Auch am Tag vor dem Gipfel wirkt es immer noch so, als passte die Lösung nicht zum Problem – jedenfalls ist nicht erkennbar, mit welcher Trophäe Merkel aus Brüssel zurückkehren könnte. Im Entwurf der Gipfelerklärung ist wieder die Rede von besserem Schutz der Außengrenzen durch Stärkung der EU-Agentur Frontex, dazu von der Idee sogenannter Anlandepunkte – oder auch „Ausschiffungszentren“ – außerhalb der EU, die gerettete Bootsflüchtlinge aufnehmen könnten.
Das würde Italien gefallen, das in den vergangenen Tagen mit der Sperrung seiner Häfen für private NGO-Schiffe ebenfalls Druck in der Migrationsdebatte aufgebaut hat. Und das wird wohl auch der CSU gefallen, würde es doch die Zahl der Ankommenden in Europa reduzieren. Aber es ist eben kurzfristig keine Antwort auf Seehofers Forderung, die Weiterreise bereits in der EU registrierter Asylbewerber nach Deutschland zu unterbinden.
Diese „Sekundärmigration“ ist im Entwurf der Gipfelerklärung nur kurz angerissen: Sie sei gefährlich für das europäische Asylsystem und das Abkommen von Schengen. „Mitgliedstaaten sollten alle nötigen internen gesetzgeberischen und administrativen Maßnahmen ergreifen, um solchen Bewegungen entgegenzuwirken, und dabei eng zusammenarbeiten.“ Wie das geschehen soll, wird der Gipfel wohl offen lassen.
Unklar bleibt auch, wie und mit wem Merkel dabei zusammenarbeiten will. Gespräche am Rande des Gipfels wird es wohl geben, vielleicht sind sogar Verabredungen mit einzelnen Ländern möglich, registrierte Asylbewerber schneller zurückzuschicken. Aber ob das am Ende reicht?
Diese Entscheidung fällt am Wochenende in München. Alles hängt nun davon ab, ob Seehofer und der bayerische Ministerpräsident Markus Söder den Asylstreit doch noch entschärfen wollen – oder eben nicht. CDU und CSU haben bereits in den Abgrund geblickt: Rausschmiss Seehofers aus der Regierung, Trennung der Fraktionsgemeinschaft, Neuwahlen kurz vor oder zeitgleich mit der bayerischen Landtagswahl im Oktober – will die CSU das wirklich?
Ihr Landesgruppenchef Alexander Dobrindt gab sich nach dem ergebnislosen Koalitionsausschuss der GroKo in Berlin am Mittwoch unbeugsam. „Wir wissen ja seit drei Jahren, dass die europäischen Lösungen schwierig sind. Aber der Zeitplan jetzt ist ja klar.“
Manche halten es für möglich, dass die CSU den Streit zumindest vorerst nicht weiter eskalieren lässt. Sie könnte daraus so etwas wie einen „frozen conflict“ machen, den die vor der Bayern-Wahl im Oktober mächtig unter Druck stehende Partei jederzeit wieder befeuern könnte. Das aber würde rationales Kalkül voraussetzen.
Angela Merkel hat in ihren 13 Jahren an der Macht unzählige EU-Gipfel überstanden, mal prägend, mal zögernd, mal entscheidend. Auf dem Höhepunkt der Griechenlandkrise schien die Europäische Union schon einmal auf der Kippe.
Damals überlebte die Gemeinschaft, Merkel überstand jede Kritik und war zuletzt die zentrale Figur in Europa. Jetzt aber gibt es vermehrt Kritiker von Merkels Politik – die Kanzlerin wirkt auf einige bereits angezählt.
Noch vor einer Woche, erzählt ein Diplomat, hätte er die Kanzlerin ohne Zögern die „Königin Europas“ genannt, und im Prinzip sei das natürlich immer noch so. „Aber einige haben schon Blut geleckt“, sagt der Brüssel-Kenner. Diesmal geht es womöglich um Merkels Kopf. Zum ersten Mal. (dpa/so)
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