Studie zu deutscher Rüstung: „Zu wenig, zu langsam“

Pistorius befürchtet, dass die Russen bis 2029 vor den Toren stehen könnten. Deshalb gewinnt die militärische Aus- und Aufrüstung immer mehr an zentraler Bedeutung. Ist Deutschland „bis auf die nächsten 100 Jahre“ weit abgeschlagen, wie in einer jüngsten Studie befürchtet wird? Und gewinnt künftig nur noch derjenige, der sich Krieg finanziell am längsten leisten kann?
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Bundeswehr-Angriffshubschrauber im Flug.Foto: huettenhoelscher/iStock
Von 18. September 2024

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Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat am 5. Juni dieses Jahres in der Regierungsbefragung im Bundestag gefordert: „Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein. Wir müssen Abschreckung leisten, um zu verhindern, dass es zum Äußersten kommt.“ Pistorius glaubt, dass Russland bis 2029 in der Lage sei, NATO-Staaten anzugreifen.

Russland produziert Gesamtbestand der Bundeswehr innerhalb eines halben Jahres

Wissenschaftler hingegen sind überzeugt: das schafft Russland schneller. Eine am 15. September veröffentlichte Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW Kiel) kommt zu dem Schluss, „dass die Kapazitäten der russischen Rüstungsindustrie in den letzten zwei Jahren stark angestiegen sind, und zwar weit über das Niveau der russischen Materialverluste in der Ukraine hinaus“.

Die unter der Leitung von Professor Dr. Guntram Wolff, Experte für „Deutschlands geopolitische Strategie“, entstandene Studie weist darauf hin, „dass Russland jetzt Zugang zu neuen Ausrüstungsgütern hat, die ausreichen, um drei neue Armeen (mit einer möglichen gemeinsamen Kapazität von bis zu 20.000 Kampftruppen und einer Frontlänge von bis zu 150 km) aufzubauen, die es bereits in diesem Herbst im ukrainischen Kriegsgebiet einsetzen kann. Die russischen monatlichen Produktionsraten sind inzwischen so hoch, dass sie den gesamten deutschen Bestand an militärischem Gerät in etwa einem halben Jahr auffüllen könnten“, so die Kernaussagen der Studie.

Erst in hundert Jahren Niveau von 2004

Demgegenüber habe Deutschland seinen Bestand an militärischen Kapazitäten in den anderthalb Jahren seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 „nicht nennenswert erhöht“. Die Studie von Professor Wolff malt ein düsteres Bild: „Angesichts der massiven Abrüstung Deutschlands in den letzten Jahrzehnten und der aktuellen Beschaffungsgeschwindigkeit wird Deutschland bei einigen wichtigen Waffensystemen erst in etwa 100 Jahren das Rüstungsniveau von 2004 erreichen.“

Unter Berücksichtigung der eingegangenen Rüstungsverpflichtungen gegenüber der Ukraine würden „einige deutsche Kapazitäten sogar sinken“. Auf welcher wissenschaftlichen Basis kommt die IfW-Kiel-Studie zu solch drastischen Aussagen?

Daten mittels Tracker ausgewertet

Das Kieler Institut hat einen sogenannten „Military Procurement Tracker“ entwickelt, also ein System, das in der Lage ist, militärische Beschaffungen in Deutschland und weiteren Ländern festzuhalten, nachzuweisen und deren Verwendung nachzuverfolgen.

Der neue Tracker liefert detaillierte Informationen über Stückzahlen, Auftragswert und voraussichtliche Liefertermine. Außerdem sammelt der Tracker Informationen über Rüstungsunternehmen und kann daran ablesen, ob Produktionsaufträge realistischerweise eingehalten werden können.

Dahinter steckt nichts Geheimnisvolles, stellen die Autoren der Studie klar: Sie sammelten lediglich systematisch Informationen aus offenen Quellen, wie aus offiziellen Berichten, Pressemitteilungen und öffentlichen Regierungsangaben.

Forderungen der Wissenschaft: Aufrüstung auf EU-Ebene

Die Wissenschaftler aus Kiel stellen nicht nur Mängel fest, sondern erheben auch Forderungen an die Politik und Wirtschaft: Die „langsame und unzureichende Beschaffung kann und muss behoben werden“, schreiben sie.

Der Verteidigungshaushalt müsse „dauerhaft und glaubwürdig erhöht werden“. Für das Team um Professor Wolff gibt es keine Alternative. Er warnt: „Die Verfolgung der militärischen Aufrüstung ist für die Sicherheit des Kontinents unerlässlich.“ Um dies zügig zu erreichen, sei seiner Meinung nach „eine langfristige europäische Rüstungsstrategie notwendig“.

Oberster General besorgt über Panzer-Produktion Russlands

Die von der Studie angesprochenen Problemlagen sind dem Verteidigungsministerium längst bekannt, aber noch nie so deutlich kommuniziert worden wie von der Wissenschaft.

Der höchste Offizier der Bundeswehr, Generalinspekteur (Vier-Sterne-General) Carsten Breuer unterstrich bereits am 8. Juli gegenüber ntv, was die neue Studie nun schwarz auf weiß liefert: „Russland baut derzeit ein Potenzial auf, das weit über das hinausgeht, was es für den Angriffskrieg in der Ukraine bräuchte“, sagte Breuer vor zwei Monaten.

Russland stelle jedes Jahr 1.000 bis 1.500 Panzer her. Wenn man dieses Arsenal mit den fünf größten NATO-Armeen in Europa vergleiche, verfügten diese lediglich über die Hälfte des Bestandes, „den Russland nun pro Jahr an Panzern aufbringt“.

Die Lage für die deutsche Rüstung ist also düster – „umso mehr, wenn Europa die Unterstützung der USA für die Ukraine und für die kollektive Abschreckung nicht mehr als selbstverständlich voraussetzen kann“, warnt der Kieler Report.

USA: Wegen Ukraine selbst bald Engpass

Denn: In einem Bericht der Commission on the National Defense Strategy (CNDS) vom 29. Juli wird vorgebracht, dass die militärischen Kapazitäten der USA „überdehnt“ seien. Seit dem Zweiten Weltkrieg beruht die amerikanische Militärdoktrin darauf, zwei Kriege an völlig unterschiedlichen Schauplätzen gleichzeitig führen zu können.

Dies ist offenbar nicht mehr der Fall, denn der CNDS-Bericht kommt zu dem Schluss, die USA seien derzeit nicht mehr in der Lage, einen globalen Krieg zu führen. Die IfW-Kiel-Studie macht deshalb darauf aufmerksam, Europa müsse sich bewusst machen, „dass die USA kein unbegrenztes Lager für Waffen und Munition sind“.

USA geht wegen Ukraine die Munition aus

Auf genau diese neue Entwicklung haben bereits im vergangenen Jahr mehrere Studien des Washingtoner Think Tanks „Center for Strategic and International Studies“ (CSIS) aufmerksam gemacht. Sie zeigten auf, dass die Lieferzeiten für militärisches Material in den USA inzwischen ebenfalls kritisch hoch ausfallen.

Dies könnte dazu führen, dass die Lieferanforderungen die Möglichkeiten der Produktion übersteigen, wie etwa in dem Report „Leere Töpfe. Die Herausforderung für die US-Verteidigungsindustrie“ von Seth G. Jones im September 2023 zum Ausdruck kommt.

Der amerikanische Analyst gibt zu bedenken: „Der verteidigungsindustrieelle Grundstock der USA ist nicht ausreichend auf das derzeit bestehende internationale Sicherheitsumfeld vorbereitet. In einem größeren regionalen Konflikt – etwa einem Krieg mit China in der Taiwanstraße – würde der Einsatz von Munition durch die USA wahrscheinlich die aktuellen Vorräte des US-Verteidigungsministeriums übersteigen.“

Die Munitionsvorräte würden „wahrscheinlich in weniger als einer Woche ausgehen – beispielsweise bei präzisionsgelenkter Langstreckenmunition“.

Der Krieg in der Ukraine habe gravierende Defizite in der amerikanischen Verteidigungsindustrie zutage gefördert und zeige deutlich auf, „dass ein langwieriger Konflikt wahrscheinlich ein Industriekrieg sein wird“.

Eine weitere CSIS-Studie vom September 2023 befasste sich mit der steigenden Nachfrage und dem wachsenden Angebot an militärischen unbemannten Luftfahrtsystemen (UAS). Darunter werden in der Regel Drohnen verstanden.

Ein Wissenschaftlerteam untersuchte die Verbreitung von UAS, die binnen kurzem erheblich zugenommen habe. Zwei Fallstudien waren für die Auswertung der Rolle von UAS in der modernen Kriegsführung von entscheidender Bedeutung: der viermonatige Berg-Karabach-Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im Jahr 2020 und die frühen Stadien der russischen Invasion in der Ukraine.

Die Analysten weisen darauf hin, dass bei Rüstungsaufträgen UAS beträchtlich stärker berücksichtigt werden müssten, da sie „einer wachsenden Anzahl von Staaten ein breites Spektrum an Fähigkeiten“ böten. Die Ukraine zum Beispiel sei bisher „führend beim Experimentieren mit solchen Fähigkeiten“ gewesen.

UAS statt Panzer

Mit anderen Worten: Möglicherweise wird das gegenseitige Panzer-Zählen langsam obsolet. Egal, um wie viel schneller russische Firmen Tausende von Panzern mehr bauen können als jeder andere Staat dieser Welt – schon jetzt ist am Krieg in der Ukraine abzulesen, dass die entscheidenden Kämpfe aus der Luft geführt werden.

Zerstörung von Infrastruktur auf beiden Seiten gelingt nicht mit Panzern, sondern mit Hyperschallraketen und Hunderttausenden von UAS. Luftwaffensysteme werden bei allen künftigen Auseinandersetzungen kriegsentscheidend sein. Dies wird auch in der IfW-Kiel-Studie für einen möglichen Krieg um Taiwan zwischen der VR China und den USA so angesprochen.

Krieg muss man sich leisten können

Der Investitionsbedarf für die deutsche Aufrüstung sei „so groß, dass bis spätestens 2026 oder 2027 ein zweites Sondervermögen benötigt wird, um die großen Lücken in den Fähigkeiten zu schließen“, prognostiziert die IfW-Kiel-Studie.

Der Chef-Autor Prof. Dr. Guntram Wolff ist von Haus aus Ökonom. Er sagt aber nicht, woher das ganz Geld für dieses weitere „Sondervermögen“ kommen soll. Krieg muss man sich leisten können.

Deutschland war Ende 2023 mit 1.696,3 Milliarden Euro verschuldet. Das entspricht in etwa einer Pro-Kopf-Verschuldung der deutschen Staatsbürger von 28.943 Euro. In Frankreich sind die Schulden fast doppelt so hoch, in Italien dreimal mehr.

Über den Autor:

Tom Goeller ist Journalist, Amerikanist und Politologe. Als Korrespondent hat er in Washington, D.C., und in Berlin gearbeitet, unter anderem für die amerikanische Hauptstadtzeitung „The Washington Times“. Seit April 2024 schreibt er unter anderem für die Epoch Times.



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