Regnerisches Sofia

Titelbild
Foto: Dimitar Dilkoff/AFP/Getty Images
Von 22. Januar 2011

Sofia, Bulgarien – November 2010. Die Sonne versteckt sich mehr denn je, Wolken erscheinen am Himmel. Von dort fangen Regentropfen an auf die Erde zu fallen – wie aus der Duschbrause eines durchschnittlich luxuriösen Apartments im Zentrum der bulgarischen Hauptstadt.

Ich wache mit mieser Stimmung auf und entdecke das schlechter gewordene Wetter. Mein Bewusstsein beginnt, sich Überlebenspläne mit einem einzigen Ziel auszumalen: meinen Arbeitsplatz zu erreichen. Hoffentlich noch an diesem Morgen …

Ich ziehe meine Gummistiefel an, die ich stolz in einem neu gebauten Einkaufszentrum gekauft hatte – ungefähr das sechste in Folge in diesem Jahr – das sich selbst als das größte in diesem Sonnensystem bezeichnet. Einkaufszentren schießen wie Pilze aus dem Boden und locken Bulgaren, die noch nicht die Möglichkeit hatten, im Ausland zu günstigeren Preisen einzukaufen und die über die unverständlich hohen Preise einiger weltbekannter Marken zu seufzen.

Dann tauche ich in das unvorstellbare Chaos ein, das direkt vor den Eingangstüren des Apartmentblocks liegt, in dem ich lebe.

Genau jene Eingangstür kann nicht vollständig geöffnet werden. Dies liegt daran, dass vor der Tür eine polierte Limousine der Dame von nebenan geparkt ist. Ich glaube, sie ist die Frau eines frischgebackenen Geschäftsmannes, der einen Haufen Geld während des Real-Estate-Booms in den letzten fünf Jahren gemacht hatte. Indessen ist sein Status, seit die Krise eingesetzt hat und keiner mehr seine Gebäude haben möchte, gesunken. Und der Wert der Limousine seiner Frau ebenso.

Irgendwie hat es das Auto dann geschafft. sich in die Reihe der anderen Autofahrer einzuordnen, die regelmäßig der Grund für Verkehrsstaus auf den Straßen unserer Hauptstadt sind.

Mit der Leichtigkeit einer Antilope und dem Talent, das unserem momentanen Minister für Sport geholfen hat, Champion im Hochsprung zu werden, weiche ich geschickt dem Verkehr aus und steure in Richtung Bushaltestelle.

Dort werde ich Teil einer Menge, die stark an eine Herde domestizierter Rinder erinnert. Sie alle warten auf den antiken Bus, der es irgendwie immer noch schafft, seine täglichen Runden zu absolvieren. In der Zwischenzeit kann man beobachten, wie die neuesten Luxuswagen versuchen, zwischen den alten Vehikeln der öffentlichen Verkehrsmittel Platz zu finden. Ein Kontrast, der es immer wieder wert ist, sich anzusehen.

Die gleichmütigen Busfahrer sind Helden und sollten verehrt werden. Sie sind mutige Profis, denen es gebührt, dass sie eine Fangemeinde haben. Sie haben fast göttliche Fähigkeiten und können den Bus drehen und wenden, als wäre er flüssig: diese mehrere Tonnen schwere Maschine, angefüllt mit Fahrgästen, die es gerade so schafft, ganz zu bleiben.

Sehr mutig bin ich nicht, als ich in diesem technologischen Wunder, das aus der Mitte des letzten Jahrhunderts stammt, fahre. Stattdessen tue ich etwas für meine Fitness, indem ich mich an den eiskalten Metallgriff klammere und mich anstrenge, nicht bei jedem Stopp oder Richtungswechsel gegen die Wände des Busses zu stoßen.

Wenn ich Glück habe, steigen in den Bus nochmal doppelt so viele Mitfahrer ein wie zugelassen und ich muss mich nicht mehr an den Griff klammern: durch den Mangel an Platz wäre es quasi unmöglich, mich zu bewegen. Jetzt weiß ich auch wie sich Tiefseetaucher fühlen, wenn sie in die Tiefe des Ozeans tauchen und dem hohen Druck der Tiefe ausgesetzt sind.

Von dieser Erfahrung äußerst erfrischt, mit fühlbar gestärkter Muskulatur und psychologisch auf alles vorbereitet, was einem das Leben noch bescheren kann, steige ich aus dem Bus aus. Mit erfahrenen, agilen Hopsern springe ich springe ich zwischen dem noch dichter gewordenen Verkehr stehender Autos hindurch, die ihre Hupen maximal beanspruchen, und steuere auf das Gebäude zu, in dem sich mein Arbeitsplatz befindet – die Verkörperung meiner Träume und meiner Errungenschaften.

Dann fange ich an, mich durch den unvermeidlichen Papierkram zu wühlen. Mit einer ganzen Menge von direkten und weniger direkten Vorgesetzten und verständlicherweise mit unzähligen internen Prozeduren und Regeln, die den Arbeitsprozess vereinfachen sollen.

Demnach muss jeder, was immer er auch tun will, ein Formular ausfüllen, es rechtzeitig seinem direkten Vorgesetzten zur Genehmigung vorlegen, es ausdrucken und schlussendlich respektvoll archivieren.

Am Ende eines anstrengenden Tages tauche ich wieder in dasselbe unvorstellbare Chaos ein, das draußen schon ungeduldig auf mich wartet. Wenn ich nach Hause komme springe, ich über die polierte Limousine, die vor der Tür meines Apartmentblocks steht, und schleiche durch die fast geschlossene Tür vorbei an der Frontstoßstange des luxuriösen Vehikels.

Neven Petrov ist Amateurphotograph, Motorsportfan und Ingenieur für Telekommunikation.

Artikel auf Englisch: Rainy Sofia-The Citizens‘ Challenge

 

 



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