Bhutans Glück wird falsch verstanden

Aus dem kleinen Königreich ging der Begriff Bruttonationalglück um die Welt. Das wesentliche Element darin wird jedoch im Westen missachtet.
Titelbild
Das Punakha Dzong Kloster oder Pungthang Dewachen Phodrang (Palast des großen Glücks) und der Fluss Mo Chhu in Punakha, der alten Hauptstadt von Bhutan.Foto: iStock
Von 24. Mai 2022

„Nur wenig wird in Bezug auf Bhutan so oft missverstanden wie das Konzept des Bruttonationalglücks“, erklärt Prof. Dr. Erhard Meyer-Galow, Honorarkonsul des Königreichs Bhutan in Deutschland. Er verdeutlichte am 14. Mai 2022 in Frankfurt, dass es gravierende Unterschiede in den Definitionen von „Glück“ zwischen dem Westen und dem Königreich im Himalaya gibt.

Zudem stellte er beim Bhutan-Tag die Weiterentwicklung des Bruttonationalglücks (BNG, Gross National Happiness) zum Konzept des „Brutto-National-Friedens“ in seiner Rede vor. Beides ist Grund genug, das Thema aufzugreifen.

Bhutans Glück beruht auf drei Säulen

In den vergangenen Wochen bemerkte Meyer-Galow, dass bei allen Gesprächen über Bhutan seine Gesprächspartner nach wenigen Minuten auf die Ukraine und Russland, die NATO und die EU, Sanktionen und ihren eigenen Wunsch nach Frieden zu sprechen kommen. Vor diesen Themen bewegten sich die Gespräche in Richtung Klimakrise und Corona. Meyer-Galow, der sehr gut mit der bhutanischen Lebenswelt vertraut ist, erkennt einen gemeinsamen Faktor dahinter: die Angst.

Bhutan hat es allerdings geschafft, Angst und Ärger zu reduzieren und Gelassenheit, Empathie und Güte zum gesellschaftlichen Standard zu entwickeln. Mit etwas Stolz erklärt er: „Bhutan ist ein kleines Land mit einer großen Botschaft.“

Die meisten Menschen im Westen, mit denen er gesprochen hatte, hätten jedoch ein völlig falsches Verständnis von Glück in Bhutan. Sie hätten keine Ahnung davon, was mit Glück gemeint wurde, als Jigme Singye Wangchuck, der 4. König, 1979 erklärte, dass das Bruttonationalglück wichtiger sei als das Bruttoinlandsprodukt. Das Konzept ist als Verpflichtung unter Artikel 9 (2) in der Verfassung Bhutans verankert.

Glück hat in Bhutan eine lange Tradition. Schon 1629, im „Legal Code“ der bhutanischen Teilstaaten, wurde festgeschrieben: „Wenn die Regierung nicht für das Glück des Volkes sorgen kann, gibt es keinen Grund für die Regierung, weiterzuexistieren.“

Das Bruttonationalglück steht auf vier Säulen: faire und nachhaltige sozio-ökonomische Entwicklung, Erhalt und Förderung lebendiger Kultur, Umweltschutz und gute Staatsführung. Der wichtige Unterschied zum westlichen Glück ist: „Bhutan ist ein buddhistisches Land und daher entsteht Glück aus der buddhistischen Tradition und der Leere. Glück entsteht von innen und ist nicht auf äußere Erfüllungen von Wünschen und Wohlbefinden beschränkt“, sagt Meyer-Galow.

Wichtig daran sei zu begreifen, dass „bhutanisches Glück“ weder auf einem materialistischen noch egozentrischen Fokus basiere. Wahres Glück in Bhutan beruhe auf drei Säulen: dem Glück von Körper und rationalem Geist, dem Glück von Seele und Psyche sowie dem Glück des Buddhismus (Spirit).

Doch „die meisten westlichen Menschen stecken in ihrem Kopf fest und versuchen nur, das Glück zu verstehen“, konstatiert der Honorarkonsul, „sie haben keinen Zugang zur seelisch-spirituellen Ebene und können daher das Glück dieser beiden höheren Ebenen nicht verstehen und erfahren.“

In Deutschland werde das Glück aus dem subjektiven Wohlbefinden des egoistischen Individuums gezogen (Hedonismus) und die religiöse Anbindung missachtet. Das Bruttonationalglück Bhutans wird im Westen oft im Sinne von Zufriedenheit interpretiert. Richtiger sei – wie es in den Upanishaden als „Ananda“ bezeichnet und im Buddhismus praktiziert wird – „ruhende Zufriedenheit, Gelassenheit, Mitgefühl“. Es entsteht aus der Achtsamkeit im Hier und Jetzt.

Im Westen fehlt die wichtigste Dimension des Glücks

Den Menschen im Westen fehle die spirituelle Dimension des Lebens, daher bleibe ihnen das Glück Bhutans unverständlich. Meyer-Galow erklärte in Frankfurt, dass das buddhistische Dharma (die buddhistische Lehre) das, was weder Augen noch Ohren sehen können, in den Mittelpunkt stellt.

Um es zu erreichen, muss sich der Mensch weiterentwickeln, achtsamer und gelassener werden, empfiehlt er. „Dazu gibt es viele spirituelle Wege wie Meditation, Kontemplation, Vorstellungskraft, Träume, Gebet, Rezitation von Mantras und heiligen Texten, Yoga, Aikido und so weiter und das in Bhutan so beliebte Bogenschießen. Auch Erfahrungen in Natur, Kultur, Musik, Liebe und meditative Bewegungen gehören dazu.“

Damit verbunden sei als zweiter Schritt das Loslassen der irdischen Anhaftungen, des Ego. Das Ergebnis sei „der glückliche Mensch, der nicht an das Ego gebunden ist, sondern im Selbst geerdet ist, unserer inneren Dimension, die göttlichen Ursprungs ist.“

Meyer-Galow sieht den Grund für das Versagen des Westens in der Geschichte. Westliche Menschen hätten ihre Wurzeln und ihre Basis durch die Epochen der Aufklärung, Moderne und Postmoderne verloren. Bhutan hingegen basiere weiterhin auf der Ganzheit der buddhistischen Lehre.

In der Zeit der Aufklärung, etwa von 1720 bis 1800, wurde im Westen der Verstand zum Maß aller Dinge. „In dieser Zeit trennten sich die Menschen von ihrer Seele und ihrem spirituellen Geist. Die Verbundenheit mit der Natur wurde aufgebrochen. Die Zeit der Romantik und Naturphilosophie, wie sie Schelling, Böhme, Goethe, Humboldt, um nur einige zu nennen, ausdrückten, ist vorbei.“

Die folgende Epoche der Moderne von 1880 bis 1920 war eine Gegenbewegung zum Realismus und Naturalismus, sie war geprägt von großen technologischen Fortschritten. Nun befinde sich Deutschland in der Epoche der Postmoderne – und trotz aller materiellen Fortschritte in einer Sackgasse. Die Menschen würden in Angst und Unruhe, mit Burn-out und Depressionen leben.

Bhutan habe sich hingegen den magischen Zauber der Natur bewahrt. Das Königreich im Himalaya hätte diese Epochen nicht durchlaufen, es hätte weder den technologischen Fortschritt noch die Nachteile des Westens. Aktuell suche Bhutan nach einem Weg, technologischen Fortschritt ohne die Probleme der heutigen westlichen Kultur mit dem Buddhismus zu verbinden.

Der „Große Frieden der Nationen“

Auf das Bruttonationalglück könne als Weiterentwicklung der „Brutto-National-Frieden“, idealerweise auch der „Brutto-International-Frieden“, folgen, so Prof. Dr. Erhard Meyer-Galow. Durch eine Rede des fünften Königs Bhutans am 114. Nationalfeiertag am 17. Dezember 2021 wurde diese Entwicklung angeregt.

König Jigme Khesar Namgyel Wangchuck schlug eine Brücke zwischen dem Glück in Bhutan und dem Frieden auf der Welt. Er setzte sein Land in Beziehung zur Welt und erklärte, dass es keinen dauerhaften Frieden auf dieser Welt geben könne, „wenn unsere Ziele so unterschiedlich sind; wenn wir nicht akzeptieren, dass wir am Ende Menschen sind, alle gleich, die die Erde untereinander und auch mit anderen Lebewesen teilen. Wesen, die alle die gleiche Rolle und den gleichen Anteil am Zustand dieses Planeten und seiner Menschen haben.“

Der „Brutto-National-Frieden“ – den Begriff prägte Meyer-Galow – beginne in jedem einzelnen Menschen. „Heutzutage gibt es nicht nur den Wunsch nach Glück, sondern auch nach Frieden und Sicherheit, Geborgenheit und Komfort.“

Der Weg, ihn zu erreichen, sei jedoch der Weg Bhutans: Jeder Einzelne müsse zunächst Frieden mit sich selbst machen, bevor sich Frieden in der Gesellschaft durchsetzen könne. Und nur über die Weiterentwicklung der Moral und Ethik des Einzelnen sei er erreichbar. Wenn der Mensch sich innerlich weiterentwickelt, entstehe Mitgefühl und er handele dann meistens ethisch einwandfrei – nicht weil er muss, sondern weil er gar nicht anders kann.

In Bhutan heißt das ganz konkret, dass nicht nur die Kinder angehalten sind, mehrmals täglich zu meditieren. Ein Leben ohne Gier, Hass, Eifersucht und Neid wird angestrebt, um Frieden in der Familie, in der Verwandtschaft, im Dorf und in der Stadt, in Bhutan und schließlich auf der ganzen Welt zu erreichen.

Im Gegensatz dazu steht der westliche Weg, Menschen mithilfe von Gesetzen und Sanktionen zu verbessern. Ohne Anerkennung eines höheren göttlichen Prinzips bleibe der Mensch jedoch Gefangener seines Egos, seines Karmas und könne nicht über sich hinauswachsen. Er möchte dann ständig gelobt werden, immer recht haben und schuld sind immer die anderen.

Bhutan vertraut auf das Bruttonationalglück, welches zum „Brutto-National-Frieden“ (Gross National Peace, GNP) führt. Dem König geht die Transformation allerdings zu langsam. Bei seiner Rede fand er ungewöhnlich deutliche Worte und forderte Verbesserungen im Sinne des Bruttonationalglücks ein. In einer Umfrage im Jahr 2010 waren 41 Prozent der Menschen, fünf Jahre später erst 43,4 Prozent glücklich. Es gibt also noch deutliches Verbesserungspotenzial.



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