Türkei: Königsmacher Sinan Oğan will sich bis zum Wochenende zur Stichwahl äußern
Erstmals seit Einführung der Direktwahl des Präsidenten in der Türkei wird diese am 28. Mai in einem zweiten Durchgang entschieden. Klarer Favorit ist dabei Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan, der mit 49,5 Prozent nur knapp die absolute Mehrheit verfehlte. Er hat knapp fünf Prozent Vorsprung auf seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu. Mit Spannung wird dennoch die Empfehlung des Drittplatzierten im ersten Durchgang erwartet – mit fünf Prozent der Stimmen gelang dem Nationalisten Sinan Oğan ein Achtungserfolg.
Sinan Oğan saß von 2011 bis 2015 für die MHP im Parlament
Wie Oğan im Gespräch mit dem ZDF erklärte, will er sich bis zum Wochenende bezüglich der Stichwahl äußern. Er war als Kandidat der rechtsnationalistischen „ATA Allianz“ („Allianz unserer Vorväter“) ins Rennen gegangen. Bei den Parlamentswahlen spielte diese mit zwei Prozent keine Rolle und konnte keine Mandate erringen.
In der ATA Allianz haben sich 2023 mehrere kleinere nationalistische Parteien zusammengefunden. Der 56-jährige Oğan stammt aus Iğdır und hat aserbaidschanische Wurzeln. Er war über Jahrzehnte hinweg Teil der sogenannten Idealistenbewegung und wurde 2011 für die MHP in die Große Nationalversammlung gewählt.
Zum Bruch mit deren Vorsitzendem Devlet Bahçeli kam es 2015, als dieser ein Bündnis mit Präsident Erdoğan und dessen AKP schloss. Zusammen mit der späteren Gründerin der IYI-Partei, Meral Akşener, und weiteren innerparteilichen Gegnern betrieb er Bahçelis Absetzung. Das Ansinnen scheiterte. Nachdem Sinan Oğan sich 2017 für ein „Nein“ beim Referendum über das Präsidialsystem ausgesprochen hatte, schloss die MHP ihn aus.
AKP-Mehrheit im Parlament senkt Wahlchancen für Kılıçdaroğlu
Seine politische Vergangenheit als Erdoğan-Gegner würde es erwarten lassen, dass Oğan für die Stichwahl eine Empfehlung zugunsten Kılıçdaroğlus abgibt. Nur eine solche würde auch eine realistische Chance für den Oppositionskandidaten schaffen, den Amtsinhaber noch einzuholen. De facto müsste Kılıçdaroğlu die gesamte Wählerschaft Oğans im zweiten Wahlgang für sich mobilisieren.
Der Umstand, dass die AKP und ihre Verbündeten im Parlament bereits eine solide absolute Mehrheit errungen haben, spricht jedoch gegen ein solches Szenario. Dazu kommen Bedingungen und Einschätzungen, die Oğan im ZDF-Interview äußert.
In dem Gespräch äußert Sinan Oğan:
Wer immer auch gewinnen wird, soll mit großem Abstand gewinnen, damit sich das in den Köpfen der Gesellschaft setzen kann und es nicht zu einer politischen Krise kommt.“
Ein knapper Sensationssieg Kılıçdaroğlus, der als Präsident gegen das Parlament regieren müsste, würde eine solche allerdings eher begünstigen.
Sinan Oğan warnt vor Nachgiebigkeit gegenüber dem Terrorismus
Sowohl Erdoğan als auch Kılıçdaroğlu haben nach dem ersten Durchgang der Wahl bereits das Gespräch mit Oğan gesucht. Dieser wollte über die Details nichts Näheres bekannt geben. Es gehe ihm jedoch um „Prinzipien“.
Oğan forderte in diesem Kontext von Kılıçdaroğlu eine klarere Position zur vor allem von Kurden gewählten HDP. Vor dem Staatsgerichtshof ist gegen sie ein Schließungsverfahren anhängig, weil sie im Verdacht steht, politischer Arm der terroristischen PKK zu sein.
Bei den Parlamentswahlen waren HDP-Politiker auf der Liste der Grünen Linkspartei angetreten. Zugunsten von Kılıçdaroğlu hatte die Partei auf einen eigenen Kandidaten verzichtet. Dieser hatte im Gegenzug angekündigt, die Freilassung des inhaftierten Ex-HDP-Chefs Selahattin Demirtaş zu veranlassen.
Kılıçdaroğlu vor strategischem Dilemma
Oğan betont, dass nur Staatsanwälte und Richter über Freilassungen entscheiden könnten. Was die Kurden in der Türkei anbelange, hätten diese das Recht, alle politischen und exekutiven Funktionen anzustreben. Dennoch müsse es eine klare Abgrenzung zur PKK geben:
Sie können alles werden, aber der Abstand zu Terroristen muss gehalten werden. Das ist alles, was ich will. Und die HDP kriegt das nicht hin.“
Bereits im Wahlkampf hatte Oğan auch eine harte Linie gegen das Gülen-Netzwerk gefordert. Die prowestliche islamische Bewegung wird in der Türkei regierungsamtlich als „FETÖ“ („Fetullahistische Terrororganisation“) bezeichnet. Die Regierung beschuldigt sie, den Staatsapparat unterwandert und den vereitelten Putschversuch von 2016 organisiert zu haben. Vertreter des weltweit tätigen, hauptsächlich von Akademikern getragenen Netzwerks bestreiten eine Verwicklung.
Für Kılıçdaroğlu könnte es sich jedoch als strategische Falle erweisen, vor der Stichwahl auf Distanz zur HDP zu gehen. Es würde seine Chancen, Wähler von Oğan zu sich zu holen, erhöhen. Gleichzeitig könnte es Anhänger der HDP verprellen. Diese kam unter dem Banner der Grünen immerhin auf neun Prozent der Stimmen zur Großen Nationalversammlung.
Flüchtlinge werden zum zentralen Wahlkampfthema
Sinan Oğan mahnt jedoch auch Präsident Erdoğan, eine klare Linie zum Terrorismus zu ziehen. In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass die kurdische Partei „Hüda Par“ zu dessen Wahl aufgerufen hatte. Die „Partei der Freien Sache“ gilt als Teil der im Jahr 2000 verbotenen türkischen Hizbullah-Bewegung.
Eine weitere Bedingung, die Oğan stellen wird, ist die Rückführung der fast vier Millionen syrischen Flüchtlinge, die mittlerweile in der Türkei leben. Kılıçdaroğlu hatte dieses Thema im Wahlkampf mehrfach angesprochen, auch um Stimmen aus nationalistischen Kreisen zu erlangen.
Erdoğan und die AKP waren in diesem Kontext zurückhaltender. Allerdings befürworten auch sie grundsätzlich eine Rückkehr der meisten Geflüchteten. Die Türkei will durch die militärische Schaffung von Schutzzonen im Norden Syriens die erforderlichen Voraussetzungen dafür schaffen.
Eine zu starke prowestliche Ausrichtung der türkischen Politik dürfte der mögliche „Königsmacher“ Oğan ebenfalls nicht goutieren. Der studierte Betriebswirt promoviert er am Moskauer Staatsinstitut für Internationale Beziehungen (MGIMO) in Russland. Obwohl es zwischen türkischen „Idealisten“ aufgrund ihrer turanistischen (pantürkischen) Ausrichtung historische Reibungspunkte mit Russland gibt, sind viele von ihnen eurasisch ausgerichtet.
In Deutschland können Türken ab Samstag wählen
Neben Flüchtlingen und Terrorismus wird auch die Energiepolitik in der Stichwahl eine Rolle spielen. Während Präsident Erdoğan auf einen breiten Energiemix setzt und beispielsweise nach weiteren Erdgasfeldern suchen will, steht Kılıçdaroğlu für eine „Energiewende“-Politik nach europäischem Vorbild. Er will beispielsweise aus der Kohle aussteigen und bis 2050 eine Netto-Null-Emissionspolitik verfolgen.
Auslandstürken können in den meisten Ländern, darunter auch in Deutschland, ihre Stimme für die Stichwahl ab Samstag, 20. Mai, abgeben. Wahlschluss ist am darauffolgenden Mittwoch. In Deutschland sind rund 1,5 Millionen türkische Staatsangehörige stimmberechtigt. Im ersten Wahlgang haben knapp zwei Drittel der stimmberechtigten Deutschtürken Präsident Erdoğan ihre Stimme gegeben.
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion