Berliner Oberstaatsanwalt schlägt Alarm: „Dringend Tatverdächtige laufen frei herum, weil es die Justiz nicht auf die Reihe bekommt“
Die Situation ist dramatisch! In der Justiz fehlt Personal. Allein im Strafvollzug sind 1.500 Stellen unbesetzt. Die Auswirkungen sind bereits zu sehen – in Form von organisierter Kriminalität innerhalb der Gefängnisse wie Drogenhandel und Ausschreitungen unter den Gefangenen. Ebenso fehlt es massiv an Staatsanwälten.
Ralph Knipsel, Berliner Oberstaatsanwalt und Vorsitzender der Vereinigung Berliner Staatsanwälte, erklärt in einem Interview mit „Focus“ wohin das führt.
Im letzten Jahr wurden in Berlin nur bei 21 Prozent der Ermittlungsverfahren Anklagen gestellt. Vor zehn Jahren waren es noch 30 Prozent, berichtete „RBB“.
Knipsel macht klar, dass es nicht nur daran lag, dass die Fälle steigen, wo ein hinreichender Tatverdacht nicht nachweisbar ist und deshalb das Verfahren eingestellt wird, wie es der Berliner Senat darstellt.
Verfahren werden eingestellt, da Staatsanwaltschaft überlastet ist
Sondern die Zahl der sogenannten Opportunitätsentscheidungen ist massiv gestiegen. Dies sind Fälle, die wegen geringer Schuld, nicht wegen Unschuld, eingestellt werden. Machmal gibt es noch Auflagen, manchmal aber auch keine.
Der Berliner Oberstaatsanwalt macht deutlich, dass dies immer häufiger vorkommt und die Ursache dafür in der Überlastung der Staatsanwälte zu finden ist. „Die Akten stapeln sich in den Büros der Staatsanwälte“, äußert Knipsel.
„Viele Kollegen wissen sich nicht mehr anders zu helfen“ und so „ist schon mal ein Fall mehr vom Schreibtisch“, so Knipsel gegenüber „Focus“.
Knipsel macht deutlich, dass dies vor allem kleinere Delikte betrifft. Das geht aber bis hin zur Körperverletzung. „Juristen sind hier ein Stück weit Sprachjongleure, was nun eine geringe Schuld ist und was nicht, werden verschiedene Kollegen unterschiedlich bewerten“, so der Jurist.
Knipsel: „Strafjustiz ist nicht in vollem Umfang funktionstauglich“
So kommen in Berlin vermehrt Kriminelle ungestraft davon, nur weil Personalmangel in der Justiz herrscht. „Die Strafjustiz ist nicht mehr in vollem Umfang funktionstauglich“, erklärt Knipsel.
Bei Tötungsdelikten und anderen schweren Fällen finde natürlich Strafverfolgung statt. „Aber nicht in dem Maß, in dem es sein müsste und in dem die Bevölkerung übrigens auch einen Anspruch darauf hat“, so der Anwalt weiter.
Hinzukommt, dass die Wartezeit auf DNA-Gutachten selbst bei Tötungsdelikten teils Monate beträgt. Bei kleineren Delikten, wie Einbrüchen, dauert es manchmal Jahre. Wenn die Ergebnisse vorliegen, hält sich der Verdächtige dann oftmals schon nicht mehr in der Stadt auf.
Außerdem dauert es mittlerweile immer länger, bis es zu einem Prozess kommt. Dies hat dann auch Auswirkungen auf das Urteil. „Je länger sich ein Verfahren zieht [ohne Verschulden des Angeklagten], desto milder das Urteil für den Angeklagten“, so Knipsel.
Mögliche Belastungszeugen verfügen in einem Prozess Jahre später auch nicht mehr über dieselbe Erinnerung, wie kurz nach der Tat. Wenn es dann noch um Berufungsprozesse geht, die dann aufgrund des Personalmangels erst nach ein zwei Jahren verhandelt werden können, gilt dies um so mehr. Durch die langen Verzögerungen, für die die Angeklagten nichts können, verbessern sich die Chancen auf eine geringere Strafe im Berufungsprozess.
Knipsel: „Tatverdächtige auf freiem Fuß – weil Justiz es nicht auf die Reihe bekommt“
Die Tatverdächtigen in U-Haft können natürlich nicht jahrelang festgehalten werden. Innerhalb von sechs Monaten müssen daher in Berlin die Akten, entsprechend dem Beschleunigungsgebot , beim Kammergericht sein.
Allerdings gab es in Berlin schon mehrere Haftentlassungen, weil das Kammergericht eine rechtsstaatswidrige Verzögerung der Verfahren festgestellt hat. Knipsel: „Dringend Tatverdächtige laufen frei herum, weil es die Justiz nicht auf die Reihe bekommt.“
„Das erschüttert das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat. Es ist den Menschen nicht vermittelbar, dass jemand auf freien Fuß gesetzt wird, der dringend tatverdächtig ist“, sagt der Berliner Oberstaatsanwalt dem „Focus“.
Personalmangel muss beseitigt – Bezahlung verbessert werden
Die Lösung des Problems ist den Personalmangel schnellstmöglich zu beseitigen. Knipsel schätzt, dass 50 Staatsanwälte mehr in Berlin schon helfen würden. Dazu ist es notwendig, die unangemessene Besoldung in Berlin abzuschaffen. „Staatsanwälte verdienen in Berlin bundesweit am wenigsten.“ „Hier muss nachgebessert werden“, so Knipsel. (er)
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