Flüchtlingskrise: Erdoğan wird „Erpressung“ vorgeworfen – Türkeiexperte sieht Versagen bei der EU

Die Flüchtlingskrise an den Grenzen zwischen der Türkei und der EU hält an. Immer noch strömen Asylsuchende in Richtung Edirne. Aus Europa werden schwere Vorwürfe an Präsident Erdoğan gerichtet. In Ankara heißt es hingegen, die EU habe die Krise selbst geschaffen.
Titelbild
Migranten in der Nähe des Tunca-Flusses am 5. März 2020 in der Nähe des Grenztors von Pazarkule in der Stadt Edirne im Nordwesten der Türkei.Foto: OZAN KOSE/AFP über Getty Images
Von 5. März 2020

Die angespannte Situation an den EU-Außengrenzen zur Türkei prägt weiter die tagespolitische Debatte der Mitgliedstaaten. Derzeit sollen sich immer noch mehrere tausend Schutzsuchende, hauptsächlich aus dem kriegsgeschüttelten Syrien, vor den Landesgrenzen zu Griechenland oder Bulgarien sammeln oder die Überfahrt auf die griechischen Inseln auf dem Seeweg wagen. Der Zustrom soll sich in den vergangenen Tagen sogar noch verstärkt haben. Bereits bis Sonntagmorgen sollen nach Angaben des türkischen Innenministers Süleyman Soylu 78 358 Flüchtlinge in Richtung Edirne aufgebrochen sein. In einigen Fällen stellten türkische Kommunen sogar Busse zur Verfügung, um Ausreisewillige an die EU-Außengrenzen zu befördern.

Weit über die Grenzen der Mitgliedstaaten, aber auch der weltanschaulichen Lager hinweg ist man sich in Politik und Medien einig: Die Schuld an der Eskalation trage der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der Flüchtlingen, die sich zum Teil schon länger in der Türkei aufgehalten haben, durch eine Stand-Down-Order an seine Grenzsicherungskräfte grünes Licht dafür gegeben habe, den Grenzübertritt in Richtung EU zu wagen.

Die neue Massenfluchtbewegung in Richtung EU setzte am Freitag (28.2.) ein, unmittelbar nachdem Erdoğan diese Order an seine Grenzschützer ausgegeben hatte. Zuvor war die Situation im syrischen Idlib eskaliert, nachdem mehr als 30 türkische Soldaten bei einem Luftangriff der syrischen Armee auf einen Konvoi ums Leben gekommen waren und die Türkei darauf mit Vergeltungsschlägen geantwortet hatte. Dem Astana-Abkommen zufolge stellt Idlib, wo vor allem protürkische und radikal-islamische Rebellengruppen aus anderen Landesteilen Zuflucht gefunden hatten, aber auch eine siebenstellige Anzahl an Binnenflüchtlingen lebt, eine „Deeskalationszone“ dar.

EU spricht von „Erpressung“

Während Erdoğan von einem „Ende der einseitigen Opferbereitschaft“ spricht und die Möglichkeit andeutet, dass demnächst „Millionen“ Einwanderungswillige an die Tore der Europäischen Union klopfen könnten, werfen Politiker und Kommentatoren ihm „Erpressung“ vor. Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel, die 2015 die Einreise von mehr als einer Million Asylsuchenden in die EU ermöglichte, im März 2016 jedoch mit der Türkei ein umfassendes Grenzschutzabkommen abgeschlossen hat, spricht von einem „inakzeptablen“ Vorgehen Ankaras.

Der niederländische Premierminister Mark Rutte erklärt, die EU verhandle nicht „mit dem Messer an der Kehle“. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz warnt: „Eine Situation wie 2015 darf sich nicht wiederholen.“ Der frühere Vizekanzler und Wiener DAÖ-Spitzenkandidat Heinz-Christian Strache vergleicht das Vorgehen Erdoğans, der mehrfach der EU vorgeworfen hatte, ihren finanziellen Verpflichtungen aus den „Flüchtlingsdeal“ 2016 nicht nachgekommen zu sein, mit „Schutzgelderpressung“.

Demgegenüber sieht der Kandidat für den künftigen Vorsitz der CDU, Norbert Röttgen, hinter dem türkischen Vorgehen einen „Hilferuf“, der durch mehr Solidarität und insbesondere Sanktionen gegen Russland beantwortet werden sollte. Moskau unterstützt die derzeitige Offensive des Assad-Regimes in Idlib, die zur Folge hat, dass der Migrationsdruck von dort in Richtung Türkei deutlich angestiegen ist.

Sollte die EU schuldenbefreiend agieren?

In einer Kolumne für n-tv meint Wolfram Weimer vier Gründe dafür ausmachen zu können, warum Erdoğan gerade jetzt die „Erpressbarkeit“ ausnutze, in die sich die EU durch den Flüchtlingsdeal 2016 gegenüber der Türkei begeben habe.

Zum einen wolle er mithilfe der EU-Finanzmittel Lücken im Staatshaushalt sanieren, die durch wirtschaftliche Stagnation, militärische Verwicklungen und Ausfälle im Tourismus, die durch das Coronavirus verschärft würden, entstanden seien. Die unterschiedlichen Positionen zwischen Brüssel und Ankara hinsichtlich der Sachfrage, inwieweit die EU ihrer Verpflichtung, der Türkei sechs Milliarden Euro für die Flüchtlingsversorgung zu bezahlen, nachgekommen sei, resultieren aus einem grundlegenden Auffassungsunterschied: Während Brüssel meint, durch Zahlungen an Hilfsorganisationen seinen Verpflichtungen nachzukommen, steht Ankara auf dem Standpunkt, das Geld müsse dem türkischen Staatshaushalt zufließen.

Zweitens wolle Erdoğan Rückendeckung von der NATO im Syrienkonflikt und sieht einen Bündnisfall. Dieser scheint schon begrifflich auszuscheiden, weil türkisches Staatsgebiet nicht angegriffen wird. Allerdings gibt es dennoch einen wesentlichen Auffassungsunterschied zwischen Ankara und Brüssel und vor allem europäischen Politikern und Medien bezüglich der militärischen Präsenz der Türkei in Syrien. In Europa wirft man Erdoğan einen „Angriffskrieg“ vor.

Demgegenüber rechtfertigt die Türkei ihre Offensive unter dem Namen „Operation Friedensquelle“ im Norden Syriens zum einen mit dem Recht auf Selbstverteidigung gegenüber Terroristen, die in Form des syrischen PKK-Ablegers YPG das Land bedrohen, zum anderen damit, in einem Gebiet, in dem das Regime ohnehin seit Jahr und Tag keine faktische Hoheitsgewalt mehr ausübt, einen sicheren Hafen für Binnenflüchtlinge geschaffen zu haben.

Erdoğan als „religiöser Kulturkämpfer“

In Idlib ist die Türkei zudem Garantiemacht aufgrund des Astana-Abkommens mit der Russischen Föderation aus dem Jahr 2017 – gegen das aus Sicht Ankaras die nunmehrige Offensive des Regimes verstößt. Weimer meint jedoch, Erdoğan versuche Europa und die NATO zurück in den Syrienkonflikt zu holen, weil der Flüchtlingszustrom und die Kosten des Krieges Unmut in der Bevölkerung entstehen ließen.

Zudem wittert Weimer in der „Operation Frühlingsschild“, wie die offizielle Bezeichnung für das nunmehrige militärische Vorgehen der Türkei in Idlib lautet, als Ausdruck einer beabsichtigten Verschiebung der türkischen Grenzen im Sinne eines „neo-osmanischen Projekts“. Erdoğan ziele demnach auf eine Revision der 1923 im Vertrag von Lausanne festgeschriebenen türkischen Grenzen – zumal dieser nach einhundert Jahren seine Rechtsgültigkeit verliere.

Darüber hinaus füge sich die jetzige Politik Erdoğans in dessen Konzept, als „religiöser Kulturkämpfer“ die „Islamisierung Europas“ voranzutreiben. Dies solle subversiv mithilfe muslimischer Flüchtlinge geschehen, denen Erdoğan etwa durch Moscheebauten in Europa „eine Heimat schenken“ wolle – und parallel dazu baue Ankara über die kulturelle Schiene Machtpositionen in Bosnien und Herzegowina, Albanien und dem Kosovo aus. In der Türkei bestreitet man dies auch kaum. Allerdings verweist man dort darauf, dass die Alternative zu einer verstärkten türkischen Unterstützung für dortige islamische Gemeinden eine solche aus den arabischen Golfstaaten wäre.

EU will „mit Anti-Erdoğan-Narrativ von eigener Schuld ablenken“

Auch der Solinger Rechtsanwalt und Türkei-Experte Fatih Zingal vertritt gegenüber der Epoch Times den Standpunkt, dass die Empörung in der EU über die jüngsten Schritte Ankaras in der Flüchtlingskrise fehl am Platze sei. Vielmehr habe die EU bereits 2013 die Chance verstreichen lassen, die Türkei bei ihrem Bestreben zu unterstützen, in Nordsyrien, wo das Assad-Regime seine Hoheitsgewalt verloren habe, eine international kontrollierte UNO-Schutzzone einzurichten.

„Die Türkei wollte nie in Idlib einmarschieren“, erklärte Zingal. „Der Krieg und diese Katastrophen hätten 2013 mit der von der Türkei vorgeschlagenen, international kontrollierten UNO-Schutzzone in Nordsyrien den Krieg und alle Fluchtbewegungen in das Ausland viel früher verhindert und beendet werden können. Assad hätte man auch so dazu bewegen können, abzutreten und Neuwahlen auszurufen. Sie haben es aber nicht geschafft. Und jetzt ist das Problem vor der Tür.“

Man versuche nun, so Zingal weiter, „mit dem Anti-Erdoğan-Narrativ von der Hauptschuld der EU abzulenken und sie der Türkei in die Schuhe zu schieben, was bisher am einfachsten war“. Die EU habe neun Jahre lang die Menschen in Syrien ihrem Schicksal überlassen. Selbst als Idlib 2017 mit Giftgas angegriffen wurde und die Türkei eingerückt sei, um eine Schutzzone für vier Millionen Zivilisten und Binnenflüchtlinge zu schaffen, habe man sie im Stich gelassen. Durch die jetzigen Angriffe seien neuerlich eine Million Menschen in die Flucht getrieben worden – während die Türkei ohnehin bereits vier Millionen Flüchtlinge versorge.

„Aber nachdem die Türkei die Grenze zu Europa für Flüchtlinge geöffnet hat, hat der Aufschrei der EU keine 9 Stunden auf sich warten lassen“, äußert Zingal gegenüber der Epoch Times. „Telefondrähte liefen heiß, erste Hilfszahlungen wurden in Aussicht gestellt und EU-Grenzen wurden verstärkt gesichert. Das einzige wirkliche Interesse der EU an diesen hilfesuchenden Menschen ist deren Abwesenheit.“

„Logische Konsequenz, die Freizügigkeit zu ermöglichen“

Sofern die EU je eine moralische Überlegenheit in Sachen Menschenrechten gehabt haben sollte, so habe sich diese „spätestens mit dem Einsatz von Knüppeln und Tränengas auf schutzsuchende Kinder und Flüchtlinge erledigt“.

Zingal betont, die Türkei habe sich an ihre Verpflichtungen aus dem Flüchtlingspakt von 2016 gehalten. Sie habe Flüchtlinge aus Idlib und anderswo aufgenommen, 112 000 hätten sogar die türkische Staatsbürgerschaft erhalten und man habe aktiv daran gearbeitet, die syrischen Flüchtlinge in die türkische Gesellschaft zu integrieren. In einigen Fällen sei dies jedoch ohne Erfolg geblieben und die Betreffenden hätten andere Ambitionen gehabt – nämlich in die EU zu gelangen.

Da viele der Flüchtlinge ohnehin nicht in der Türkei verbleiben wollten und es für die türkische Regierung absehbar gewesen wäre, dass die Fluchtursachen nicht bekämpft werden würden, sei es, so Zingal, „nur eine logische Konsequenz, dass man den Menschen die Freizügigkeit ermöglicht hat“.



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