Nach Ausschreitungen gegen Syrer in der Türkei: EU-Türkei-Deal könnte neue Massenmigration bedeuten

Aktuell wird von pogromartigen Übergriffen gegen syrische Flüchtlinge in der Türkei berichtet. Muss die EU jetzt mit einem explosionsartigen Anstieg der Zuwanderungszahlen rechnen? Oder schützt der umstrittene Türkei-Deal von 2016 vor weiterer Zuwanderung? Eine Spurensuche.
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Der EU-Türkei-Flüchtlingsdeal sieht vor, dass türkische Bürger Visumsfreiheit in der EU erhalten, sobald die Türkei 72 Auflagen aus Brüssel erfüllt.Foto: Matthias Schrader/Archiv/dpa
Von 6. Juli 2024

Was bedeutet es für neue Flüchtlingsströme über die bekannten Routen in die EU, wenn die Türkei die sich dort befindlichen dreieinhalb Millionen syrischen Flüchtlinge nicht mehr duldet? Ausschreitungen nach sexuellen Übergriffen in der Türkei könnten das Fass jetzt zum Überlaufen bringen.

Die Massenzuwanderung in die EU beginnend seit 2015 – und hier vornehmlich nach Deutschland – hat eine längere Vorgeschichte. Die massiven Fluchtbewegungen von Millionen Syrern in die Türkei sind unmittelbar Resultat der im März 2011 begonnenen und sich schnell auf das ganze Land ausweitenden bewaffneten Auseinandersetzungen verschiedener Gruppen in Syrien.

Der „Spiegel“ gab den USA im April 2018 rückblickend eine wesentliche Mitschuld am Krieg in Syrien. Autor Jakob Augstein schrieb damals:

„Obama wollte, dass Assad gestürzt wird. Die CIA begann 2013 damit, syrische Rebellen auszurüsten und zu trainieren – der Umfang des Geheimprojekts lag bei einer Milliarde Dollar. […] Der syrische Krieg ist darum auch das Ergebnis eines gescheiterten Versuchs des Regime-Changes.“

Die Balkanroute eröffnete Hunderttausenden dieser Flüchtlinge den Weg von der Türkei Richtung EU. Dabei soll diese massive Wanderbewegung Richtung Europa maßgeblich von einer Halbierung des Wertes der elektronischen Lebensmittelgutscheine des World Food Programme (WFP) ausgelöst worden sein, mit dem sich syrische Flüchtlinge in lokalen türkischen Supermärkten versorgten.

Die EU-Türkei-Erklärung

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) erklärte im September 2015 unter der Schlagzeile „Warum Flüchtlinge nach Europa kommen“:

„Viele Flüchtlinge in Jordanien haben UNHCR berichtet, dass diese Kürzungen der letzte Anstoß waren, das Land zu verlassen.“

Angesichts massiv gestiegener und kaum noch zu bewältigender Zuwanderungszahlen im Herbst 2015 einigten sich EU und Türkei im März 2016 auf den sogenannten „Türkei-Deal“ beziehungsweise die „EU-Türkei-Erklärung“ vom 18. März 2016.

Baumeister dieser Vereinbarung war der Österreicher Gerald Knaus. Knaus ist Gründer des Vereins Europäische Stabilitätsinitiative e. V. (ESI) mit Sitz in Wien und mit weiteren Dependancen in Berlin, Brüssel und Istanbul.

Finanziert wird oder wurde ESI neben anderen Sponsoren von der Open Society Foundations, der Robert Bosch Stiftung, der Rockefeller-Stiftung, der Europäischen Kommission und vom Auswärtigen Amt.

Der Merkel-Plan

Der ursprüngliche Arbeitstitel für die Erklärung war „Merkel-Plan“, veröffentlicht von ESI mit Datum 4. Oktober 2015.

Knaus wurde hinzugezogen, weil die Bundesregierung keinen besseren Plan entwickelt hatte. Die „Zeit“-Journalistin Miriam Lau hatte Gerald Knaus im Juli 2016 auf die griechische Insel begleitet und im Rahmen ihrer sich von der Arbeit von Knaus durchaus begeistert zeigenden Reportage auch etwas darüber erfahren, wie Knaus mit dem Titel „Merkel-Plan“ auf seine Idee aufmerksam machte:

„Knaus‘ Trick funktioniert. […] In Berlin wird der Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt, der Knaus bei einer Konferenz erlebt, auf das Konzept aufmerksam. Am Ende findet der Text seinen Weg ins Kanzleramt. Dabei spielen persönliche Bekanntschaften zwischen Ministeriumsmitarbeitern eine Rolle, Parteifreundschaften, Kontakte zu Beratern aus dem Umfeld der Kanzlerin.“

Die drei wesentlichen Punkte der Vereinbarung:

  • Die Türkei hindert Migranten – überwiegend Syrer – daran, auf einer der vielen nahe der türkischen Küste liegenden griechischen Inseln oder über den Grenzfluss Evros illegal nach Griechenland und damit in die EU einzureisen.
  • Syrer, die es dennoch schaffen, das türkische Grenzregime zu überwinden, werden abgeschoben und wieder von der Türkei zurückgenommen. Im Gegenzug nehmen die EU-Mitgliedstaaten für jeden Abgeschobenen einen Syrer auf, der in der Türkei regulär ausgewählt und entsprechende Anträge gestellt hat (1:1-Regelung).
  • Die Türkei erhält im Gegenzug zunächst sechs Milliarden Euro, vornehmlich um die humanitäre Situation von Geflüchteten im Land zu verbessern. Außerdem wurde vereinbart, dass türkische Staatsangehörige visafrei in die EU einreisen können, was allerdings unter dem Eindruck des Putschversuches in der Türkei im Juli 2016 auf Eis gelegt wurde.

Der Deal zwischen der EU und der Türkei zielte von Beginn an darauf, dass die Türkei ihre Grenzen schützt und syrische Migranten daran hindert, nach Griechenland und damit in die EU zu gelangen. Ohne diese spürbare Reduzierung illegaler Einreisen wäre nach der 1:1-Regelung kein einziger Syrer weniger in die EU eingereist – lediglich die Illegalität wäre durch die offizielle Einreise gemäß Vereinbarung nicht mehr gegeben gewesen.

Alles schaut auf die griechischen Behörden

Im Wesentlichen setzt die konkrete Umsetzung des Türkei-Deals also auf die Arbeit der griechischen Behörden, welche die Rückführungen in die Türkei praktisch umsetzen müssen.

2021 veröffentlichte die griechische Regierung Zahlen, die belegen, dass diese Rückführungen von griechischer Seite aus allerdings kaum durchgeführt wurden. Die sowieso geringen Zahlen gingen Jahr für Jahr weiter zurück. Waren es 2016 immerhin noch 801 Personen, konnten 2020 gerade noch 139 Personen in die Türkei zurückgeführt werden. Insgesamt waren es  2016–2020 etwa 3.000 Illegale.

Hier kommt insbesondere zum Tragen, dass griechische Gerichte die Türkei zunächst nicht als sicheres Herkunftsland anerkannten, also in der Folge die Rückführungen nicht gestatteten.

Das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster hatte dann 2021 entschieden, dass in Griechenland anerkannte Flüchtlinge, die illegal nach Deutschland weitergereist sind, ebenfalls entgegen den Dublin-Verordnungen nicht nach Griechenland abgeschoben werden dürfen.

Begründung: Ihre Asylanträge könnten in Deutschland nicht als unzulässig abgelehnt werden, weil ihnen für den Fall ihrer Rückkehr nach Griechenland „die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung“ drohe, entschied das Gericht.

Das türkische Grenzregime

Während also 2016–2020 gerade einmal 3.000 Illegale in die Türkei abgeschoben wurden, landeten weitere Zehntausende illegale Migranten auf den griechischen Inseln, die von Griechenland nicht zurück in die Türkei geschickt wurden. Jeder einzelne Migrant, der die griechischen Inseln erreicht, ist zudem für sich genommen Beleg dafür, dass die von der Türkei zugesicherte Grenzkontrolle durchbrochen wurde.

Zusätzlich wurden von der Europäischen Union mehr als 7.000 asylberechtige Flüchtlinge aus der Türkei aufgenommen. Bereits 2017 meldete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ unter Berufung auf neue Zahlen der EU-Kommission, die EU-Staaten nähmen der Türkei fünfmal mehr Flüchtlinge ab, als die Türkei zurücknimmt.

Die 1:1-Regelung ist mit Blick auf das europäische Asylrecht und eine andauernde kritische Debatte um die Massenzuwanderung ab 2015 auch deshalb von besonderem Interesse, weil der EU-Türkei-Deal bei der Rücknahme von Syrern aus der Türkei explizit von einer „Neuansiedlung“ spricht. In der offiziellen Presseerklärung zum EU-Türkei-Deal heißt es konkret unter Punkt 2:

„Für jeden von den griechischen Inseln in die Türkei rückgeführten Syrer wird ein anderer Syrer aus der Türkei in der EU neu angesiedelt …“

Weiter ist dort die Rede von einem „Neuansiedlungsbedarf“, einer „Neuansiedlungsverpflichtung“ und von einer „Umsiedlung“.

Mit dem Asylrecht nicht vereinbar

Das allerdings sind Formulierungen, die mit dem Asylrecht nicht vereinbar erscheinen. Denn das Asylrecht – sowohl das nationale als auch das europäische – beinhaltet einen Schutz auf Zeit und ist keine Einbürgerungs- beziehungsweise Ansiedlungsvereinbarung.

Aber wie trifft die Türkei ihre Auswahl, wer offiziell im Rahmen der 1:1-Vereinbarung in der EU beziehungsweise überwiegend in Deutschland angesiedelt wird?

Der „Spiegel“ schrieb Ende Mai 2016, die Türkei nutze den Deal „bisher vor allem dazu, kranke und traumatisierte Flüchtlinge nach Europa zu schicken. Akademiker dagegen dürfen das Land nicht verlassen.“

Die Europäische Kommission berichtete am 18. Mai 2016:

„Die Mitgliedstaaten kommen bei der Bearbeitung der ihnen über UNHCR von der Türkei übermittelten Akten gut voran und die Neuansiedlungen aus der Türkei nehmen weiter zu.“

Im März 2020 setzte die türkische Regierung die Rücknahme von Schutzsuchenden von den griechischen Inseln mit Verweis auf die COVID-19-Pandemie ganz aus.

Söder stellte die Sinnfrage

Am Vorabend des EU-Türkei-Deals und den Blick auf einen EU-Türkei-Gipfel in Brüssel gerichtet, gab der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) dem „Deutschlandfunk“ ein Interview und formulierte Zweifel an der Sinnhaftigkeit der milliardenschweren wie weitreichenden Vereinbarung:

„Ich bin skeptisch, ob dieser Eins-zu-eins-Austausch sinnvoll ist, denn eins zu eins, also der Austausch legaler und illegaler Migration und Zuwanderung, bedeutet ja nicht ein Weniger an Zuwanderung. Und ob die anderen Länder Kontingente abnehmen, steht mehr als in den Sternen, sodass am Ende alles wieder in Deutschland bleibt.“

Laut „Statista“ ist die Zahl der Asylanträge seit 2020 – und trotz der Beschränkungen in den Corona-Jahren – wieder Jahr für Jahr kontinuierlich angestiegen auf über 350.000 Anträge im Jahr 2023. Hierin sind ukrainische Flüchtlinge nicht mitgezählt, denn sie müssen nach wie vor keinen Asylantrag stellen.



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