Draghi-Wachstumsplan als „Totgeburt“: Skepsis gegenüber gemeinsame Schulden zur Rettung Europas

Schonungslos hatte Ex-EZB-Chef Mario Draghi die politischen Fehlentwicklungen benannt, die Europa im weltweiten Wettbewerb zurückgeworfen haben. Als Lösungsansatz empfiehlt er eine dreistellige jährliche Milliardensumme an gemeinsamen Schulden für Investitionen. Dagegen regt sich breiter Widerstand.
Titelbild
Der ehemalige italienische Ministerpräsident Mario Draghi (L) und die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen am 9. September 2024 in Brüssel.Foto: NICOLAS TUCAT/AFP via Getty Images
Von 13. September 2024

Der vom ehemaligen EZB-Chef Mario Draghi am Montag, 9. September, vorgelegte Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der EU hat viel an Zustimmung zu dessen Analyse ausgelöst. Kritik gibt es aber vielfach bezüglich der Schlussfolgerungen – und diese kommt insbesondere aus Deutschland.

Draghi hatte in seiner lange erwarteten Ausarbeitung recht schonungslos offengelegt, dass Europa nicht zuletzt im Vergleich zu den USA erheblich an Boden verloren hat. Die EU müsse sich, so der prominente Gutachter, „auf die Produktivität stützen, aber die Produktivität ist schwach, sehr schwach“.

Draghi sieht ganze digitale Sektoren als „für Europa verloren“

Die Europäer würden „nicht in der Lage sein, gleichzeitig eine führende Rolle bei neuen Technologien, ein Leuchtturm der Klimaverantwortung und ein unabhängiger Akteur auf der Weltbühne zu werden“, stellte Draghi ernüchternd fest. Auch sein Sozialmodell werde es perspektivisch nicht finanzieren können. Bei der Vorstellung des Berichts erklärte er „Euractiv“ zufolge:

„Wir werden einige, wenn nicht sogar alle unsere Ambitionen zurückschrauben müssen.“

Das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in den USA sei seit 2000 fast doppelt so schnell gestiegen wie jenes in der EU. Die europäischen Haushalte hätten „den Preis in Form eines entgangenen Lebensstandards gezahlt“.

Europa habe es insbesondere versäumt, Mitte der 1990er-Jahre aus der Internetrevolution Kapital zu schlagen. Einige digitale Sektoren wie das Cloud-Computing seien für Europa im Hinblick auf die weltweite Wettbewerbsfähigkeit „verloren“.

„Kriegsmacht Europa“ als Hoffnung für Innovationen?

Draghi räumte auch ein, dass ein Risiko bestehe, dass „die Dekarbonisierung der Wettbewerbsfähigkeit und dem Wachstum entgegenwirkt“. Europa müsse seine Politik anpassen, denn derzeit seien die Preise für Strom in der EU zwei- bis dreimal und beim Gas vier- bis fünfmal so hoch wie in den USA.

Gänzlich aufgeben sollte man seine Ambitionen jedoch nicht. Die EU sei in der Lage, ebenfalls Innovationen in zahlreichen Bereichen voranzutreiben. Neben Energie, Pharmazeutika und Werkstoffen gelte dies auch für den Bereich der Verteidigung. Europa solle hier „nicht auf die Entwicklung seines heimischen Technologiesektors verzichten“.

Auch bei Dienstleistungen wie autonomer Robotik oder im KI-Bereich sei der Zug für die EU noch nicht gänzlich abgefahren. Als weitere Hoffnungsbereiche identifizierte er Telekommunikation, Raumfahrt und „saubere Technologien“.

„Gefühl, dass nationale Parlamente das besser können“

Die Konsequenz daraus sollte jedoch sein, dass die Europäer ein „gemeinsames Einkaufskartell“ bilden sollten. Zudem sollten jährlich zusätzliche 750 bis 800 Milliarden Euro in öffentliche Investitionen fließen. Den größten Teil davon werde jedoch nicht der private Sektor allein stemmen können.

Deshalb plädiert Draghi dafür, gemeinsame EU-Mittel aufzubringen, um „gemeinsame Ziele“ zu verfolgen. Dies gelte für die Verteidigung ebenso wie für „bahnbrechende Innovationen“. Voraussetzung dafür sei jedoch, dass sich die EU-Staaten darauf einigen könnten. Eine mögliche Lösung, die Draghi ins Spiel bringt, um die Summe aufzubringen, sind gemeinsame Anleihen.

Die Wahrscheinlichkeit dafür scheint jedoch gesunken zu sein. Auf „Bloomberg“ äußert Ökonom Jamie Rush:

„Während es unzweifelhaft ist, dass die Empfehlungen von Ex-EZB-Präsident Mario Draghi etwas für sich haben, ist die Wahrscheinlichkeit einer vollständigen Umsetzung gering.“

Auch AXA-Chefökonom Gilles Moëc, der Draghis Papier einen „Weckruf“ nennt, sieht dafür eine entscheidende Voraussetzung – deren Erfolgsaussichten höchst ungewiss sind:

„Man muss die europäische Idee sehr hart pushen, weil es in vielen Bereichen der Region ein Gefühl gibt, dass die nationalen Parlamente das mit der Wirtschaft besser in den Griff bekommen.“

Lindner und Merz haben bereits abgewunken

Deutschlands Bundesfinanzminister Christian Lindner gab gegenüber „ntv“ bereits zu erkennen, dass er „sehr skeptisch gegenüber Herrn Draghis Zugang zu Schulden“ sei:

„Kurz kann man es so zusammenfassen: Deutschland soll für andere bezahlen. Das kann kein Masterplan sein.“

Auch Bundesbankchef Jens Weidmann gilt als wenig überzeugt von diesem Ansatz. UniCredit-Chefökonom Marco Valli gibt sich illusionsarm. Er weist mit Blick auf die innenpolitisch geschwächten Protagonisten Emmanuel Macron und Olaf Scholz, die „entscheidenden Treiber des europäischen Fortschritts“ hätten aufgrund innenpolitischer Faktoren an Gewicht verloren:

„Rechtsruck und eine nationalistischere und mehr nach innen blickende Politik sind nicht der Boden, auf dem Positionen wie jene von Draghi gedeihen.“

Auch CDU-Chef Friedrich Merz hat bereits abgewunken. Mit Blick auf die Idee gemeinsamer Schulden erklärte er im Bundestag, er werde „alles tun, um zu verhindern, dass Europa diesen Weg wieder beschreitet“.

Ökonomen und Verbände uneinig über Draghi-Vorstoß

Weder unter Ökonomen noch unter Verbandsfunktionären gibt es in Deutschland Einigkeit bezüglich des Draghi-Vorstoßes. Während DIW-Präsident Marcel Fratzscher darin eine Chance sieht, die man im Interesse Europas ergreifen müsse, teilt ifo-Chef Clemens Fuest nur die Analyse.

Gleichzeitig gibt er Lindner recht, denn dessen Vorbehalte gegen gemeinsame Schulden seien „genau das, was jetzt benötigt wird“. Zahlreiche Reformen, so Fuest, ließen sich auch ohne zusätzliche Ausgaben verwirklichen:

„Wenn die Reformen einmal stehen und es einen politischen Willen für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum gibt, kann man immer noch über mehr gemeinsame Ressourcen reden.“

BDI-Hauptgeschäftsführerin Tanja Gönner sieht in Draghis Vorschlägen die Möglichkeit zu einem „großen Investitionsschub, von der EU finanziert“. Der Chef des Maschinenbauverbandes, Thilo Brodtmann, rät von diesem Ansatz ab:

„Wir haben Zweifel, dass gemeinsame Schulden, um öffentliche Förderung zu ermöglichen, der richtige Weg voran sind.“

Varoufakis: Vorhaben wird bereits an Merz scheitern

Auch in sozialen Medien sind die Reaktionen auf Draghis Vorstoß überwiegend skeptisch. Finanzanalyst Bruno Bertez sieht den früheren EZB-Chef und dessen Rezepte als aus der Zeit gefallen:

„Unser Draghi will in einer harten, gnadenlosen, kapitalistischen Welt mit den sozialistischen Waffen kämpfen, die zum Niedergang geführt haben! Europa hat nicht mehr die Mittel, um kapitalistisch zu sein.“

Der Ökonom und frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis bezeichnet Draghis Vorstoß als „Totgeburt“. Dabei verweist er auf „den nächsten Kanzler“ Merz und dessen Ansage, man habe „eine Null-Schulden-Regel in Europa, wer sie ändern will, muss die Verträge ändern“.



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