Atomausstieg: Ist Deutschland von Stromimporten abhängig?
Der historische Schritt liegt am Montag, 24. Juli, genau 100 Tage zurück: Am 15. April gingen die letzten drei Kernkraftwerke Isar 2 in Bayern, Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg und Emsland in Niedersachsen endgültig vom Netz. Damit endete in Deutschland die Ära der Atomkraft nach 62 Jahren.
Die Daten von „Agora Energiewende“ zeigen, dass seit dem Atom-Aus Deutschland überwiegend von einem Stromexportland zu einem Stromimportland geworden ist. Einige Medien verbreiten aktuell die Meldung, dass hierzu eine falsche Behauptung kursiert, nämlich, dass Deutschland seinen Strombedarf nicht mehr selbstständig produzieren könne.
Eine Falschbehauptung?
Aufgeführt wird folgende Behauptung: „Mit dem Atomausstieg hat sich die Bundesrepublik bei der Stromversorgung größtenteils abhängig vom Ausland gemacht.“ Der Faktencheck bezeichnet dies als „falsch“ und erklärt: Die CSU beschuldige die Ampel, Deutschland in Energiefragen abhängiger vom Ausland zu machen.
Falsch sei in diesem Zusammenhang auch ein Zitat von AfD-Fraktionschefin Alice Weidel. Anfang Juli schrieb sie auf Twitter: „Satte 82 Prozent unseres Strombedarfs müssen unsere europäischen Nachbarn decken.“ Dabei bezog sie sich auf eine Analyse des Energie-Experten Professor André Thess, welche „Bild“ veröffentlichte.
Während die Anschuldigung gegen die Ampel zu Recht falsch sein mag – der „Atomausstieg“ wurde lange vor Grün-Gelb-Rot beschlossen –, lässt sich die Aussage, dass Deutschland bei der Energie abhängig(er) geworden ist, jedoch nicht bestreiten. Allerdings ist es auch nicht so, dass andere Länder 82 Prozent unseres Strombedarfs abdecken müssten.
Prof. Thess bezog sich vielmehr auf die Anzahl der Tage, an denen in Deutschland die Stromimporte die -exporte übertrafen. In den 57 Tagen vom 16. April bis zum 12. Juni war der Stromsaldo negativ, der Import dominierte. Das ergibt die – von Frau Weidel falsch zitierte – Stromimportquote von 82 Prozent. Die Stromimportmenge betrug in diesem Zeitraum 6.712 Gigawattstunden (GWh).
Stromimporte nach Deutschland auf das 6,5-Fache gestiegen
Verglichen mit der Zeit vor dem Atom-Aus ist dies dennoch eine erhebliche Steigerung: In den 106 Tagen vom 1. Januar bis 15. April mussten die deutschen Netzbetreiber lediglich 1.945 GWh importieren. In diesem Zeitraum gab es nicht nur Tage, an denen Deutschland mehr Strom exportierte, sondern auch Zeiten, in denen Deutschland gar keinen Strom importierte (Anfang und Mitte Januar sowie Mitte März).
Das Gegenteil, dass Deutschland keinerlei Strom exportiert, wurde noch nicht erreicht, was technisch bedingt ist. So gab es seit Mitte April mehr als ein Dutzend Tage, an denen lediglich Luxemburg eine kleine Menge Strom aus Deutschland erhielt. Von allen anderen Nachbarn erhielten wir an jenen Tagen mehr Strom als sie von uns.
Zum Vergleich: 2022 lag der Jahresstrombedarf bei 484.200 GWh. Pro Tag benötigte Deutschland demnach etwas über 1.300 GWh; im Sommer wegen der milderen Temperaturen rund 15 Prozent weniger als im Winter.
Den größten Teil seines Strombedarfs kann Deutschland also weiterhin mit seinen eigenen Kraftwerken abdecken. Wurden Anfang des Jahres im Schnitt 18 GWh pro Tag importiert, um den Bedarf zu decken, waren es seit Mitte April rund 117 GWh.
Damit hat sich der durchschnittliche Stromimport auf das 6,5-Fache erhöht. Mit anderen Worten: Während Deutschland im ersten Quartal 2023 etwa die Strommenge eines Tages importieren musste, kam im zweiten Quartal der Strom fast einer ganzen Woche aus dem Ausland.
Bis zu 30 Prozent aus dem Ausland
Nicht nur der Tagessaldo schwankt deutlich, auch der momentane Stromverbrauch variierte im Juli zwischen 40 und 75 Gigawatt (GW). Kombiniert man die Werte aus Stromverbrauch und -saldo, lässt sich die inländische Stromerzeugung ermitteln:
Am Morgen des 14. Juli hatte Deutschland einen negativen Stromsaldo von knapp 16,5 GW. Zur selben Zeit lag der Stromverbrauch bei 55,27 GW. Es wurden also rund 55 GW verbraucht, Deutschland konnte jedoch nur etwa 39 GW bereitstellen. Den fehlenden Strom – knapp 30 Prozent des gesamten Bedarfs zu diesem Zeitpunkt – mussten die Energieversorger aus dem Ausland importieren.
Abhängigkeit oder nur ein Handelsprozess?
Deutschland handelt seit Jahrzehnten im Rahmen des europäischen Energiemarktes mit anderen EU-Staaten in Sachen Strom. Das Ziel ist, durch die allseits gewollte Zusammenarbeit Geld und Emissionen einzusparen. Das heißt: Strom wird sowohl importiert als auch exportiert – und damit innerhalb des Staatenbundes dorthin weitergereicht, wo er benötigt wird.
Es gibt Zeiten, in denen für Deutschland die Elektrizität der Nachbarn billiger ist als die hierzulande produzierte. Laut Medienberichten werde vor allem Strom aus erneuerbaren Energien im Vergleich zur konventionellen Variante immer preiswerter. Obwohl dies unter Fachleuten umstritten ist, sehen Medienhäuser darin kein Zeichen für eine Abhängigkeit, sondern lediglich eine wirtschaftliche Entscheidung.
Seit rund 20 Jahren führt Deutschland Jahr für Jahr mehr Strom aus, als es aus anderen Ländern bekommt. Allein im Jahr 2022 wurde ein Exportüberschuss von etwa 26 Terawattstunden (TWh) erzielt. Seit April 2023 hingegen überwiegt der Import, der mit überwiegend höheren Preisen einhergeht.
Als Deutschland Anfang Juli unerwartet doch Strom exportierte – Wind und Sonne erhöhten die einheimische Stromproduktion –, fielen die Strompreise ins Negative. Es war der bisher einzige Stromexport in dieser Größenordnung seit Mitte April. Statt billigen Strom über Ländergrenzen einzukaufen, bezahlten wir bis zu 50 Cent pro Kilowattstunde dafür, dass andere unseren Strom verwendeten. Für sie war es preiswerter Strom, Deutschlands Stromkunden zahlten drauf.
Wie sieht es 2023 mit dem deutschen Stromhandel aus?
Laut den Daten des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme lieferte Deutschland in diesem Jahr bis zum 21. Juli rund 35.300 GWh Strom an andere europäische Staaten.
Andererseits erhielt die Bundesrepublik von ihren Nachbarn 36.200 GWh. Der Import-Überschuss im Jahr 2023 beträgt nach fast exakt 100 Tagen mit und 100 Tagen ohne Kernkraftwerke also bisher rund 900 GWh.
In den ersten drei Monaten des Jahres 2023 hat Deutschland der Bundesnetzagentur zufolge mehr Strom an die Nachbarn geliefert als importiert. Im Januar lag der Saldo bei einem Export-Überschuss von 4.000 GWh, im Februar bei 2.800 GWh und im März bei 2.100 GWh.
Seitdem überwiegt der Import: Bereits im April wurden 400 GWh mehr Strom ein- als ausgeführt – im Mai 3.500 GWh und im Juni 4.000 GWh. Der Wert für Juli liegt noch nicht vor. Setzt sich die jetzige Entwicklung fort, ist Ende des Jahres mit einem Import von rund 36.000 GWh beziehungsweise 36 TWh zu rechnen. Wie bereits erwähnt: 2022 hat Deutschland 26 TWh exportiert.
Geringer Verbrauch senkt Import
Dass Deutschland im Sommer mehr Strom importiert als exportiert, ist indes kein Alleinstellungsmerkmal für das laufende Jahr. Schon früher zeigte sich in den wärmeren Monaten ein Import-Überschuss. Das war etwa in den Jahren 2010, 2011, 2014, 2019, 2020 und 2021 der Fall.
Das Fraunhofer-Institut erläutert in seinem Bericht über das erste Halbjahr 2023, dass die weggefallenen Mengen der drei Atomkraftwerke „durch geringeren Verbrauch, verringerte Exporte, gesteigerte Importe sowie den Zubau von Solar- und Windkapazität“ kompensiert worden seien. Insgesamt waren etwa 6.700 GWh auszugleichen. Diese Strommenge haben die drei letzten Kernkraftwerke bis zu ihrer Abschaltung am 15. April produziert.
(Mit Material der Agenturen)
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion