Was hinter den Massenprotesten in der Türkei steckt

In der Türkei haben erneut Zehntausende Menschen vor allem in den Metropolen Istanbul und Ankara gegen die Festnahme des Oppositionspolitikers Ekrem Imamoğlu protestiert. Der im Vorjahr mit deutlicher Mehrheit im Amt bestätigte Bürgermeister von Istanbul muss spätestens am Sonntagmorgen, 23. März, dem Haftrichter vorgeführt werden.
Mittlerweile sollen sich mindestens 343 Personen im Kontext der Polizeioperation vom Mittwoch in Gewahrsam befinden.

Die Verhaftung Imamoğlus löst in Ankara massive Proteste aus. Foto: ADEM ALTAN/AFP via Getty Images
Hat Imamoğlu illegale Korruptionsnetzwerke in der Stadtverwaltung geduldet?
Wie „Hürriyet Daily News“ berichtet, soll Imamoğlu in ein großangelegtes Korruptionssystem involviert sein, das die Finanzpolizei MASAK aufgedeckt haben will. Dieses soll sich innerhalb der Stadtverwaltung von Istanbul ausgebreitet haben. So soll der 22-jährige Elektriker Remzi Ceylan, der 2023 zum Chef einer großen Baufirma ernannt wurde, allein im Jahr 2024 von zwei kommunalen Unternehmen Aufträge im Wert von umgerechnet 73,5 Millionen Euro erhalten haben.
Anschließend soll das Geld an Ali Nuhoğlu, den vorherigen Arbeitgeber des 22-Jährigen, überwiesen worden sein. Ceylan und dessen Fahrer hätten von dort ihren Anteil in bar abgehoben. Den Transaktionen sollen illegal abgehandelte Ausschreibungen zugrunde gelegen haben. Nuhoğlu hingegen spricht von kreditbedingten Geldflüssen.
Der Anklagebehörde zufolge soll Imamoğlu über die illegalen Ausschreibungen im Bilde gewesen sein. Außerdem wird ihm Mitwisserschaft zu weiteren Korruptionstatbeständen, zur Beteiligung an betrügerischen Transaktionen, zur Geldwäsche oder zur Verwendung „geheimer Bargeldreserven“ vorgeworfen.

Eskalation vor dem Istanbuler Rathaus am 21. März 2025 – dritte Nacht in Folge protestieren Tausende gegen die Festnahme von Bürgermeister Ekrem Imamoğlu. Foto: YASIN AKGUL/AFP via Getty Images
Aberkennung des Universitätsdiploms könnte Kandidatur vereiteln
Aufgrund einer kommunalen Wahlkooperation zwischen der CHP und der prokurdischen Partei für Gleichheit und Demokratie der Völker (DEM) in ausgewählten Wahlkreisen wirft man ihm auch Unterstützung einer terroristischen Organisation vor. Die DEM entstand aus einer Vereinigung der türkischen Grünen und der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Diese galt als politischer Arm der terroristischen PKK und entging durch die Fusion einem möglichen Verbot.
Was für Imamoğlu einen besonders schweren Rückschlag bedeuten könnte, ist die geplante Aberkennung seines Hochschuldiploms. Die Universität Istanbul hatte diesen am Dienstag gegen ihn und 27 weitere Absolventen verkündet. Im Fall Imamoğlu wurde ein „unrechtmäßiger Universitätswechsel“ als Grund angegeben.
Das Istanbuler Stadtoberhaupt hat gegen die Entscheidung Einspruch angekündigt. Tatsächlich geht es dabei für ihn um alles: In der Türkei bestimmt Artikel 101 der Verfassung, dass ein Präsidentschaftskandidat eine abgeschlossene Hochschulausbildung nachweisen muss. Am Sonntag wollte die CHP Imamoğlu vorzeitig zum Präsidentschaftskandidaten küren. Der Zeitpunkt ist nicht unumstritten: Immerhin steht die nächste Präsidentenwahl erst 2028 an.
In der CHP will man jedoch eigenen Angaben zufolge für den Fall vorbereitet sein, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan sich durch eine vorgezogene Neuwahl eine weitere Amtszeit sichern will. Die Verfassung würde ihm keine weitere erlauben. Auch hatte er 2023 selbst angekündigt, nicht mehr kandidieren zu wollen. Allerdings könnte ein Vorziehen der Wahl für ihn einen Umweg darstellen, sich seine Amtszeit zu „verlängern“. Einer Umfrage von Betimar aus dem Januar zufolge hätte der als möglicher Erdoğan-Nachfolger geltende Außenminister Hakan Fidan nur geringe Erfolgsaussichten.
Imamoğlu nicht zwingend aussichtsreichster Erdoğan-Rivale
Allerdings spricht das Ergebnis der Betimar-Umfrage auch gegen das Narrativ, dass das Vorgehen gegen Imamoğlu helfe Erdoğan, seinen aussichtsreichsten Rivalen loszuwerden. Tatsächlich wäre ihm eine Wiederwahl alles andere als sicher – auch ohne Imamoğlu. Mit lediglich 33 Prozent würde der amtierende Präsident zwar in einem hypothetischen ersten Wahlgang immer noch auf Platz 1 landen. Sein schärfster Rivale wäre jedoch der innerparteiliche Gegenspieler Imamoğlus, der Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş.

Zum kurdischen Neujahrsfest Newroz zeigen Demonstranten ihre Unterstützung für den inhaftierten Politiker Selahattin Demirtaş. Foto: ILYAS AKENGIN/AFP via Getty Images
Dieser startete seine Karriere in der rechtsnationalistischen Partei der Nationalen Bewegung (MHP). Erst 2013 wechselte er in die CHP. Während Imamoğlu eher für einen inklusiven, an der westeuropäischen Sozialdemokratie orientierten Kurs steht, ist Yavaş nach wie vor knallharter Nationalist. In einer hypothetischen Erhebung mit Yavaş als unabhängigem Kandidaten neben Erdoğan und Imamoğlu würde der Hauptstadtbürgermeister vor dem designierten CHP-Kandidaten landen. Bei einem Fünferszenario mit Fidan und dem inhaftierten Kurdenpolitiker Selahattin Demirtaş würde Yavaş sogar in der ersten Runde vor Erdoğan landen.
Einen unmittelbaren Vorteil hätte Erdoğan, sollte er tatsächlich seine Amtszeit ausdehnen wollen, lediglich durch einen prolongierten Streit um die CHP-Präsidentschaftskandidatur. Im Präsidentschaftswahlkampf 2023 hatte der seit 2002 die Geschicke der türkischen Politik bestimmende Erdoğan erstmals im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit verfehlt. Wären am kommenden Sonntag Parlamentswahlen, lieferten sich AKP und CHP ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
Präsident brüstet sich mit außenpolitischen Erfolgen und Ende der PKK
Ob Erdoğan tatsächlich plant, seine Amtszeit als Präsident auf die eine oder andere Weise zu verändern oder nicht: In vielen Teilen der Bevölkerung ist sein Ansehen trotz anhaltender wirtschaftlicher Probleme im Land nach wie vor hoch. Der Machtwechsel in Syrien gilt als sein außenpolitischer Erfolg – obwohl die Türkei offiziell im Bürgerkrieg die „Freie Syrische Armee“ (FSA) und nicht die HTS unterstützt hat. Obwohl sich auch Länder wie Saudi-Arabien um Einfluss in dem früheren osmanischen Kerngebiet bemühen, ist die Türkei dort ein bestimmender Faktor.

Ankaras Straßen im Ausnahmezustand. Foto: ADEM ALTAN/AFP via Getty Images
Als ein weiterer Erfolg Erdoğans gilt der vor einigen Wochen erklärte Gewaltverzicht der terroristischen PKK. Zwar ist ein großer Teil der Bevölkerung skeptisch, ob damit tatsächlich eine dauerhafte Befriedung im Südosten des Landes verbunden sein wird. Dennoch kann der Präsident die Erklärung des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan als Resultat seines Vorgehens präsentieren.
Mit seiner anhaltenden antiisraelischen Rhetorik appelliert der türkische Präsident an Ressentiments, die weit über das eigene politische Lager in der Gesellschaft verbreitet sind. Gleichzeitig betont Erdoğan die geopolitische Schlüsselrolle der Türkei. Als NATO-Anrainerstaat am Schwarzen Meer mit intakter Gesprächsbasis zu allen Beteiligten könnte das Land eine wichtige Rolle im Fall eines Friedens in der Ukraine spielen.
Die Türkei plant einen Mauerbau an der Grenze zu Griechenland
Dazu kommt die Bedeutung der Türkei als Durchgangsland für Pipelinegas aus Aserbaidschan und mit Blick auf die Fluchtrouten in Richtung Europa. Erst jüngst hat der Gouverneur der an der griechischen Grenze gelegenen Provinz Edirne, Yunus Sezer, den Baubeginn einer Grenzmauer verkündet. Zwar ist vorerst nur ein 8,5 Kilometer langes Teilstück entlang des Flusses Maritza vorgesehen – die Mauer soll jedoch die 200 Kilometer lange Landgrenze undurchlässiger machen.
Der Schritt gilt als Akt der Schönwetterpolitik gegenüber der EU – und nicht zuletzt der sich abzeichnenden deutschen Regierung unter Friedrich Merz. Noch vor fünf Jahren hatte Erdoğan Geflüchtete an die griechische Grenze bringen lassen, um politischen Druck auf die Europäer auszuüben.
Inwieweit die Maßnahme signifikante Änderungen bringen wird, ist ungewiss. Im Vorjahr gelangten lediglich etwa 8.000 Asylsuchende über die Maritza nach Griechenland. Demgegenüber versuchten mehr als 50.000 Flüchtlinge, die Türkei auf dem Seeweg über die Ägäis in Richtung EU zu verlassen.
Die Richtung der Kritik der Opposition an dem geplanten Mauerbau dürfte die Bereitschaft in der EU, diesem im derzeitigen innenpolitischen Konflikt beizuspringen, nicht merklich steigern. Die CHP hatte dazu nämlich erklärt, die Regierung solle Asylsuchende an der Ein- und nicht an der Ausreise hindern. Bereits im Wahlkampf 2023 hatte sie versucht, sich durch die Forderung zu profilieren, die Zahl der syrischen Geflüchteten in der Türkei drastisch zu verringern. Bezüglich der Frage, ob diese zurück in ihr Herkunftsland oder weiter nach Europa reisen sollten, äußerte man sich in der CHP betont indifferent.
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