Netanjahu brüskiert Biden im Gaza-Krieg erneut – Hamas nennt Angriff einen „notwendigen Schritt“
Während Israels Armee die Kämpfe im Gazastreifen fortsetzt und in der Folge die Spannungen im gesamten Nahen Osten zunehmen, schlägt Ministerpräsident Benjamin Netanjahu im eigenen Land scharfer Gegenwind entgegen.
Tausende Menschen demonstrierten am Samstag in Israel gegen ihn und seine Regierung und forderten das sofortige Ende des Kriegs, um die noch mehr als 100 Geiseln in der Gewalt von Hamas-Terroristen im Gazastreifen freizubekommen.
Am Abend präsentierte Armeesprecher Daniel Hagari Fotos von einem unterirdischen Verlies, in dem die Terroristen Geiseln „in stickiger Luft mit wenig Sauerstoff und furchtbarer Luftfeuchtigkeit, die das Atmen erschwert“, festgehalten hätten.
Netanjahu widerspricht Biden
Die USA drängen zur Lösung der Krise auf die Schaffung eines eigenständigen palästinensischen Staates. Israels Ministerpräsident Netanjahu wies jedoch am Samstagabend die Darstellung von US-Präsident Joe Biden zurück, eine Zweistaatenlösung nach dem Gaza-Krieg sei mit ihm als Regierungschef machbar.
„Ich werde keine Kompromisse eingehen, wenn es um die volle israelische Sicherheitskontrolle über das gesamte Gebiet westlich des Jordans geht – und das steht im Widerspruch zu einem palästinensischen Staat“, schrieb Netanjahu auf der Plattform X (vormals Twitter).
Biden hatte zuvor nach einem Telefonat mit Netanjahu auf die Frage von Journalisten, ob eine Zweistaatenlösung unmöglich sei, solange Netanjahu noch im Amt sei, gesagt: „Nein, ist sie nicht.“
Laut der „Jerusalem Post“ stellte das Büro des israelischen Regierungschefs in einer Stellungnahme klar, dass Netanjahu in seinem Gespräch mit Biden die Position bekräftigt habe, die er seit Jahren konsequent vertrete.
„Nach der Beseitigung der Hamas muss Israel die volle Sicherheitskontrolle über den Gazastreifen behalten, um sicherzustellen, dass der Gazastreifen keine Bedrohung für Israel darstellt, und das steht im Widerspruch zur Forderung nach palästinensischer Souveränität“, wurde Netanjahus Büro zitiert.
Netanjahu hatte erst vor dem Gespräch mit Biden eine Zweistaatenlösung, auf die der wichtige US-Verbündete drängt, mit den Worten abgelehnt: „Israels Ministerpräsident muss imstande sein, auch ‚nein‘ zu sagen, wenn es nötig ist, selbst zu unseren besten Freunden.“ Er denke, dass man in der Lage sein werde, eine Lösung zu finden, sagte Biden nach dem Telefonat mit Netanjahu zu Journalisten in Washington. Es gebe „verschiedene Arten von Zweistaatenlösungen“.
Angehörige von Geiseln fordern Ende der Kämpfe
„Stellt die Kämpfe ein, bezahlt den Preis!“, zitierten israelische Medien einen der Teilnehmer einer Protestkundgebung gegen Israels Regierungschef Netanjahu in Israels Küstenstadt Tel Aviv, dessen Cousin unter den in Gaza festgehaltenen Geiseln ist.
Netanjahu und seine Mitstreiter sagen hingegen, dass nur die militärische Niederringung der Hamas zur Befreiung der Entführten führen könne. Derzeit werden in dem Küstengebiet noch 136 Geiseln festgehalten. Israel geht davon aus, dass etwa 25 Geiseln nicht mehr am Leben sind.
In einem Tunnel unter dem Haus eines Hamas-Terroristen in der heftig umkämpften Stadt Chan Junis im Süden Gazas entdeckte die Armee ein Verlies, in dem 20 Geiseln festgehalten worden seien. Sie hätten sich dort zu unterschiedlichen Zeiten befunden, einige von ihnen seien inzwischen durch einen Austausch gegen palästinensische Häftlinge freigekommen, sagte Armeesprecher Hagari. Er zeigte auch Abbildungen von Kinderzeichnungen, die ein fünfjähriges Mädchen angefertigt haben soll, das unter den Ende November freigelassenen Geiseln war.
Auch UN-Generalsekretär António Guterres sprach sich erneut für eine Zweistaatenlösung aus. „Das Recht des palästinensischen Volkes darauf, einen eigenen Staat zu schaffen, muss von allen anerkannt werden“, sagte Guterres am Samstag. Die Verweigerung des Rechts auf Eigenstaatlichkeit für das palästinensische Volk sei inakzeptabel.
Hamas: Angriff war „notwendiger Schritt“
Die Hamas hat den Angriff auf Israel vom 7. Oktober in einem Dokument als „notwendigen Schritt“ und eine „normale Antwort“ angesichts „all der israelischen Verschwörungen gegen das palästinensische Volk“ bezeichnet. Gleichzeitig räumte die radikalislamistische Organisation in ihrer ersten öffentlichen Stellungnahme zu dem Angriff ein, in dem „Chaos“ an der Grenze zwischen Israel und dem Gazastreifen seien „möglicherweise einige Fehler geschehen“.
Bei der „Durchführung der Operation Al-Aksa-Flut“ seien möglicherweise aufgrund „des schnellen Zusammenbruchs des israelischen Sicherheits- und Militärsystems und des Chaos in den Grenzgebieten“ einige Fehler geschehen, hieß es.
Die Terroristen bestritten eine gezielte Tötung von Zivilisten. „Wenn es Fälle gab, in denen Zivilisten ins Visier genommen wurden, geschah dies versehentlich und im Zuge der Konfrontation mit den Besatzungstruppen“, erklärte die Hamas und behauptete, die israelische Armee und die Polizei hätten „aufgrund ihrer Verwirrung“ viele Israelis getötet.
Bei ihrem Angriff auf Israel überfielen die Hamas-Terroristen zahlreiche Kibbuzim im Süden Israels und verübten dort Gräueltaten. Sie stürmten auch ein Rave-Festival im der Negev-Wüste im Süden Israels und töteten dort mehr als 360 Besucher. Insgesamt wurden bei dem Hamas-Angriff nach israelischen Angaben rund 700 israelische Zivilisten und 76 Ausländer getötet.
Die Hamas forderte zudem in dem 16-seitigen Dokument „das sofortige Ende der israelischen Aggression im Gazastreifen“ sowie das Ende „der ethnischen Säuberung und der Verbrechen gegen das gesamte palästinensische Volk“.
Weiter wies die Hamas in dem auf Englisch und Arabisch veröffentlichten Bericht alle internationalen und israelischen Bemühungen, über die Zukunft des Gazastreifens nach dem Krieg zu entscheiden, zurück. Über die Zukunft des Palästinensergebiets werde allein das palästinensische Volk entscheiden, hieß es.
Hamas-Behörde: Mehr als 25.000 Palästinenser im Gaza-Krieg getötet
Die Zahl der im Gazastreifen getöteten Palästinenser ist nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde seit Kriegsbeginn vor dreieinhalb Monaten auf 25.105 gestiegen. Mehr als 62.680 Menschen seien verletzt worden, hieß es in der Mitteilung am Sonntag.
Binnen 24 Stunden seien bei israelischen Angriffen in dem Küstenstreifen 178 Menschen getötet worden. Es wird dabei nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern unterschieden. Bei rund 70 Prozent der Getöteten soll es sich um Frauen und Minderjährige handeln. Die Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Während die Vereinten Nationen einen ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe fordern und vor einer Hungersnot warnen, verweist Israel auf andauernde Lieferungen.
Seit Beginn des Gaza-Krieges seien fast 10.000 Lkw-Ladungen mit Hilfsgütern in das Küstengebiet gelangt, teilte die für die Kontakte mit den Palästinensern und humanitäre Hilfe zuständige israelische Cogat-Behörde am Samstagabend auf der Plattform X (vormals Twitter) mit. Das waren aber nicht mal 100 Lastwagen pro Tag. Vor Kriegsbeginn fuhren rund 500 Lkw täglich mit humanitären Gütern in das Gebiet.
Angriff auf Stützpunkt mit US-Soldaten im Irak
Unterdessen ist im Irak nach US-Angaben eine von US-Soldaten genutzte Militärbasis angegriffen worden. Vom Iran unterstützte Kämpfer im Westirak hätten mehrere Raketen auf den Stützpunkt Ain Al-Assad abgefeuert, teilte das zuständige Regionalkommando des US-Militärs auf der Plattform X, vormals Twitter, am Samstag mit.
Die meisten Raketen seien von der Luftabwehr abgefangen worden, andere seien auf der Basis eingeschlagen. Eine Reihe US-Soldaten werde medizinisch untersucht. Mindestens ein irakischer Soldat sei verwundet worden.
Proiranische Milizen haben in den vergangenen Wochen ihre Angriffe auf US-Stützpunkte im Irak und in Syrien verstärkt.
Der Angriff auf die Basis Ain Al-Assad erfolgte nur Stunden nach einem mutmaßlich israelischen Luftschlag in der syrischen Hauptstadt Damaskus, bei dem fünf Mitglieder der iranischen Revolutionsgarde getötet wurden, darunter vier „Militärberater“ und ein Soldat, wie die Eliteeinheit mitteilte.
Iran droht mit Vergeltung
Während sich das Militär Israels zunächst nicht dazu äußerte, drohte Irans Präsident Ebrahim Raisi dem Erzfeind mit Vergeltung. Die Islamische Republik werde das „Verbrechen des zionistischen Regimes“ nicht unbeantwortet lassen, zitierte ihn der staatliche Rundfunk.
Der Luftschlag in Syrien und der Angriff auf die von den USA genutzte Militärbasis im Irak reihen sich ein in eine ganze Serie von Angriffen und Vergeltungsschlägen im Nahen Osten seit Beginn des Gaza-Krieges vor gut drei Monaten und schüren die Sorge, dass sich der Konflikt zu einem größeren regionalen Krieg ausweiten könnte. (dpa/red)
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