Warnung vor Anstieg häuslicher Gewalt in Zeiten der Krise
Europarats-Generalsekretärin Marija Pejčinović Burić hat eindringlich vor einem Anstieg häuslicher Gewalt während der Ausgangsbeschränkungen aufgrund des Coronavirus gewarnt.
Berichte aus den Mitgliedsländern der vergangenen Wochen hätten bereits gezeigt, dass Kinder und Frauen derzeit in den eigenen vier Wänden einem höheren Missbrauchsrisiko ausgesetzt seien, sagte Pejčinović Burić der Deutschen Presse-Agentur. Neben dem erhöhten Gewaltrisiko könnten die Auswirkungen der Coronavirus-Krise Frauen auch wirtschaftlich hart treffen und deren finanzielle Unabhängigkeit bedrohen, erklärte Pejčinović Burić.
Berichte aus Frankreich zeigten, dass viele Frauen wegen der Beschränkungen keine Notrufstellen anrufen könnten, sagte die Generalsekretärin. Pejčinović Burić zufolge gingen bei den Hilfe-Telefonnummern gut viermal weniger Anrufe ein als normalerweise. Dafür hätten Sofortnachrichten im Internet an entsprechende Hilfsorganisationen in ganz Europa zugenommen. Das könne bedeuten, dass Täter ihre Opfer davon abhalten, telefonisch Hilfe zu suchen, so Pejčinović Burić. In Dänemark habe man beobachtet, dass die Zahl der Frauen gestiegen sei, die Zuflucht in einem Frauenhaus suchten, sagte die Generalsekretärin.
Der Europarat mit Sitz im französischen Straßburg hat zur Aufgabe, über die Menschenrechte in seinen 47 Mitgliedstaaten zu wachen. Zu diesen gehören neben den EU-Staaten unter anderem auch die Schweiz, Russland, die Türkei, die Ukraine und Aserbaidschan. Stellen des Europarats stünden zum Thema der häuslichen Gewalt auch im Kontakt mit deutschen Behörden, sagte Pejčinović Burić.
„Wir müssen leider mit dem Schlimmsten rechnen“, sagte Jörg Ziercke, Bundesvorsitzender der Opferschutzorganisation Weißer Ring. „Die Corona-Krise zwingt die Menschen, in der Familie zu bleiben, hinzu kommen Stressfaktoren wie finanzielle Sorgen und Zukunftsunsicherheit.“ Die Opferhelfer würden das Problem von Festtagen wie Weihnachten kennen, so Ziercke. „Wenn die Menschen tagelang zu Hause sind, gehen die Fallzahlen in die Höhe. Die Kontaktsperre wegen Corona dauert aber sehr viel länger als Weihnachten, die Stressfaktoren sind auch größer.“ Nach Angaben der Organisation wurden im Jahr 2018 mehr als 140 000 Fälle häuslicher Gewalt bei der Polizei angezeigt.
Experten warnen, dass die Ausgangsbeschränkungen gerade auch für Kinder gefährlich werden können. Denn dort, wo es schon Gewalt gebe, werde sie noch einmal schlimmer, erklärte die Leiterin des Lehrstuhls Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität des Saarlandes, Tanja Michael. Grund für eine „Verschärfung“ sei der Umstand, dass nach der Schließung von Kitas und Schulen sowie weitgehenden Kontakt-Verboten wegen der Corona-Pandemie Familien auf sich zurückgezogen seien. Vor allem um betroffene Kinder müsse man sich nun „extrem sorgen“, sagte die Professorin.
„Die Täter haben jetzt viel mehr Zugriff auf die Kinder und die Kinder haben weniger Möglichkeiten, nach außen Signale zu senden, dass etwas nicht stimmt.“ Hinzu komme, dass die Täter in der derzeitigen Situation vermutlich „noch schlechter gelaunt sind als normalerweise“.
Aus Wuhan in China, wo das Coronavirus zuerst grassierte, gebe es Untersuchungen zu der Entwicklung: Dortige Frauenorganisationen hätten in der Quarantäne-Zeit dreimal so viele Opfer von häuslicher Gewalt registriert. Zudem habe die Polizei doppelt so viele Notrufe von Frauen bekommen.
Auch die Berliner Gewaltschutzambulanz befürchtet einen starken Anstieg von Kindesmisshandlungen. „Die soziale Kontrolle ist derzeit nicht da – der Bereich, in dem sonst häusliche Gewalt gegen Kinder auffällt, also in Schulen, Kitas oder bei Tagesmüttern, ist ja gerade weggefallen“, sagte die Vizechefin der Ambulanz, Saskia Etzold. Bei eingeschränkter Öffentlichkeit würden Verletzungen jetzt weniger bemerkt. „Wir müssen wohl davon ausgehen, dass innerfamiliäre Gewalt in den nächsten Wochen deutlich ansteigt.“
Die vor sechs Jahren gegründete Ambulanz gehört zur Berliner Charité. Opfer – sowohl Kinder als auch Erwachsene – können ihre Verletzungen dort von Rechtsmedizinern vertraulich und kostenlos dokumentieren lassen. (dpa)
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