Eilt die Ukraine zu schnell in die EU? – Chancen und Risiken
Brüssel drückt aufs Gaspedal, doch die Ukraine als potenzielles neues Mitglied der EU wirft eine Reihe von Fragen auf. Während die einen von einer Stärkung Europas sprechen, warnen andere vor neuen, nicht berechenbaren Problemen für Europa. Was können wir erwarten? Eine Analyse.
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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen am 9. Mai 2023 in Kiew anlässlich des Europatags.
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Hochrangige EU-Bürokraten in Brüssel, eine Mehrheit der Mitgliedsländer und die Führung in Kiew bemühen sich darum, die Ukraine so schnell wie möglich in die EU zu integrieren. Das vom Krieg zerrissene Land ist seit dem Jahr 2022 ein Beitrittskandidat.
Die Europäische Kommission hofft, dass das Land noch vor 2030 der EU beitreten kann. Einem Bericht des Brüsseler Thinktanks Bruegel vom April 2024 zufolge schneidet das Land bei den Kennzahlen der Weltbank zur Regierungsführung und bei den Demokratiebewertungen von Freedom House jedoch schlechter ab als jedes EU-Land.
Die vier Grundfreiheiten des EU-Binnenmarktes ermöglichen den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital. Sollten diese Freiheiten also auch für die Ukraine gelten, würden die internen Probleme des Landes zu gemeinsamen Problemen der Union. Jedoch weist die ukrainische Führung im Falle eines Beitritts auf Vorteile für die EU hin.
Stellvertretende Ministerpräsidentin: Wir werden die Europäische Union stärken
Die Ukraine befindet sich schon seit Jahrzehnten auf dem Weg Richtung EU und verfügt seit 2014 über ein weitreichendes (im Jahr 2017 in Kraft getretenes) EU-Assoziierungsabkommen.
Olha Stefanishyna, die stellvertretende Ministerpräsidentin für europäische und euroatlantische Integration der Ukraine, legte in einem Beitrag für „European Pravda“ im Mai 2024 die Vorteile dar, die ein EU-Beitritt der Ukraine für die EU mit sich bringen könnte.
„Die wichtigste Schlussfolgerung ist, dass trotz des Krieges immer noch ein erhebliches Wachstumspotenzial besteht und die Ukraine über mehrere Bereiche verfügt, durch die wir die Europäische Union erheblich stärken können“, so Stefanishyna.
Olha Stefanishyna, stellvertretende Ministerpräsidentin der Ukraine für europäische und euroatlantische Integration.
Foto: Helmut Fohringer/APA/AFP via Getty Images
Die EU werde nach einem Beitritt der Ukraine über eine der größten Armeen mit Kampferfahrung „in der Abwehr eines massiven Überfalls“ verfügen, so Stefanishyna. Die NATO habe bereits ihre Strategie an die ukrainische Kriegsführung angepasst, betonte die Politikerin.
Über die Ukraine könne die EU zudem ihr Logistiknetzwerk in den Osten ausweiten. Nach Schätzungen von Experten seien die ukrainischen Häfen vor dem Krieg nur zu 50 Prozent ausgelastet, sodass es ein „riesiges Potenzial zur Steigerung des Güterumschlages“ gebe, schreibt Stefanishyna.
Die stellvertretende Ministerpräsidentin nannte die auch landwirtschaftlichen Potenziale der Ukraine als einen wichtigen Vorteil für die EU. Sie räumte auch bestehende Herausforderungen der europäischen Integration in diesem Bereich ein, betonte aber, dass das Land auch ein Garant für die Ernährungssicherheit in der EU sein könne.
Ferner würde das Land helfen, den Migrationsstrom in die EU zu reduzieren, da es auch „ein Garant für die Ernährungssicherheit der Länder Afrikas und des Nahen Ostens“ sei, die „stark auf relativ billige Produkte angewiesen sind, um Hungersnöte zu verhindern“.
Außerdem nannte Stefanishyna mehr Handelsmöglichkeiten, größere Energiesicherheit, verbesserte Widerstandsfähigkeit, sicherere Lieferketten und ein breiteres Spektrum an Waren und Dienstleistungen als weitere Vorteile. Auch werde die Abhängigkeit des EU-Binnenmarktes von Drittländern bei Rohstoffen und Zulieferteilen verringert, betonte sie.
Der Name „Ukraine“ bedeutet „Grenzland“ oder „Randgebiet“. Der Staat, der erst 1991 unabhängig wurde, stand einst unter polnischer, habsburgischer und russischer oder sowjetischer Herrschaft. Die Grenzen, die durch die Unabhängigkeit anerkannt wurden, schlossen daher auch Gebiete ein, die zuvor zu Russland, Polen, Ungarn oder Rumänien gehört hatten. Heute ist das Land deswegen ein Gebiet mit einer Vielzahl von Volksgruppen und einem großen russischen Bevölkerungsanteil.
Die Ukraine zeichnet sich durch eine präsidentiell-parlamentarische Regierungsordnung aus. Der IWF schätzt die Bevölkerung des christlich geprägten Landes im Jahr 2024 auf rund 33,3 Millionen Menschen. Mit einer Fläche von 603.000 Quadratkilometer ist sie nach Russland das zweitgrößte Land in Europa.
Die Ukraine entspricht allein einem Siebtel der derzeitigen Gesamtfläche der EU.
Foto: wannarat jumnongtoy/iStock
Rund 70 Prozent des Landes besteht aus landwirtschaftlicher Nutzfläche, auf der große Mengen an Getreide- und Ölpflanzen für den Export angebaut werden. Die Ukraine ist auch bekannt für ihre Bodenschätze. Dazu gehören besonders Lithium, Kobalt, Titan, Seltene Erden und Erdgas, aber auch Öl, Eisenerz, Kohle, Mangan, Salz, Schwefel, Grafit, Magnesium, Kaolin, Nickel und Quecksilber.
Die größten internen Herausforderungen des Bewerberlandes
Seit der Unabhängigkeit hat das riesige Land mit erheblichen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen, die vor den Einmarsch Russlands im Jahr 2022 zurückreichen. Im Jahr 2021 betrug das Pro-Kopf-BIP des Landes weniger als 30 Prozent des EU-Durchschnitts, so die Denkfabrik Bruegel.
Gleichzeitig bildete sich eine sehr reiche, aber schmale Oberschicht heraus. Das Land erlebte den Aufstieg von Oligarchen, die durch den Privatisierungsprozess nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion an die Macht gekommen sind. Diese nutzen ihren Reichtum, um „die Politik, die Medien und die Schlüsselindustrien zu kontrollieren“, schreibt der „Kyiv Independent“.
Die finanziellen Schwierigkeiten wurden durch die Kriegssituation seit 2022 noch verschärft. Stand 31. Januar belief sich die Staatsverschuldung der Ukraine zusammen auf insgesamt 168,99 Milliarden US-Dollar. Auch die erwarteten Kosten für den Wiederaufbau steigen aufgrund der Zerstörung stetig an. Nach einer neuen Studie vom Februar schätzen die UN die Gesamtkosten dafür in den nächsten zehn Jahren auf 524 Milliarden US-Dollar.
Die Ukraine hatte zudem bereits vor dem Krieg erhebliche Sicherheitsprobleme. Laut dem Global Organized Crime Index war das Land schon 2021 ein bedeutender Hotspot für Menschen-, Drogen- und Waffenhandel. Laut dem GOCI sei das organisierte Verbrechen stark entwickelt, die Mafia besitze politischen Einfluss, Korruption präge das Justiz- und Staatssystem und Erpressung und Geldwäsche seien weit verbreitet.
Obwohl das Land eine Reihe von Reformen durchgeführt hat, um die Bedingungen für den EU-Beitritt zu erfüllen, sind die Herausforderungen weit gefächert. Eine Analyse der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg unterstreicht, dass die ukrainische Öffentlichkeit in der Frage des Beitritts ihres Landes zur EU auch selbst gespalten sei. Lange Zeit unterstützte nur etwa die Hälfte der Bevölkerung den Beitritt.
Außerdem stellte ein Teil der ukrainischen Bevölkerung infrage, ob der Zeitpunkt für einen Beitritt opportun ist, da es Russland zu weiteren Aggressionen provozieren könne, auch wenn Russland sich offiziell nicht gegen die EU-Mitgliedschaft des Landes ausgesprochen hat.
Ein beschleunigter Beitrittsprozess der Ukraine wirft auch Fragen der Fairness auf, da er andere Beitrittskandidaten vom Balkan vor den Kopf stoßen würde, die jahrelang auf eine Mitgliedschaft gewartet haben. Zudem würde die EU das Risiko einer Außengrenze mit Russland eingehen und ein Land mit ungelösten Grenzkonflikten aufnehmen.
Die Öffnung der Grenzen im Rahmen eines EU-Beitritts könnte auch die Probleme der Massenauswanderung aufwerfen. Ende 2024 wurden rund 6,3 Millionen ukrainische Flüchtlinge in Europa registriert. Allein die Familienzusammenführungen könnten daher eine große Auswanderungswelle auslösen, wenn Männer – die bisher wegen des Krieges nicht ausreisen durften – ihren in den Westen geflüchteten Frauen und Kindern nachreisen.
Offene Grenzen könnten zudem auch Waffen-, Drogen- und Menschenschmugglern den Weg ebnen und auch neue Möglichkeiten für das organisierte Verbrechen bieten.
Die niedrigen Preise und Qualitätsstandards in der ukrainischen Landwirtschaft könnten die Geschäfte der Landwirte in der EU ernsthaft beeinträchtigen. Dies könnte Probleme besonders in Polen, in der Slowakei, in Ungarn und Rumänien auslösen. Ähnliche Verwerfungen könnten aber auch andere Sektoren wie die Chemie- und Energiebranche treffen.
Alles hat seinen Preis
Die stellvertretende Ministerpräsidentin räumte ein, dass die EU einen Preis für den Beitritt der Ukraine zahlen müsse. Aber das sei bei anderen neuen Mitgliedern nicht anders, fügte sie hinzu.
Stefanishyna zitiert die Schätzungen der europäischen Denkfabrik Bruegel. Demnach belaufen sich die jährlichen Gesamtkosten für die Integration der Ukraine auf etwa 0,13 Prozent des BIP der EU. Das entspräche 110 bis 137 Milliarden Euro. „Der EU-Haushalt müsste im Falle eines Beitritts der Ukraine um etwa 20 Prozent steigen“, schrieb sie.
Die Ukraine würde mit ihrem Beitritt in der Tat zu einem Nettoempfänger der EU. Dies hätte auch Konsequenzen für andere Nettoempfänger wie etwa die Slowakei, Ungarn, Polen, Rumänien und Bulgarien. Da das Pro-Kopf-Einkommen der Ukraine am niedrigsten ist, wären die anderen Länder im Vergleich zur Ukraine weniger bedürftig und könnten daher weniger EU-Unterstützung erwarten. Die derzeitigen EU-Mitglieder würden dem Bruegel-Bericht zufolge 19 bis 24 Milliarden Euro weniger Kohäsionsmittel erhalten.
Gibt es einen Kompromiss?
Der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, sagte im Februar in einem Interview mit „Euronews“, er glaube selbst nicht, dass die Ukraine für eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union bereit sei. Juncker warnte, dass Korruption, eine schwache Wirtschaft und Schwächen in der staatlichen Struktur ein zu großes Risiko für andere Mitgliedstaaten seien.
Die Lösung könnte daher eine Mitgliedschaft „zweiter Klasse“ sein, mit Zugang zum Binnenmarkt und Teilnahme an europäischen Diskussionen über Themen, die für die Ukraine von Interesse seien – aber ohne Stimmrecht.
„Wir wollen nicht den Eindruck erwecken, dass sie weit von einer Mitgliedschaft entfernt sind, aber wir wollen zeigen, dass sie auf dem Weg zur Mitgliedschaft sind, ohne alle Rechte und Möglichkeiten einer echten Mitgliedschaft zu haben“, sagte er.