„No Covid“ als moderner Kult – der die Freiheit des Einzelnen verdrängt
In einem Essay für die „Welt“ hat Frank Lübberding Parallelen zwischen „No Covid“- und „Zero Covid“-Bestrebungen in der Corona-Politik und dem Stachanow-Kult der Sowjetunion verglichen.
Der Kult um den Bergmann, der im August 1935 den Titel „Held der sozialistischen Arbeit“ erworben hatte, indem er die vorgegebene Arbeitsnorm um das Dreizehnfache erfüllte, fand sich in der DDR in Form der Verherrlichung von Plan-Übererfüllern wie Adolf Hennecke oder Frida Hockauf wieder.
Stachanow starb vereinsamt als Alkoholiker
Im totalitären Sozialismus der Sowjetunion und der frühen DDR sollten Helden der Arbeit wie Stachanow, Hockauf oder Hennecke durch ihren Einsatz für die Ziele der Gemeinschaft ein Beispiel geben, das alle anderen motivieren soll, selbst mit noch größerer Entschlossenheit daran zu arbeiten.
Während sie von der Partei für ihren Ehrgeiz mit Preisen und Anerkennung überschüttet wurden, stieß dieser in der Belegschaft auf ein geteiltes Echo. Die herausragende Arbeit der großen Vorbilder wurde zum Anlass, die Normen für alle zu erhöhen – weil die kommunistische Führung davon ausging, dass die Leistungen Stachanows oder Hockaufs auch jeder andere erbringen könnte, sofern er ebenso motiviert an die Sache heranginge.
Nicht jeder teilte diese Motivation, und die Folge war, dass Hockauf als „Arbeiterverräterin“ gemobbt wurde und ihre Arbeitsgeräte sabotiert wurden. Auch privat brachte der Übereinsatz den Vorzeigesozialisten kein Glück: Stachanow wurde zur 40-Jahr-Feier der nach ihm benannten Bewegung nicht mehr persönlich eingeladen und er starb vereinsamt als Alkoholiker.
Held oder Volksfeind – und keine Zwischentöne
Das Scheitern des Stachanow-Aktivismus sei jedoch, so schreibt Lübberding, eine Lehre, welche die Befürworter einer Minimal-Inzidenzpolitik in der Corona-Krise beherzigen sollten.
Aus denselben Gründen wie die Aktivistenbewegung des Sozialismus der 1930er bis 1950er werde auch ein No-Covid-Ansatz scheitern. Zudem drohe auch das Gemeinwesen an dieser Form des Eiferertums zu zerbrechen.
Das erzwungene Ausgeben der Selbstbestimmung des Individuums wegen einem vermeintlich großen Ziel habe zu einer Spaltung der totalitären Gesellschaft geführt. Auf der einen Seite gab es die Konformisten und ihre Helden und auf der anderen sogenannte Volksfeinde, die sich für die große Utopie nicht begeistern konnten oder wollten.
Verantwortungslos sind immer nur die anderen
Das Ergebnis eines Stachanow-Ansatzes in einer nicht-totalitären Gesellschaft wie jener des heutigen Deutschlands unterscheide sich am Ende, dessen ist Lübberding sich sicher, nicht von jenem in der UdSSR oder DDR.
Auch in der Pandemiepolitik werde alles zahlenmäßig bestimmten Zielen untergeordnet – vor allem Inzidenzzahlen und Kontakteinschränkungen.
Diese würden zu sozialen Verpflichtungen gemacht, denen sich das Individuum unterzuordnen habe. Je stärker das Ziel in den Mittelpunkt rücke, umso verdächtiger werde das Streben nach Individualität:
Dem Bürger wird gesagt, wo und wie er sich noch bewegen darf. Das betrifft selbst die Familie, die Angehörigen und Freunde. Seine Autonomie ist aufgehoben, sie gilt sogar als verdächtig. Es gehört zum guten Ton, diese Autonomie als gescheitert anzusehen. Es gäbe zu viele Verantwortungslose, wobei sich selbst noch niemand als verantwortungslos beschuldigt hat. Das gilt selbst für die, die sich infiziert haben. Schuld sind immer die anderen.“
„No Covid“ als Ausdruck des Glaubens an die Allmacht des Staates
Die Ausschaltung der Autonomie des Individuums auf der einen Seite und das Scheitern eines übermächtigen Staates am Ziel, die Pandemie mit hoheitlichen Mitteln zu beenden, treibe die Radikalisierung der Gesellschaft voran: Schlittenfahren wird zum Skandal, Virologen werden zum Ziel von Morddrohungen, weil Schuldige und Sündenböcke gesucht werden.
Diese gebe es aber nicht, ebenso wenig wie ein Konkurrenzverhältnis zwischen Gesundheitsschutz und wirtschaftlichen Existenzen oder einen „großen Plan“ im Sinne einer wie auch immer gearteten Verschwörung.
Vielmehr zeige sich, dass die Allmacht des Staates weder komplexe Probleme aus der Welt schaffen könne noch überhaupt wünschenswert sei.
Für die Utopie sei der Feind immer die Autonomie in der Freiheit gewesen. Diese lasse sich aber nicht durch Zwang oder noch so gut gemeinte „Motivationskampagnen“ vollständig ausschalten, wie sie etwa dem ifo-Institut in München vorschweben. Zumindest nicht, ohne immer wieder aufs Neue in den Abgrund zu führen.
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