Die Kostbarkeiten von New York City

Titelbild
Brooklyn Bridge, lower Manhattan und East River.Foto: Saul Loeb/AFP/Getty Images
Von 13. Oktober 2010

Großstädte haben für die meisten Menschen zweifellos eine große Anziehungskraft. New York als eine der größten Städte der Welt hat viele Qualitäten, die es einzigartig macht. Anfangs für mich jedoch nicht.

1971 kam ich mit Frau und Tochter nach New York, um auf dem Gebiet der mikrobakteriellen Genetik zu forschen, einer mir neuen Thematik. Obwohl ich vorher fünf Jahre in Buenos Aires lebte, einer anderen Großstadt, war der Kulturschock für mich immens (meine Frau war früher schon einmal hier). Aber das half auch nichts, denn als wir ankamen, wurden wir zu einem falschen Ort geschickt. Das Hotel unserer Gastgeber – reizende Menschen – hatte zwei Flügel, die unterschiedlicher nicht sein konnten: ein neuer und ein alter unansehnlicher, voller verbitterter, sonderbarer Leute. Unseren Gastgebern schien diese Diskrepanz nicht aufzufallen und wir landeten im alten Flügel. Unser Zimmer war nicht nur alt, sondern auch stickig und noch dazu bevölkert von Schaben und allerlei Insekten, die meine Tochter gruseln ließen und meine Frau und mich nervten.

Mein Englisch war äußerst mäßig. Ich konnte gerade so lesen und schreiben, hatte aber fast keine Übung im Sprechen. Dafür war meine Frau Englisch-Lehrerin, die die Sprache schon als Kind erlernte. Diese Sprachschwierigkeit zusammen mit der unfreundlichen und fremden Umgebung hätten mich, kaum in der Stadt angekommen, am liebsten wieder ein Flugzeug steigen und zurück nach Hause fliegen lassen.

Zum Glück hielt uns der gesunde Menschenverstand meiner Frau davon ab und wir gewöhnten uns an die neue Umgebung. Bald vermieteten Freunde unserer Freunde uns ein Appartement, bis wir uns schließlich selbst eins mieteten. Ab diesem Zeitpunkt fühlten wir uns wohl in der Stadt. So hart es anfänglich für mich war, New York wurde unsere Heimat für nunmehr fast 40 Jahre.

Was ich an dieser kosmopolitischen Stadt ganz besonders schätze, sind die vielfältigen Möglichkeiten, ungewöhnliche Menschen zu treffen. Kürzlich traf ich mich mit einem Freund zum Brunch in einem alten holzgetäfelten Restaurant im Keller eines Greenwich Village-Hotels. Dieser Ort hat früher wahrscheinlich Persönlichkeiten wie Mary McCarthy, Allen Ginsberg und Edmund Wilson bewirtet.
Als wir uns darüber unterhielten, was New York so interessant macht, erzählte ich meinem Begleiter eine Anekdote über die Stadt. Als ich eines kalten Winterabends vom Abendessen bei einem Freund nach Hause fuhr, saßen am Ende des U-Bahnwagens nur zwei Personen nah beieinander, eine alte Frau und ich.

Wir schwiegen. Sie las in einer Zeitschrift und ich war in Gedanken vertieft, als wir wiederholt ein lautes Geräusch von der Tür am anderen Ende des Wagens hörten. Es war ein Mann, der trotz des extrem kalten Wetters nur mit Shorts und T-Shirt bekleidet war, dazu einen riesigen mexikanischen Sombrero auf dem Kopf, an dem allerlei kleine Anhänger baumelten. Während er von Wagen zu Wagen ging, spielte er mit einem Basketball, dessen Geräusch des Aufpralles zu uns herüber klang. Meine Mitfahrerin und ich schauten uns an. Dann sagte sie ganz gelassen: „Nur in New York, nur in New York.“

Mein Freund erzählte mir seine nicht zu toppende Lieblingsgeschichte aus der U-Bahn. Er und seine Frau verbrachten den Nachmittag mit Einkäufen und fuhren mit der U-Bahn nach Hause. Vor ihnen saß ein ziemlich zerzauster Mann, kein ungewöhnlicher Anblick in New York.

Aber ungewöhnlich war, wie dieser Mann hoch konzentriert und selbstvergessen in einem Buch las, ohne auch nur für eine Sekunde den Blick zu heben, so fasziniert schien er von dem Buch. Meinen Freund verwunderte die feindselige und zornige Mimik des Mannes. Ihm und seiner Frau war unbehaglich.

Was dieser Mann wohl las? Mein Freund wunderte sich und versuchte den Titel auf dem Cover zu erspähen. Schließlich konnte er beim Aufstehen einen Blick auf den Titel werfen. Dieser zerzauste und wütend dreinblickende Kerl, las „Wie man Freunde gewinnt und Menschen beeinflusst“.

César Chelala schreibt über Menschenrechte und Fragen der Außenpolitik

Artikel auf Englisch: The Charms of New York City




Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion